Der Öko-Papst
In seiner Umwelt-Enzyklika gesteht Papst Franziskus jedem Geschöpf einen Eigenwert zu und kritisiert die ökonomistische Verdinglichung der Natur.
Ein Statement des Papstes zur Umweltdebatte. Braucht es das? Wäre es, anstatt auf diese „ewig gestrige“ Instanz zu hören, nicht vielmehr notwendig, endlich die Warnungen der Wissenschaft ernst zu nehmen, die auf Fakten beruhen, nicht auf Jahrtausende alten Glaubenssätzen? Ja und nein. Auch der betont bescheidene und soziale Papst hat seine blinden Flecken. Und, ja, diese Enzyklika ist ein Weg weisendes Meisterstück. Sie ist notwendig im wahrsten Sinn des Wortes. Wir können die fundamentale Krise dieser Zivilisation nicht mit den Mitteln lösen, die sie herbeizuführen halfen: nicht mit Zynismus und Gefühllosigkeit, nicht mit dem kalten Effizienzdenken unserer Büro- und Technokraten, nicht mit überheblichem „Krone der Schöpfung“-Getue. Denn es ist eine Krise des Geistes, in der wir feststecken, ausgelöst auch durch eine fatale Umwertung aller Werte. Franziskus — hier ein Schüler seines Namensgebers Franz von Assisi — setzt die richtigen Akzente, indem er den Menschen in ein geschwisterliches Verhältnis zur Natur setzt und indem er dieser einen Eigenwert jenseits ihres „Nutzwerts“ für die Menschen zugesteht. Die Papst-Enzyklika setzt Poesie gegen die Prosa vermeintlicher Sachzwänge. Sie setzt Genügsamkeit gegen Konsumrausch und fordert die Politik auf, den „Schrei der Armen“ ebenso wie jenen der misshandelten Erde zu hören. Wir müssen aufhören, uns irgendetwas „untertan zu machen“. Wir müssen wieder lernen, Liebende zu sein, oder wir werden bald nicht mehr sein.
Wen würden Sie besser behandeln — einen Untertanen oder Ihre Schwester? Eben. Der Bibelspruch „Macht euch die Erde untertan“, gehört vielleicht zu den bekanntesten, jedoch auch verhängnisvollsten Sätzen unseres christlichen Erbes. Der moderne Mensch hat vermeintlich Gott getötet, von seinem „Wort“ jedoch offenbar gerade die problematischsten Sätze behalten und sie überdies sehr einseitig ausgelegt. Wenn man dem homo sapiens schon unbedingt eine Vorgesetztenfunktion zuweisen will, dann hat er sich gegenüber seinen Untertanen wie ein veritabler Tyrann benommen — ein schlechter Hirte.
Hier wählt die Umweltenzyklika von Papst Franziskus, „Laudato si‘“, erschienen erstmals am 18. Juni 2015, gleich den richtigen Einstieg. Der Pontifex zeigt, dass er seinen Papstnamen durchaus bewusst gewählt hat und beginnt mit Franz von Assisi.
„‚Laudato si‘, mi‘ Signore — Gelobt seist du, mein Herr‘, sang der heilige Franziskus von Assisi. In diesem schönen Lobgesang erinnerte er uns daran, dass unser gemeinsames Haus wie eine Schwester ist, mit der wir das Leben teilen, und wie eine schöne Mutter, die uns in ihre Arme schließt: ‚Gelobt seist du, mein Herr, durch unsere Schwester, Mutter Erde, die uns erhält und lenkt und vielfältige Früchte hervorbringt und bunte Blumen und Kräuter.‘“
Franz von Assisi und „Schwester Erde“
Mit Bezug zum berühmtesten Gedicht des Heiligen fügt er an:
„Diese Schwester schreit auf wegen des Schadens, den wir ihr aufgrund des unverantwortlichen Gebrauchs und des Missbrauchs der Güter zufügen, die Gott in sie hineingelegt hat. Wir sind in dem Gedanken aufgewachsen, dass wir ihre Eigentümer und Herrscher seien, berechtigt, sie auszuplündern.“
Und er behauptet, „dass Franziskus das Beispiel schlechthin für die Achtsamkeit gegenüber dem Schwachen und für eine froh und authentisch gelebte ganzheitliche Ökologie ist“.
Unsere Geschwisterlichkeit gegenüber den anderen Lebensformen, ja sogar gegenüber Sonne, Mond, Himmel und Erde, resultiert natürlich aus christlicher Sicht daraus, dass alles vom gleichen „Vater“ geschaffen wurde. Einem Vater allerdings, der weniger als rigider Haustyrann denn als Liebender auftritt. Franz von Assisi, so der Papst, legt nahe, die Natur als ein prächtiges Buch zu erkennen, in dem Gott zu uns spricht und einen Abglanz seiner Schönheit und Güte aufscheinen lässt: „Von der Größe und Schönheit der Geschöpfe lässt sich auf ihren Schöpfer schließen.“
Ohne übermäßig auf dem Thema „Sünde und Schuld“ herumzureiten, kritisiert Franziskus die Hybris des Menschen, die zum Bruch mit der Schöpfung führte.
„Die Harmonie zwischen dem Schöpfer, der Menschheit und der gesamten Schöpfung wurde zerstört durch unsere Anmaßung, den Platz Gottes einzunehmen, da wir uns geweigert haben anzuerkennen, dass wir begrenzte Geschöpfe sind. Diese Tatsache verfälschte auch den Auftrag, uns die Erde zu ‚unterwerfen‘ (vgl. Gen 1,28) und sie zu ‚bebauen‘ und zu ‚hüten‘ (vgl. Gen 2,15). Als Folge verwandelte sich die ursprünglich harmonische Beziehung zwischen dem Menschen und der Natur in einen Konflikt (vgl. Gen 3,17-19).“
Das weiteren interpretiert der Papst die Harmonie, in der Franz von Assisi mit allen Geschöpfen lebte — man denke etwa an die berühmte Vogelpredigt oder an die Zähmung eines Wolfes —, als „Heilung jenes Bruchs“. Wenn wir dem Heiligen darin folgen, sind wir Teil der Heilung, ansonsten bleiben wir Teil des Krankheitsprozesses.
Warum nun die Wortmeldung des Kirchenoberhaupts zu diesem Zeitpunkt? Der Papst wollte mit dem Werk offensichtlich die UN-Klimakonferenz in Paris beeinflussen. In einer Pressekonferenz Anfang 2015 sagte er: „Wichtig ist, dass zwischen ihrer Veröffentlichung und dem Treffen in Paris ein gewisser zeitlicher Abstand liegt, damit sie einen Beitrag leistet. Das Treffen in Peru [2014] war nichts Besonderes. Mich hat der Mangel an Mut enttäuscht: An einem gewissen Punkt haben sie aufgehört. Hoffen wir, dass in Paris die Vertreter mutiger sein werden, um in dieser Sache voranzukommen.“
Das Werk wurde natürlich nicht vom Papst allein verfasst. Der erste Entwurf wurde vom Rat „Justitia et pax“ erstellt, einem wichtigen Beratungsgremium der römisch-katholischen Kirche mit Sitz in Deutschland. Zahlreiche Bischöfe wie Erwin Kräutler, Träger des alternativen Nobelpreises für sein Umwelt- und Sozialengagement, wirkten mit. Das Werk wurde auch von der „Glaubenskongregation“ auf theologische Korrektheit geprüft.
Über das Unmittelbare hinaus
Franziskus, der sich nirgendwo im Text selbst als unfehlbar bezeichnet, will Teil eines Chors der Willigen sein, eine spezifische Farbe im großen Gemälde der notwendigen ökologischen Lösung.
„Wenn wir wirklich eine Ökologie aufbauen wollen, die uns gestattet, all das zu sanieren, was wir zerstört haben, dann darf kein Wissenschaftszweig und keine Form der Weisheit beiseitegelassen werden, auch nicht die religiöse mit ihrer eigenen Sprache.“
Wenn man der Kirche eines nicht vorwerfen kann, dann ist es übermäßige Flexibilität und Geschwindigkeit bei der Anpassung an den Zeitgeist. Diese Beharrlichkeit im Wertebewusstsein — mag man diesen Werten zustimmen oder nicht — erweist sich nun als Stärke. Der Ökonomismus nämlich zerstört unser Ökosystem nicht zuletzt auch aufgrund seiner fatalen Kurzsichtigkeit und Kurzatmigkeit. Politiker denken selten über den nächsten Wahltermin hinaus, Wirtschaftslenker haben meist nur die Quartalsbilanz im Blick.
Der Papst postuliert nun etwas, was in Anbetracht der herrschenden Religion des Mammonismus geradezu als Blasphemie erscheint: Er beruft sich auf andere Werte als jene des kurzfristigen wirtschaftlichen Vorteils.
„Die Pflege der Ökosysteme setzt einen Blick voraus, der über das Unmittelbare hinausgeht, denn wenn man nur nach einem schnellen und einfachen wirtschaftlichen Ertrag sucht, ist niemand wirklich an ihrem Schutz interessiert. Doch der Preis für die Schäden, die durch die egoistische Fahrlässigkeit verursacht werden, ist sehr viel höher als der wirtschaftliche Vorteil, den man erzielen kann.“
Fast poetisch klingt es, wenn Franziskus eine Welt in Harmonie als den Traum Gottes interpretiert; den Menschen indes als ein „Werkzeug“, um diesen Traum zu realisieren.
„Niemals haben wir unser gemeinsames Haus so schlecht behandelt und verletzt wie in den letzten beiden Jahrhunderten. Doch wir sind berufen, die Werkzeuge Gottes des Vaters zu sein, damit unser Planet das sei, was Er sich erträumte, als Er ihn erschuf, und seinem Plan des Friedens, der Schönheit und der Fülle entspreche.“
Eine zentrale These der Enzyklika besagt, dass alle Lebewesen „vor Gott einen Eigenwert besitzen“. Mit anderen Worten: „Der letzte Zweck der anderen Geschöpfe sind nicht wir.“ Oder: „Unseretwegen können bereits Tausende Arten nicht mehr mit ihrer Existenz Gott verherrlichen, noch uns ihre Botschaft vermitteln. Dazu haben wir kein Recht.“
Liebe als Beweggrund der Schöpfung
Vielen Leserinnen und Lesern wäre es vermutlich lieber gewesen, wenn hier nicht andauernd von Gott die Rede wäre, diesem „jemand“, an den sie nicht oder nicht mehr glauben können. Doch ob gläubig oder nicht — zentral ist, dass sich der Wert der Erde und ihrer Lebensformen laut Franziskus nicht vom Menschen ableitet. Die Bedeutung der Natur erschöpft sich nicht mehr in ihrem Nutzwert für den Menschen — als Schweinekotelett, als Zierpflanze, als Baugrundstück, als Gegenstand von Profiterwägungen und Spekulation.
„Die Liebe Gottes ist der fundamentale Beweggrund der gesamten Schöpfung: ‚Du liebst alles, was ist, und verabscheust nichts von allem, was du gemacht hast; denn hättest du etwas gehasst, so hättest du es nicht geschaffen‘ (Weish 11,24). Jedes Geschöpf ist also Gegenstand der Zärtlichkeit des Vaters, der ihm einen Platz in der Welt zuweist. Sogar das vergängliche Leben des unbedeutendsten Wesens ist Objekt seiner Liebe, und in diesen wenigen Sekunden seiner Existenz umgibt er es mit seinem Wohlwollen.“
Ökologie wird insofern zur Christenpflicht. Das spezifisch Christliche daran ist die These, dass Gott die materielle Welt schon dadurch aufgewertet habe, dass er seinen „Sohn“, Jesus Christus, auf diese Welt geschickt hat. Schon insofern wäre eine Theologie überwunden, die die Erde und alles Irdische gleichsam als „unter dem Niveau Gottes“ betrachtet. Alles ist geschaffen. Alles ist gewollt. Alles ist geliebt.
Tiefenökologie: Wir sind selber Erde
Faszinierend ist dabei, dass die Umwelt-Enzyklika Gedanken enthält, die man gemein hin als „tiefenökologisch“ versteht und nicht unbedingt mit diesem alten, schwerfälligen Tanker, der katholischen Kirche, in Verbindung bringen würde. Tiefenökologie, eine Denkrichtung, die Ende des 20. Jahrhunderts unter anderem von Joanna Macy und Arne Naess geprägt wurde, betont die wechselseitige enge Verbundenheit aller Naturphänomene, im Grunde ihre Identität. Alles, was ist, besitzt eine Tiefendimension, die man als „göttlich“ oder „heilig“ bezeichnen kann. Auf eine kurze Formel gebracht:
„Wir sind in sie eingeschlossen, sind ein Teil von ihr und leben mit ihr in wechselseitiger Durchdringung.“
Der Papst schreibt hierzu auch:
„Wir vergessen, dass wir selber Erde sind (vgl. Gen 2,7). Unser eigener Körper ist aus den Elementen des Planeten gebildet; seine Luft ist es, die uns den Atem gibt, und sein Wasser belebt und erquickt uns. (…) Das gibt Anlass zu der Überzeugung, dass sämtliche Geschöpfe des Universums, da sie von ein und demselben Vater erschaffen wurden, durch unsichtbare Bande verbunden sind und wir alle miteinander eine Art universale Familie bilden, eine sublime Gemeinschaft, die uns zu einem heiligen, liebevollen und demütigen Respekt bewegt.“
Die Zärtlichkeit Gottes für „seine“ Lebewesen sollte zu unserer eigenen Zärtlichkeit werden.
Dabei ist es Franziskus jedoch wichtig, dass wir nicht ins andere Extrem, quasi in einen menschenverachtenden Anti-Speziesismus verfallen.
„Ein Empfinden inniger Verbundenheit mit den anderen Wesen in der Natur kann nicht echt sein, wenn nicht zugleich im Herzen eine Zärtlichkeit, ein Mitleid und eine Sorge um die Menschen vorhanden ist.“
Die schöne Kurzformel des Papstes hierfür lautet: „Das Herz ist nur eines.“ Man kann nicht der einen Kreatur sein Mitgefühl schenken und sie einer anderen verweigern.
„Das Herz ist nur eines, und die gleiche Erbärmlichkeit, die dazu führt, ein Tier zu misshandeln, zeigt sich unverzüglich auch in der Beziehung zu anderen Menschen. Jegliche Grausamkeit gegenüber irgendeinem Geschöpf ‚widerspricht der Würde des Menschen‘ (69). Wir können uns nicht als große Liebende betrachten, wenn wir irgendeinen Teil der Wirklichkeit aus unseren Interessen ausschließen.“
Papst Franziskus hätte hier nur einen kleinen Schritt weiter gehen müssen, um zu der Erkenntnis zu gelangen, dass der Konsum von Fleisch- und Milchprodukten der „Würde des Menschen“ widerspricht. Der Eklat, den ein Fleischverbot des Papstes unfehlbar auslösen würde, würde wohl höhere Wellen schlagen als die Frauenpriesterschaft. Weiterhin werden also unzählige Klosterwirtschaften und sogar klostereigene Metzgereien die traute Eintracht von Schlachtermesser und Altar zelebrieren, und die Gläubigen werden sich von den Strapazen des Pflicht-Gottesdienstes bei Bier und Schweinshaxen erholen.
Schrei der Erde, Schrei der Armen
Keine Scheu hat er jedoch vor einer klaren Ansage gegenüber den politischen und wirtschaftlichen „Mächten“:
„Viele von denen, die mehr Ressourcen und ökonomische oder politische Macht besitzen, scheinen sich vor allem darauf zu konzentrieren, die Probleme zu verschleiern oder ihre Symptome zu verbergen, und sie versuchen nur, einige negative Auswirkungen des Klimawandels zu reduzieren.“
Ökologische und soziale Frage sind immer zusammen zu denken. Hier offenbart Franziskus schon in der Wortwahl die Einflüsse seines Heimatkontinents Südamerika, wo die Befreiungstheologie einige bis heute wertvolle Impulse gab. Leonardo Boff etwa sprach vom „Schrei der Erde“ und vom „Schrei der Armen“, die gleichermaßen Gehör finden müssten. In den Worten des Papstes:
„Wir kommen jedoch heute nicht umhin anzuerkennen, dass ein wirklich ökologischer Ansatz sich immer in einen sozialen Ansatz verwandelt, der die Gerechtigkeit in die Umweltdiskussionen aufnehmen muss, um die Klage der Armen ebenso zu hören wie die Klage der Erde.“
Und wer mit der Kirche vor allem das „Herumreiten“ auf Begriffen von Schuld und Sünde verbindet, findet hier eine neuartige Variante, die „ökologische Schuld“ — eine, die wir heutigen Menschen jedenfalls nicht so leicht von uns weisen können.
„Denn es gibt eine wirkliche „ökologische Schuld“ — besonders zwischen dem Norden und dem Süden — im Zusammenhang mit Ungleichgewichten im Handel und deren Konsequenzen im ökologischen Bereich wie auch mit dem im Laufe der Geschichte von einigen Ländern praktizierten unproportionierten Verbrauch der natürlichen Ressourcen.“
Der Papst, der schon 2013 mit dem Satz „diese Wirtschaft tötet“ überraschend deutlich wurde, geißelt auch in der Enzyklika die Knechtung ganzer Völker mittels Schuldendienst und spricht von einem „strukturell perversen System“.
Er fordert vehement, dass eine ganzheitliche Lösung gefunden werden muss, nicht nur Teillösungen für isolierte Einzelfragen. Denn Natur- und Sozialsysteme hängen eng miteinander zusammen.
„Es gibt nicht zwei Krisen nebeneinander, eine der Umwelt und eine der Gesellschaft, sondern eine einzige und komplexe sozio-ökologische Krise. Die Wege zur Lösung erfordern einen ganzheitlichen Zugang, um die Armut zu bekämpfen, den Ausgeschlossenen ihre Würde zurückzugeben und sich zugleich um die Natur zu kümmern.“
Die Machtstrukturen angreifen
Wenn es um die Klimafrage geht, ist der „Heilige Stuhl“ über Reförmchen und Symptombekämpfung längst hinaus. Unverblümt stellt Franziskus die Machtfrage:
„Alle Bestrebungen, die Welt zu hüten und zu verbessern, setzen vor allem voraus, dass sich die Lebensweisen, die Modelle von Produktion und Konsum und die verfestigten Machtstrukturen [von Grund auf] ändern, die heute die Gesellschaften beherrschen‘ (7) (…)“
Lösungen sollten auf allen Ebenen gefunden werden, auch auf der des individuellen Lebensstils.
„Die Menschheit ist aufgerufen, sich der Notwendigkeit bewusst zu werden, Änderungen im Leben, in der Produktion und im Konsum vorzunehmen, um diese Erwärmung oder zumindest die menschlichen Ursachen, die sie hervorrufen und verschärfen, zu bekämpfen.“
Dennoch führen die Spuren vereinzelter Missstände immer wieder zu zwei Grundübeln zurück: dem Finanzsystem und dem „Konsumismus“, wobei letzterer sowohl ein strukturelles als auch ein psychologisches Problem ist.
„Wenn wir jedoch die Welt betrachten, stellen wir fest, dass dieses Ausmaß menschlichen Eingreifens, das häufig im Dienst der Finanzen und des Konsumismus steht, dazu führt, dass die Erde, auf der wir leben, in Wirklichkeit weniger reich und schön wird, immer begrenzter und trüber, während gleichzeitig die Entwicklung der Technologie und des Konsumangebots grenzenlos weiter fortschreitet. So hat es den Anschein, dass wir bestrebt sind, auf diese Weise eine unersetzliche und unwiederbringliche Schönheit auszutauschen gegen eine andere, die von uns geschaffen wurde.“
Die Umweltthematik kann nicht unabhängig von der Friedensthematik betrachtet werden. Auch hier zeigt der Papst erstaunlichen Weitblick:
„Es ist vorhersehbar, dass angesichts der Erschöpfung einiger Ressourcen eine Situation entsteht, die neue Kriege begünstigt, die als eine Geltendmachung edler Ansprüche getarnt werden. Der Krieg verursacht immer schwere Schäden für die Umwelt wie für den kulturellen Reichtum der Bevölkerungen, und die Risiken wachsen ins Ungeheure, wenn man an die nuklearen und die biologischen Waffen denkt.“
Für nicht ausreichend — auch das ist hoch interessant mit Blick auf einige aktuelle Klima-Debatten — hält er offenbar die Hoffnung, neue Technologien könnten die Probleme für uns lösen, ohne dass wir zu Verzicht und radikalem Umsteuern gezwungen wären.
„Im einen Extrem vertreten einige um jeden Preis den Mythos des Fortschritts und behaupten, dass sich die ökologischen Probleme einfach mit neuen technischen Programmen lösen werden, ohne ethische Bedenken und grundlegende Änderungen. (…) Die Reduzierung von Treibhausgas verlangt Ehrlichkeit, Mut und Verantwortlichkeit vor allem der Länder, die am mächtigsten sind und am stärksten die Umwelt verschmutzen.“
Das Diktat der Technokratie
Nun ein wahrlich epochaler Satz, den man wohl eher im „linksradikalen Lager“ vermuten würde.
„Die Politik darf sich nicht der Wirtschaft unterwerfen, und diese darf sich nicht dem Diktat und dem effizienzorientierten Paradigma der Technokratie unterwerfen.“
Eine solch klare Ansage ist sowohl „grüner“ als auch „christdemokratischer“ Politik heutzutage fremd. Stets wird in der auf Sicht fahrenden, uninspirierten deutschen Tagespolitik das Mantra „Ökologie und Ökonomie sind keine Gegensätze“ hergebetet.
Stets muss das Überleben unseres Ökosystems, also letztlich der gesamten Mensch-, Tier- und Pflanzenwelt, abgewogen werden gegen das Profitinteresse der Wenigen — so als stünden diese Profiteure außerhalb des Lebens auf unserem Planeten. Wer keinen Gegensatz zwischen Ökonomie und Ökologie wahrnehmen will, obwohl das eine auf die Zerstörung, das andere auf die Bewahrung unserer Mitwelt hinausläuft, der ist lediglich zu feige, sich mit den Hohepriestern der neuen Geldreligion anzulegen.
Franziskus tut das:
„Im Hinblick auf das Gemeinwohl besteht für uns heute die dringende Notwendigkeit, dass Politik und Wirtschaft sich im Dialog entschieden in den Dienst des Lebens stellen, besonders in den des menschlichen Lebens. Die Rettung der Banken um jeden Preis, indem man die Kosten dafür der Bevölkerung aufbürdet, ohne den festen Entschluss, das gesamte System zu überprüfen und zu reformieren, unterstützt eine absolute Herrschaft der Finanzen, die keine Zukunft besitzt und nach einer langwierigen, kostspieligen und scheinbaren Heilung nur neue Krisen hervorrufen kann. Darum ist die Stunde gekommen, in einigen Teilen der Welt einen gewissen Wachstumsrückgang zu akzeptieren und Hilfen zu geben, damit in anderen Teilen ein gesunder Aufschwung stattfinden kann.“
Im Visier des Heiligen Stuhls ist sogar die ultimative heilige Kuh des Kapitalismus:
„Das Prinzip der Gewinnmaximierung, das dazu neigt, sich von jeder anderen Betrachtungsweise abzukapseln, ist eine Verzerrung des Wirtschaftsbegriffs: Wenn die Produktion steigt, kümmert es wenig, dass man auf Kosten der zukünftigen Ressourcen oder der Gesundheit der Umwelt produziert; wenn die Abholzung eines Waldes die Produktion erhöht, wägt niemand in diesem Kalkül den Verlust ab, der in der Verwüstung eines Territoriums, in der Beschädigung der biologischen Vielfalt oder in der Erhöhung der Umweltverschmutzung liegt.“
Genügsamkeit befreit
Die Verantwortung des Einzelnen liegt nun darin, sich dem „zwanghaften Konsumismus“ zu verweigern. Dieser sei „das subjektive Spiegelbild des techno-ökonomischen Paradigmas. (…) Dieses Modell wiegt alle in dem Glauben, frei zu sein, solange sie eine vermeintliche Konsumfreiheit haben, während in Wirklichkeit jene Minderheit die Freiheit besitzt, welche die wirtschaftliche und finanzielle Macht innehat.“
Verzicht auf Unnötiges und Achtsamkeit gegenüber Gebrauchsgegenständen sind demnach angezeigt. „Etwas aus tiefen Beweggründen wiederzuverwerten, anstatt es schnell wegzuwerfen, kann eine Handlung der Liebe sein, die unsere eigene Würde zum Ausdruck bringt.“ Denn:
„Die ständige Anhäufung von Möglichkeiten zum Konsum lenkt das Herz ab und verhindert, jedes Ding und jeden Moment zu würdigen. Dagegen öffnet das gelassene Sich-Einfinden vor jeder Realität, und sei sie noch so klein, uns viel mehr Möglichkeiten des Verstehens und der persönlichen Verwirklichung. Die christliche Spiritualität regt zu einem Wachstum mit Mäßigkeit an und zu einer Fähigkeit, mit dem Wenigen froh zu sein.“
„Lass oberflächliche Dinge uns nicht irreführen“ heißt es in der Übersetzung des Vaterunser aus dem Aramäischen von Neil Douglas-Klotz (die geläufige Version des Satzes lautet „Führe uns nicht in Versuchung“). „Oberflächlichkeit“ kann heute nicht nur die Seele schädigen, sondern massiv auch unsere Mitwelt. Der „Plastic Planet“ Erde mit seinen Fastfood vertilgenden, in virtuelle Scheinwelten vertieften, surfenden, streamenden und simsenden Bewohnern ist wohl der richtige Ort, um eine Warnung vor „oberflächlichen Dingen“ auszusprechen. Unbegrenzte „freie Entfaltung“ in ihrer Verfallsform wird zu einem Erlebnisse und Dinge raffenden Ego-Trip, der unfrei macht. Genügsamkeit dagegen befreit, weil sie in die Vertiefung führt.
Digitalisierung: „Geistige Umweltverschmutzung“
„Oberflächliche Dinge“ werden uns heutzutage vor allem auch durch die Medien vermittelt. Mit „Digital first“ scheint die Kirche jedenfalls nichts am Hut zu haben. Der Papst ist nicht Christian Lindner.
„Dazu kommen die Dynamiken der Medien und der digitalen Welt, die, wenn sie sich in eine Allgegenwart verwandeln, nicht die Entwicklung einer Fähigkeit zu weisem Leben, tiefgründigem Denken und großherziger Liebe begünstigen. Die großen Weisen der Vergangenheit würden in diesem Kontext Gefahr laufen, dass ihre Weisheit inmitten des zerstreuenden Lärms der Informationen erlischt.“
Und auch in diesem Zusammenhang wieder eine prägnante Formulierung: „geistige Umweltverschmutzung“.
„Die wirkliche Weisheit, die aus der Reflexion, dem Dialog und der großherzigen Begegnung zwischen Personen hervorgeht, erlangt man nicht mit einer bloßen Anhäufung von Daten, die sättigend und benebelnd in einer Art geistiger Umweltverschmutzung endet. Zugleich besteht die Tendenz, die realen Beziehungen zu den anderen mit allen Herausforderungen, die sie beinhalten, durch eine Art von Kommunikation zu ersetzen, die per Internet vermittelt wird. Das erlaubt, die Beziehungen nach unserem Belieben auszuwählen oder zu eliminieren, und so pflegt sich eine neue Art künstlicher Gefühlsregungen zu bilden, die mehr mit Apparaturen und Bildschirmen zu tun haben, als mit den Menschen und der Natur.“
Im Zusammenhang mit diesem Überangebot an Reizen mache sich „eine tiefe und wehmütige Unzufriedenheit in den zwischenmenschlichen Beziehungen oder eine schädliche Vereinsamung breit“.
Mystik in einem Blütenblatt
Den Begriff „Mystik“ lässt Franziskus explizit in seine Enzyklika einfließen. Das ist bemerkenswert, weil das Papst-Amt ja gemeinhin eher mit Dogmatik identifiziert wird, also mit erstarrten Gedankengebäuden und Geistes-Umzäunungen, die für die unmittelbare Erfahrung des Göttlichen normalerweise eher hinderlich sind. Liebe, wenn sie so aufrichtig erlebt und so konkret wirksam ist wie bei Franz von Assisi, „knackt“ die Erstarrung, das Exoskelett aus Regeln, Verboten und Glaubenszwang, in das die Kirche sich normalerweise hüllt.
„Die Natur ist voll von Worten der Liebe. (…) Das Universum entfaltet sich in Gott, der es ganz und gar erfüllt. So liegt also Mystik in einem Blütenblatt, in einem Weg, im morgendlichen Tau, im Gesicht des Armen.“
Franziskus vermeidet zwar pantheistische Lehren, wonach buchstäblich alle Dinge und Wesen Gott „sind“, er versteht Gott jedoch als umhüllende Matrix wie als Ziel- und Endpunkt allen Lebens. Vereinfacht gesagt: Wir und die Naturphänomene sind nicht Gott, aber wir sind in Gott und wir existieren auf ihn zu.
„Die Geschöpfe streben auf Gott zu, und jedes Lebewesen hat seinerseits die Eigenschaft, auf etwas anderes zuzustreben, so dass wir innerhalb des Universums eine Vielzahl von ständigen Beziehungen finden können, die auf geheimnisvolle Weise ineinandergreifen (171). Das lädt uns nicht nur ein, die vielfältigen Verbindungen zu bewundern, die unter den Geschöpfen bestehen, sondern führt uns dahin, einen Schlüssel zu unserer eigenen Verwirklichung zu entdecken. Denn die menschliche Person wächst, reift und heiligt sich zunehmend in dem Maß, in dem sie in Beziehung tritt, wenn sie aus sich selbst herausgeht, um in Gemeinschaft mit Gott, mit den anderen und mit allen Geschöpfen zu leben.“
Die Lösung für die fundamentale geistige und existenzielle Krise der Menschheit wäre demnach Selbst-Transzendenz. Wir müssen in Beziehung treten beziehungsweise uns als schon in einem Geflecht von Beziehungen befindlich begreifen, wollen wir dem Hochmut der Einsamkeit mit allen damit verbundenen Exzessen der Gleichgültigkeit und des Gegeneinander entkommen. Trennung macht krank, Verbundenheit heilt.
Resümee: Bewahren, was zu uns gehört
Die päpstliche Enzyklika entwirft ein Programm für den achtsamen Umgang mit unserer Mitwelt, die sowohl im allgemein-philosophischen Teil überzeugt als auch angemessen konkret wird, wenn es darum geht, die Ursachen der Misere an unserem Wirtschaftssystem festzumachen. Sie vertritt weltanschaulich einen mystisch-ökologischen Antikapitalismus. Gerade diese Vereinigung des scheinbar nicht Zusammenpassenden macht die Schrift reizvoll.
Ähnlich wie bei dem herausragenden Buch von Prinz Charles, „Harmony“, kann man auch bei der Enzyklika den Autor in Frage stellen. Man kann den Standpunkt einnehmen, das seien richtige Gedanken, jedoch vom falschen Mann. Man sollte aber nicht aus solchen Überlegungen heraus stur am Falschen festhalten.
Weiter kapitalistische Parteien zu unterstützen, Abgase in die Luft zu blasen und zu konsumieren „als wäre nichts gewesen“ wäre keinesfalls ein sinnvolles antiklerikales Statement — es wäre schlicht selbstzerstörerische Dummheit.
Es ist wahr, dass es in der Klima- und Umweltdebatte teilweise zu viele „Glaubenssätze“ gibt und dass die Politik teilweise zu wenig auf die Wissenschaft hört, die mit ihrem objektiven Analyse-Instrumentarium die These vom menschengemachten — und wirklich gefährlichen — Klimawandel stützt. Aber im Kern kommen Papst und Wissenschaft zum selben Ergebnis. Ja der letzteren fehlt häufig noch die klar antikapitalistische Stoßrichtung, die der Enzyklika eigen ist. Ratio und Liebe, Wissenschaft und Schöpfungstheologie können zu ein und derselben achtsamen und lebensfreundlichen Grundhaltung zusammenfließen. Franziskus und sein Vorbild Franz von Assisi verleihen der Umweltdebatte Seele; umgekehrt untermauern die Fakten ja zur Genüge das von Kirchenvertretern „nur“ Geglaubte.
Es ist wahr, dass es der Enzyklika vielfach an Sachlichkeit fehlt. Und doch sind Gefühl, Poesie, ja Pathos in der Sprache des Papstes hilfreich, weil sie die Dringlichkeit der Lage unterstreichen und sich zugleich an Schichten der Persönlichkeit wenden, die durch CO2-Tabellen eher unberührt bleiben. Die Wissenschaft kann sagen, dass und aufgrund welcher objektiv bestimmbarer Faktoren die Welt in Gefahr ist. Sie kann aber nicht sagen, warum sie gerettet werden sollte. Wenn wir diese Frage beantworten wollen, stoßen wir unwillkürlich auf „irrationale“ Aspekte wie Sinn, Schönheit oder Liebe. Wir entdecken die innewohnende Würde und den Eigenwert aller Lebensformen.
Der Papst wendet sich gegen den technokratischen Rationalismus inhaltlich, aber auch auf der Ebene der Sprache. Das ist gut so, denn eine ausschließlich sachliche Sprache koppelt uns von den „Sachen“ ab, um die es eigentlich geht. Wir nehmen diese dann eher als voneinander und von uns getrennte Objekte wahr. Das ist fatal, vor allem wenn es um Lebewesen geht. Spiritualität hilft, die Wunden dieser Welt zu heilen. Denn in ihrem Kern meint Spiritualität nicht den blinden Glauben an etwas Unbeweisbares, sie meint Verbundenheitsbewusstsein. Darin ist sie der Ökologie sehr ähnlich. Spiritualität quasi als die geistige Innenseite der Ökologie, die ja stets die enge gegenseitige Abhängigkeit in lebenden Systemen betont.
Ob man Gott dann nur als ein Etikett betrachtet, das Leichtgläubige dem Ökosystem aufkleben oder tatsächlich als den Urgrund allen Lebens, den „Weltinnenraum“ (Rilke) — das ist letztlich eine Glaubensfrage.
Die Schlussfolgerung für Aktivistinnen und Aktivisten jeder weltanschaulichen Couleur sollte jedenfalls die gleiche sein: bewahren, was unauflöslich zu uns gehört.
Wir tun also gut daran, Franziskus und seiner Enzyklika zuzuhören. Wer der Meinung ist, der Papst sei mit seinen Vorschlägen zwar in die richtige Richtung, jedoch nicht weit genug gegangen, der möge eben „päpstlicher als der Papst“ sein und ergänzende Schritte vorschlagen. Und vor allem eines: selbst voran gehen.
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