Der Ökozid klopft an der Tür
Nicht einmal ein apokalyptisches Unwetter bringt Menschen dazu, ihren Lebensstil zu hinterfragen.
Das apokalyptische Unwetter in Südbayern am Pfingstmontag ließ, nachdem es abgeklungen war, tief in den Abdruck blicken, in welchem eigentlich die kritische Selbstreflexion unserer westlichen Gesellschaft zu finden sein sollte. In den tiefen Pfützen, die die Wassermassen aus dem pechschwarzen Himmel auf den Straßen hinterließen, spiegelte sich das Unvermögen vieler Menschen, einen Zusammenhang zwischen ihrem Verhalten und den daraus resultierenden Unwettern zu erkennen. Ein spöttischer Wetterbericht aus dem wohlhabenden Stadtrand.
München am Pfingstmontag gegen 18 Uhr. Ein tief schwarzer Himmel bildet einen starken Kontrast zu den strahlend grünen Böschungen vor dem Garten, in dem ich stehe. Kontrastiert wie die Fronten der Kalt- und Warmluft, die wenige Kilometer über meinem Kopf wie eine aufeinander losgaloppierende Armee auf Kollisionskurs gehen.
Es ist still. Ganz still. Wirklich mucksmäuschenstill. Kein einziges Blatt bewegt sich. Die Strommasten halten starr. Man nennt es die Ruhe vor dem Sturm. Die Wolken bewegen sich schneller. Immer schneller. Und wie tief sie sich bewegen! Es sieht beinahe so aus, als hätten die Götter im Olymp eine Shisha-Bar eröffnet.
Die Stille hält eine Weile an. Da beginnen sich die ersten Blätter am Gartenzaun und auf dem Hügel dahinter zu bewegen. Lautlos. Nach wenigen Sekunden gesellt sich das Pfeifen des Windes hinzu. Die Sträucher biegen sich tiefer. Die Wolken bewegen sich nun noch schneller. Am Horizont hinter dem Hügel tut sich langsam eine dunkelblaue Wolkenfläche auf. Und mit einem Mal verändert sich das Rauschen des Windes zu einem Heulen. Ja! Der Himmel fängt plötzlich an zu heulen. Richtig zu heulen! Es klingt, als würde sich in der Luft eine Bestie aus dem Alpenrand vom Süden her nähern. Das ganze Szenario wirkt bereits äußerst bedrohlich. Und ich habe schon viele Gewitter erlebt.
Die ersten Tropfen landen auf meinem Gesicht und ich beschließe, mich von den vorderen Zuschauerrängen lieber auf die billigen Plätze hinter der sicheren Fensterscheibe zu verziehen. Wobei das mit billigen Plätzen in München auch so eine Sache für sich ist… In weiser Voraussicht entferne ich noch die Blumenkästen vom Geländer und schließe die Balkontür hinter mir. Der Wind ist inzwischen heftiger geworden. Es blitzt, als seien die schnellen Wolken in eine Radarfalle geraten. Die ersten Donnerschläge des Unwetter-Orchesters ertönen. In Gedanken gehe ich die Zimmerfenster durch: alle zu!
Höhere Gewalt
Ich gehe zurück zu meinem Laptop, um weiterzuarbeiten. Gewitter beeindruckt mich nicht mehr. Ab und an werfe ich einen Blick nach draußen, wenn es richtig blitzt. Schon beginnt es, wie aus Kübeln zu gießen. Gut, eine Sommerdürre wie letztes Jahr wird es nun dieses Jahr wohl nicht geben.
Und ganz plötzlich fängt es an: Ein brutales, unbarmherziges und unfassbar lautes Hämmern ertönt vom Fenster her. Ich reiße den Kopf nach links und sehe eine weiße Masse vom Himmel herabstürzen. Hagel! Keine Hagelkörner — Hagelbälle! „Die Fenster werden zerbersten!“, ist mein erster Gedanke, während ich schon hektisch dabei bin, die Rollos herunterzulassen. Zugleich stürme ich in der Wohnung zu den restlichen Zimmern, um die Rollos wie ein Schutzschild herabzufahren. Keine Sekunde zu spät. Schon schlagen die ersten Hagelbälle Löcher in die Rollos. Die Lärmkulisse hat mittlerweile einen unerträglichen Pegel erreicht. Es fühlt sich an, als stünde die Wohnung und mit ihr das gesamte Haus unter Dauerbeschuss mehrerer Maschinengewehre. Werden die Rollos dem standhalten? Könnte ein Hagelball zweimal dieselbe Stelle treffen und das Fenster zertrümmern?
Die Bälle kommen von Süden, entsprechend habe ich auf der Ostseite die Rollos nicht herabgelassen. Der Anblick ist atemberaubend! Der Wind wedelt mit einer unbändigen Kraft die Bäume — nicht nur die Büsche — hin und her wie eine Geisha ihren Fächer. Ich blicke auf meine Notfall-Informations-App. Auf dem Display erscheint die unfassbare Windgeschwindigkeit von 120 km/h! 120 km/h! So schnell darf man in manchen Ländern nicht einmal auf der Autobahn fahren!
Es fühlt sich an wie ein Gewaltangriff. Gewalt, die allerdings keinen personifizierten Absender kennt. Keinen, dem man sagen könnte: „Hör bitte auf damit!“ Höhere Gewalt! Naturgewalt, die Golf spielte. Und der Häuserblock war das Loch.
Warnender Donner, ausbleibender Gedankenblitz
Der Spuk war sehr schnell vorbei. Es schüttete noch einige Minuten weiter, ehe sich auch der dichte Regen verzog und einen milchigen Dunststreifen über dem Boden zurückließ. Ich ging hinaus und fand die mir vertraute Straße so vor, als sei sie zum Filmset eines Roland Emmerich-Films umfunktioniert worden. Die Temperatur war dramatisch gesunken. Der Boden sah aus wie ein überdimensionaler Gurken-Schafskäse-Salat. Die höllischen Windböen hatten die Hälfte der Blätter von den Baumkronen gerissen, die nun beinahe aussahen wie im Herbst. Dazu kamen die Eisbrocken der Hagelbälle, die wie Schnee aussahen und unter dem sommerlichen Grün der Blätter einen besonders bizarren Eindruck machten.
Am Gebäude gegenüber waren an der Hausfassade und an den Rollos Einschusslöcher entstanden. Ja, wirkliche Einschusslöcher! Anders kann man es nicht sagen! Und die Blätter — die waren nicht nur auf der Straße, auf dem Gehweg, sondern klebten überall! An den Fassaden, den Laternen, den Werbetafeln und zu guter Letzt an den Autos.
Ja, die Autos! Nach und nach kam die ganze Nachbarschaft auf die Straße, um festzustellen, dass ihre SUVs verletzt waren. Fürsorglich holten sie ihre Verbandskästen und versorgten die Dellen ihrer vierrädrigen Raubtiere. Die Sonne kam mittlerweile — wie zum Hohn — heraus und tauchte die skurrile Szenerie in ein gleißend grelles Licht. Relativ tief flog eine Passagiermaschine über unsere Köpfe hinweg.
Nach dem Verarzten der SUVs zählten ihre Besitzer die Dellen. Ob ihnen klar war, dass sie mit jedem Mal, mit dem sie den Fuß auf das Gaspedal drücken, die Geister rufen, die nun ihr blechernes Selbstwert-Surrogat verbeult hatten? Aus einem der Fenster drang der Geruch von Fleisch. Wie viel CO2 wird nochmal durch den Fleischkonsum freigesetzt? Und wie sehr trägt der Fleischkonsum doch gleich zum menschengemachten Klimawandel bei? Ehe ich mir die Zahlen wieder ins Gedächtnis rufen konnte, rief stattdessen eine Stimme aus eben jenem Fenster:
„Jetzt kimmts nei! Essen is fertig! Den Blechschaden zoit doch eh die Versicherung!“
Ach, die Versicherung zahlt das? Na dann ist ja alles roger in Kambodscha! Dann können wir Menschen alle ja morgen genauso weitermachen!