Der Nebel

Wer es nicht lassen kann zu atmen, sollte erwägen, durch seinen Tod das Infektionsrisiko zu minimieren — doch womöglich gibt es im Jenseits auch Corona-Regeln ...

Brillenträger wanken in diesen Tagen oft wie im Nebel durch U-Bahn-Schächte und Supermärkte. Die Atemluft entweicht oberhalb der Mund-Nase-Bedeckung und die Brille beschlägt. Das erhöht nicht nur die Gefahr, die Abstandsregeln zu missachten, sondern erschwert auch die Lektüre allfälliger Corona-Regelkataloge. Stenge Belehrungen oder gar Strafen können die Folge sein ... In seiner kleinen satirischen Erzählung zeigt der Autor wahrhaft Galgenhumor.

Im Café Del Sol werde ich direkt am Eingang gelobt, weil ich meine Hände desinfiziere. Dann bekomme ich eine Anweisung, an einer aufgezeichneten Linie stehen zu bleiben. Ein weiterer Mitarbeiter empfängt mich und spricht ein Gebet, also Psalme. Verhaltensregeln. Ich werde müde, so unendlich müde, dass ich direkt auf der Stelle einschlafen möchte. Mein Kopf fällt leicht zur Seite. Das Halstuch rutscht etwas von der Nase.

„Sie können mir jetzt folgen, ich führe Sie zu Ihrem Tisch.“

„Das ist ja wie im Krankenhaus. Bekomme ich eine Infusion?“

„Warten Sie, wenn Sie erst einmal sitzen, ist alles wie früher.“

Immer wenn ein Service-Dings in die Nähe meines Tisches kommt, ziehe ich das Tuch wieder in mein Gesicht.

„Das müssen Sie nicht, nicht wenn Sie am Tisch sitzen. Am Tisch ist wie früher.“

Auf dem Weg zur Toilette soll ich das Tuch wieder in mein Gesicht ziehen. Müde von den Gebeten, müde von dem Essen betrete ich die Toilettenräume. Hose runter. Tuch wieder runter. Also auch runter. Oder? Ist hier auch alles wie früher, frage ich mich. Hose nach oben ziehen. Tuch weiter oben lassen. Hände desinfizieren. Frisur kontrollieren. Tuch kontrollieren. Hose kontrollieren.

Tuch höher ziehen, damit mein besonderes Engagement, meine absolute Ergebenheit, meine Treue, mein Pflichtbewusstsein, meine bedingungslose Solidarität zum Ausdruck kommt, sichtbar wird, wenn ich diese Räume verlasse. Hose höher ziehen. Tuch bis unter die Augen ziehen. Hände kontrollieren. Die Brille an das Tuch anpassen. Weniger atmen, weil meine Brille sonst beschlägt. Ein zweites Mal die Hände desinfizieren. Dann wieder das Tuch herunter ziehen, weil ich ein Hustenbonbon lutschen möchte. Ich habe Angst, husten zu müssen, unter Verdacht zu geraten.

Dann huste ich bereits vor dem Verlassen der Toilettenräume, weil ich das Hustenbonbon zu hastig lutsche. Ich spucke es versehentlich aus, suche es auf dem Fußboden und finde es nicht. Erneut desinfiziere ich meine Hände. Diesmal sogar dreimal. Ich fange zu schwitzen an. Die Brille beschlägt erneut. Wieder versuche ich, weniger zu atmen.

„Hier ist nichts wie früher,“ kommentiere ich brummend die Situation. Meine Stimme hört sich unter dem Tuch dumpf an, und ich frage mich, wie ich unter diesem Nebel zurück zu meinem Tisch finden soll. Ich höre mich selbst atmen und mache mich auf den Weg in meine sichere Zukunft, schwimme an verbotenen Tischen vorbei, ertaste andere Gäste, greife in Masken, werde gebissen und kurz bevor ich meinen Tisch erreiche, dann doch noch erschossen. Mit einem Pfefferminzgeschmack verlasse ich den gekennzeichneten Bereich, meinen Körper, die Welt. Und noch während ich zu fliegen beginne, werde ich mit feinstofflichen Sagrotan-Tüchern empfangen.


Bild

Bild

Bild

Bild

Bild

Bild

Karikaturen von Markus Jöhring