Der Mythos der Objektivität

Die moderne Wissenschaft hat sich von der sinnlich gewonnenen Erkenntnis abgekoppelt und verkennt den Einfluss des Beobachters auf das Beobachtete.

Früher war Wissenschaft eine hoch anspruchsvolle Disziplin für Spezialisten. Der „Normalbürger“ musste sich damit nicht befassen, sofern er sich nicht dafür interessierte. Spätestens mit den Coronamaßnahmen ist Wissenschaft jedoch zu einem Machtinstrument geworden, das massiv auf das Leben von uns allen Einfluss nimmt. In einer Zeit bröckelnder Gewissheiten und schwindenden Glaubens an Autoritäten war Wissenschaft für viele der einzige verbleibende Halt. Grund dafür ist der Nimbus einer angeblich von Interessen und Gefühlen völlig freien Objektivität. Gerade dieses Image von Wissenschaft beruht aber auf einer Fehlannahme, welche gefährliche Auswirkungen hat, wenn unter Berufung auf sie schlechte Politik „verkauft“ werden soll. Wissenschaft ist immer auch Spiegel der durchaus subjektiven Wesensart der Menschen, die sie betreiben, der Narrative und Paradigmen, die in der jeweiligen Epoche herrschen. Ursache einer zergliedernden und fragmentierenden, einer aggressiven und oft lebensfeindlichen Sprache in der Wissenschaft ist oft eine entsprechende Mentalität der Menschen, die sie betreiben. Wenn wir uns diese Dynamik bewusst machen, können wir auch Fehlentwicklungen durchschauen, die es unter Berufung auf Wissenschaft gegeben hat, und ihnen entgegenwirken.

„Was ist denn die Wissenschaft?
Sie ist nur des Lebens Kraft.
Ihr erzeugt nicht das Leben.
Leben erst muss Leben geben.“

(J. W. von Goethe)

Probleme der Erkenntnisgewinnung

Ohne sinnliche Wahrnehmung keine Erkenntnis, auch keine wissenschaftliche Erkenntnis. Sinnliche Wahrnehmung von Wirklichkeit bedeutet jedoch noch nicht Erkenntnis der Wirklichkeit.

„Unsre Natur bringt es so mit sich, daß die Anschauung niemals anders als sinnlich sein kann, das ist, nur die Art enthält, wie wir von Gegenständen afficirt werden. Dagegen ist das Vermögen, den Gegenstand sinnlicher Anschauung zu denken, der Verstand. Keine dieser Eigenschaften ist der anderen vorzuziehen. Ohne Sinnlichkeit würde uns kein Gegenstand gegeben und ohne Verstand keiner gedacht werden. Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind. (...) Der Verstand vermag nichts anzuschauen und die Sinne nichts zu denken. Nur daraus, daß sie sich vereinigen, kann Erkenntnis entspringen“ (1).

Um Erkenntnis zu erreichen, bedarf es also des Verstandes und weiterer Fähigkeiten, auch solcher, die sich das Individuum aneignen muss: biologisch-kognitives Vermögen, Entwicklung und Bedienung von Instrumenten, um erweiterte sinnliche Erfahrungen zu gewinnen, zu systematisieren und zu verarbeiten, sowie persönlichen Willen zum Erkenntnisstreben.

Als systematisches Instrumentarium für die Erkenntnisgewinnung gelten Sprache und Mathematik. Die in der Neuzeit angewendeten Verfahren sinnlicher Erkenntnis grenzen sich von traditionellen — auch spirituellen, stimulierenden — Verfahren zur Sinneserweiterung ab: Sie verkleinern, vereinzeln, isolieren ihre Erkenntnisobjekte/-subjekte, reißen sie damit aus ihren Zusammenhängen und fragmentieren sie. Erkennende und zu Erkennende werden in Subjekt und Objekt getrennt.

Gleichwohl geben sich diese Verfahren objektiv, weil technisch-wissenschaftlich. Hierzu bedienen sie sich der Mathematik, ihrer standardisierten Maße und der auf ihr aufbauenden Modelle sowie allerlei Modellierungen. Dies gilt nicht nur, aber vorwiegend für die Naturwissenschaften und die moderne Physik, worauf Niels Bohr explizit verweist:

„Die Entwicklung der sogenannten exakten Naturwissenschaften, die durch die Auffindung numerischer Zusammenhänge zwischen Messungen charakterisiert ist, wurde entscheidend gefördert durch die Anwendung abstrakter mathematischer Methoden, die oft ohne Rücksicht auf eine solche Anwendung entwickelt wurden und einzig und allein dem Streben nach einer Verallgemeinerung logischer Konstruktionen entsprangen. Diese Situation tritt besonders deutlich in der Physik zutage, unter der man ursprünglich alles Wissen von der Natur, deren wir selbst ein Teil sind, verstand, später aber speziell das Studium der die Eigenschaften unbelebter Stoffe beherrschenden Grundgesetze“ (2).

Mit diesen „künstlichen Sinnesorganen der Technik“ sollen Eigenschaften der Welt aufgespürt werden, „die uns ‚von Natur aus‘ verborgen sind“ (3). Der Mensch greift zu einem unmenschlichen Maßstab. Damit wird der natürliche Erkenntnishorizont des Menschen „transzendiert“, überschritten.

Die Bevorzugung der mathematischen Erkenntnisgewinnung vor der sinnlichen reicht weit in die Antike bis zu den Vorsokratikern zurück:

„Von der Mathematik ausgehend stellte man das Denken höher als die Empfindung, die Intuition über die Beobachtung. Wenn die Sinnenwelt sich der Mathematik nicht fügt, um so schlimmer für die Sinnenwelt! Auf verschiedenen Wegen suchte man nach Methoden, dem mathematischen Ideal näherzukommen, und was dabei herauskam, wurde zur Quelle vieler metaphysischer und erkenntnistheoretischer Irrtümer. Diese Art von Philosophie beginnt mit Pythagoras“ (4).

Auf der mathematisch-technisierten Erkenntnismethode beruht die Herrschaft des „megatechnischen Pharaos“ (5). Sie bestimmt wissenschaftlich, technisch, sozioökonomisch und kulturell die Moderne.

Diese Entwicklung untersuchten Horkheimer und Adorno bereits 1944 in ihrer „Dialektik der Aufklärung“ (6): Der Anspruch der Aufklärung, durch rationale Erklärung der Welt die Natur zu beherrschen, Begriffe durch Formeln zu ersetzen und als Ideal ein System mit Abstraktion, Logik, Quantifizierung und Formalismus zu erstellen, verkehrt sich selbst zum Mythos. Herrschaft tritt in Gestalt vermeintlicher Vernunft auf, die die objektive Welt organisiert, sie jedoch tatsächlich zunehmend totalitär vereinnahmt. An diesem historisch-gesellschaftlichen Scheitelpunkt befindet sich erneut die „moderne Welt“ zu Beginn der 2020er-Jahre (7).

Wissenschaft ohne Dogma

Allerdings ist der zuvor gekennzeichnete „megatechnische Pharao“ noch recht jung. Er ist ein Kind der Aufklärung, man könnte auch sagen ein Bastard der Aufklärung: Gerade in jüngster Zeit hält er sich wieder am religiösen Krückstock fest oder wird wie eine Monstranz mit blutleerem Tabernakel vorgezeigt, um bestehende Herrschaftsformen und -methoden abzuschirmen.

Dabei sind wissenschaftliche Erkenntnisse keine Dogmen, sondern müssen sich immer erneut der Kritik stellen. Denn das Infragestellen von Theorien, Methoden und der sich daraus ergebenden Erkenntnisse zeichnet Wissenschaft aus. So beharrte Karl R. Popper als Wissenschaftstheoretiker auf der Aussage:

„Die wissenschaftliche Erkenntnis, das wissenschaftliche Wissen ist immer hypothetisch: Es ist Vermutungswissen. Und die Methode der wissenschaftlichen Erkenntnis ist die kritische Methode: die Methode der Fehlersuche und der Fehlerelimination im Dienste der Wahrheitssuche, im Dienste der Wahrheit“ (8).

Methodik der Wissenschaft

Dies scheint gegenwärtig in der veröffentlichen Debatte völlig in Vergessenheit geraten zu sein. Deshalb hier eine kurze Erinnerung an wesentliche methodische Schritte zur Ermittlung wissenschaftlicher Erkenntnisse:

1. Hypothesen


Um bestimmte Erscheinungen der Wirklichkeit zu erklären, werden Annahmen getroffen beziehungsweise Hypothesen (Unterstellungen) oder Behauptungen aufgestellt, die dann bewiesen oder widerlegt werden müssen.

Die Hypothesen müssen auf Objekte und Realität bezogen, widerspruchsfrei formuliert und intersubjektiv nachvollziehbar sein. Damit wird die Beobachtung auch wiederholbar. Die Laborbedingungen nun sind empirisch am besten zu erfüllen oder scheinen es zu sein, wenn die Objekte der Beobachtung isoliert werden und in präparierter — speziell geschaffener — Situation passiv vorfindbar sind, das heißt, abstrahiert von der konkreten Umweltsituation sind.

Allerdings gilt: Die künstliche oder Laborsituation geht nicht mit Alltagsrealität und -erfahrungen einher, auch nicht mit aktiven Prinzipien wie Leben und Wille oder gar mit der bis in die kleinsten Einheiten sich ständig im Wandel (9) befindenden „lebendigen Natur“.

So betonte schon Goethe:

„In der lebendigen Natur geschieht nichts, was nicht in Verbindung mit dem Ganzen stehe, und wenn uns die Erfahrungen nur isoliert erscheinen, wenn wir die Versuche nur als isolierte Fakten anzusehen haben, so wird dadurch nicht gesagt, dass sie isoliert seien, es ist nur die Frage, wie finden wir die Verbindung dieser Phänomene, dieser Begebenheiten“ (10).

2. Hypothesenprüfung


Zur Überprüfung von Hypothesen müssen konkrete methodische Schritte angegeben werden wie klar definierte Raum-Zeit-Angaben und Anzahl der Versuche. Auch muss im Operationalisierungsprozess sichergestellt werden, dass sich die Beobachtungen auf die Objekte der Hypothesen beziehen.

Bei der Hypothesenprüfung ergeben sich mancherlei Fallstricke:

a) Hypothesen, die versuchen, Annahmen über komplexe Sachverhalte aufzustellen, haben größte logische Schwierigkeiten, kausale Beziehungen zu beschreiben, um folglich kausale Aussagen zu treffen. Das gilt für Hypothesen zu allen Naturerscheinungen, wie sie gegenwärtig beispielsweise in der Kohlendioxid-„Klima“-Diskussion politische Brisanz gewonnen haben. Dies obwohl schon seit Jahrzehnten in der Ökologiebewegung bekannt war, dass der atmosphärische Kohlenstoffkreislauf „nur ein winziges Zipfelchen“ des ganzen Netzes, das zur ausgewogenen Strahlenbilanz des Planeten führt, ausmacht:

„Wobei wir schließlich auch noch zu bedenken haben, dass die irdische Strahlungsbilanz ihrerseits wieder nur einen vergleichsweise winzigen Ausschnitt aus dem Gesamtsystem darstellt, das wir meinen, wenn wir von Ökosphäre (oder Biosphäre) reden. Wir haben dieses System gerade erst entdeckt sowie die Tatsache, dass wir von seiner kunstvoll aufrechterhaltenen Stabilität existenziell abhängen. Darüber hinaus aber wissen wir von ihm so gut wie nichts“ (11).

In der Tat gibt es Probleme im Umgang mit komplexen Sachverhalten. Hinzu kommt die Erkenntnis der Quantenphysik, dass eine klare Trennung zwischen subjektiver und objektiver Wahrnehmung nicht mehr streng möglich ist (siehe Wellen-Teilchen-Dualismus). Deshalb werden in der Mikrophysik Kausalitäten durch Korrelationen, physikalisch-chemische Naturgesetze durch statistische Gesetze ersetzt (12). So resümiert der bedeutende Physiker Pascal Jordan (1902 bis 1980): „(...) die Naturgesetze, die wir in der Mikrophysik antreffen, sind nicht mehr determinierende Gesetze, sondern sie sind statistische Gesetze“ (13).

Dies gilt auch für die Biogenetik und die Genomforschung, wie Craig Venter (geboren 1946), der Gegenspieler des Leiters des staatlich geförderten US-Humangenomprojekts Francis Collins (geboren 1950), hinsichtlich der klinischen Bedeutung der Genomforschung erklärt: Diese sei unbedeutsam, „weil wir aus dem Genom in Wirklichkeit nichts erfahren, außer Wahrscheinlichkeiten“ (14).

Wird diese Feststellung verkannt und/oder diese statistisch gewonnenen Ergebnisse als Naturgesetze unreflektiert verallgemeinert, eröffnen sich im wissenschaftlichen Bereich weite Felder subjektiv-spekulativer Interpretationen.

b) Ein weiterer logischer Fallstrick ergibt sich hierdurch: Bei komplexen, oft mathematisierten Theorien, aus denen Hypothesen abgeleitet und mit oft komplizierten Techniken oder Hilfsmitteln nachgewiesen bezeihungsweise bewiesen werden sollen, ist der sinnliche Realitätsbezug als Wahrheitskriterium nicht gegeben, sodass die Gefahr besteht, dass die Objekte der Hypothese nur scheinbar überprüft werden:

„In den entsprechenden Experimenten wird das Phänomen unter großer Anstrengung mit modernster Technologie überhaupt erst erzeugt. Wir erschließen ständig experimentell neue physikalische Wirklichkeit. Dabei machen wir durch experimentelle Anordnungen vermittelte Erfahrungen. Die unmittelbaren Erfahrungen beziehen sich nach wie vor nur auf die Zeigerausschläge der Messinstrumente, auf die ausgedruckten Messkurven und ähnliche Beobachtungsdaten“ (15).

So lassen sich in der Atomphysik Teilchen von Atomen wie Quarks nur mittels technisch hoch apparativer Teilchenbeschleuniger (SLAC-Stanford Linear Accelerator Center oder CERN-Europäische Organisation für Kernforschung) erkennen, vielleicht sogar lediglich erzeugen, aber nicht isolieren, wie der theoretische Physiker Harald Fritzsch (1943 bis 2022) eingestehen musste:

„Bis heute hat man keine Evidenz dafür, dass es die Quarks und Gluonen wirklich als freie, direkt beobachtbare Teilchen gibt. (…) Man kann die Quarks sehr wohl innerhalb des Protons ‚sehen‘, zum Beispiel mithilfe des SLAC-‚Mikroskops‘, aber es ist nicht möglich, sie von anderen Quarks zu isolieren“ (16).

Die Bedeutung von technischen Apparaten/Apparaturen gilt nicht nur für die moderne Physik, sondern auch für die moderne Biologie/Biochemie sowie die auf ihr beruhende Medizin: Dies ist Hintergrund der bereits seit mehr als 150 Jahren geführten historischen Debatte zwischen Max von Pettenkofer (1818 bis 1901) und Robert Koch (1843 bis 1910) und der gegenwärtig erneut aufkommenden Diskussion um die Existenz beziehungsweise den Nachweis von Viren. Die Virendefinition selbst und ihre Umdeutung hing entscheidend von der Verfeinerung der Mikroskopie (UV-Licht, Elektronenstrahlen) ab, und die Viren-Interpretation — als lebendige oder tote Materie — folgte der Konjunktur herrschender Wissenschaftsdisziplinen wie Vererbungslehre, Biochemie oder Genetik (17).

c) Darüber hinaus ist im Zusammenhang mit der Prüfung von Hypothesen die Anzahl der Beobachtungen und die Beteiligung möglichst anerkannter Fachwissenschaftler bedeutsam. Dies veranlasste etwa James Watson ( geboren verkenn1928) zusammen mit Francis Crick (1916 bis 2004), die die biochemischen Forschungsergebnisse von Erwin Chargaff (1905 bis 2002) über die Paarung von Nukleinbasen nutzten, um das Doppelhelixmodell der Molekularstruktur der Desoxyribonukleinsäure für die Erbsubstanz (1953) zu entwickeln, dazu, Forschungsverbände mit möglichst vielen Experten zu bilden, die möglichst viele Daten erzeugen und zur Verfügung stellen. Dabei entwickelte sich nicht nur die Molekularbiologie als neuer Wissenschaftszweig, sondern auch die Gentechnik: Mit deren

„Hilfe werden die Karten zwischen Kapital (speziell Venturkapital), Industrie und Wissenschaft neu gemischt. Forscher können und wollen heute nicht mehr nur die Natur erkennen, sie wollen und können damit jetzt auch viel Geld verdienen (...)“ (18).

Gegen diese mit öffentlichen Mitteln geförderten „Genklempner“ (19), die Naturwissenschaft im Interesse kapitalistischen Wachstums vereinnahmen, wurde schon vor Jahrzehnten polemisiert. Die mNRA-Technologie, die seit der Finanzkrise 2008 und mit der sogenannten „Corona“-Pandemie weltweit staatlich gefördert wurde, veranschaulicht diesen Tatbestand nachhaltig (20).

Grundsätzlich ist für Menschen die Anzahl aller Beobachtungen endlich. Folglich können „Unendlichkeitsaussagen“ auch nicht überprüft werden. Theorien mit diesen Merkmalen sind unbrauchbar: „Alle scheinbaren Unendlichkeiten in den benutzten mathematischen Theorien sind nichts anderes als Idealisierungen, hinter denen wir unsere Unwissenheit verbergen“ (21).

3. Interpretation


Beobachtungs- und/oder Erfahrungsdaten benötigen eine Erklärung oder Interpretation. Diese erfolgt mittels einer Theorie. Theorien fallen nicht vom Himmel, sondern basieren auf Verstandesleistungen:

„Der Verstand schöpft seine Gesetze (...) nicht aus der Natur, sondern schreibt sie dieser vor“ (22).

Das heißt: Der Verstand schafft das Beziehungs- und Ordnungssystem für die Sinneseindrücke. Dementsprechend formuliert Popper in Anlehnung an Kant:

„Eine Theorie oder ein Satz ist wahr, wenn der von der Theorie beschriebene Sachverhalt mit der Wirklichkeit übereinstimmt“ (23).

Auch diese Aussage ist nicht unumstritten, geht sie doch davon aus, dass Theorien ein wahres Wissen der Realität liefern könnten. Dabei werden „die von einer theoretischen Ansicht in unserer Wahrnehmung hervorgerufenen Formen mit einer von unserem Denken und unseren Anschauungsweisen unabhängigen Realität“ (24) vermischt.

Die Nichtidentität von Natur und Anschauung, von Denken über die Natur und die Natur selbst, von Realität und Empirie ist eine grundlegende Erkenntnis klassischer materialistisch-dialektischer Philosophie:

„Aber wie kommt die Philosophie zur Empirie? Dadurch, dass sie sich nur die Resultate der Empirie aneignet? Nein, nur dadurch, daß sie die empirische Tätigkeit auch als die philosophische Tätigkeit anerkennt — anerkennt, dass auch das Sehen Denken ist, auch die Sinneswerkzeuge Organe der Philosophie sind“ (25).

Außerdem ist die Wirklichkeit und ihre Wahrnehmung nicht unbeeinflusst vom Menschen. Die Quantenphysik beruht sogar auf der Einsicht, dass physikalische Vorgänge durch Beobachtung (Messung) beeinflusst werden.

Demnach sind Theorien nicht zeitlos und wertfrei sondern sozioökonomisch, gesellschaftlich, herrschaftlich und kulturell eingebunden und auch mit ontologischen Aussagen verknüpft: Sie werden von Hintergrundüberzeugungen geleitet. „Die Hintergrundüberzeugungen spiegeln den Zeitgeist wider“ (26).

Verantwortung der Wissenschaft

Der Zeitgeist der Gegenwart, bereits von Goethe als „der Herren eigner Geist, in dem die Zeiten sich bespiegeln“, erkannt, umhüllt sich in der Aussage „Die Wissenschaft sagt ...“ mit einem mathematisch-technisiert determinierten Gewand, das zudem Einzelerkenntnisse noch dogmatisiert. Damit können die gesellschaftlichen Verhältnisse verfestigt und gegen jedwede Kritik geschützt werden. Zudem gilt:

„Alle Sicherheiten in der Erkenntnis sind selbstfabriziert und damit für die Erfassung der Wirklichkeit wertlos“ (27).

Mit der öffentlich oft als Argument ausgegebenen Floskel „Die Wissenschaft sagt“ vermag relativistische Verantwortungslosigkeit gelobpreist und Entscheidungsträger von jeder Verantwortung freigesprochen werden.

Dabei gehörte das Hinterfragen von zu Ideologien geronnenen Theorien vor gar nicht so langer Zeit einmal zum kritischen Allgemeinwissen auch von Hochschul- Intellektuellen:

So warnte schon vor vielen Jahren Hans-Peter Dürr (1929 bis 2014), promovierter Kernphysiker, Doktorand bei Edward Teller (1908 bis 2003), von 1958 bis 1976 Mitarbeiter von Werner Heisenberg (1901 bis 1976), vielfältiger Preisträger wie zum Beispiel des Alternativen Nobelpreises, als er 2014 zur Gentechnik ausführte:

„Jetzt versuchen wir, die Biologie so gut zu machen wie die Physik, sodass wir sie begreifen können. Ich sag: Nein, das geht genau so nicht, weil die Physik, die kann ja das Lebendige nicht verstehen. Jetzt wollt ihr das Lebendige begreifbar machen, und dann werden wir alle Roboter“ (28).

Er kritisierte besonders die vom einflussreichen genetischen Entwicklungsbiologen Hubert Markl (1938 bis 2015) 1995 in einem Essay im Spiegel (48/1995, (29)) vorgetragene abstruse Vorstellung, der Natur den Krieg zu erklären und sich zur „Widernatürlichkeit“ zu bekennen. Empört äußerte er:

„Das ist ja schrecklich. Zur Widernatürlichkeit. Für mich ist es die Pflicht, dass wir lernen müssen zur Natürlichkeit, das alles da draußen dasselbe ist — das haben wir gelernt.“

Genau diese Denkfigur, der Natur den Krieg zu erklären, wurde von Jürgen Habermas (geboren 1929) in der sogenannten Virus-SARS-CoV-2-Pandemie 2021 wieder aufgegriffen, um die Einschränkung der Grundrechte durch die Regierung zu rechtfertigen und den „totalen Corona-Staat“ zu propagieren (30).

Tatsächlich zeigt sich die sogenannte moderne Naturwissenschaft auch sprachlich lebensfeindlich und kriegerisch: Es werden Atome zertrümmert, Zellkerne aufgesprengt, Protonen zerschossen, Zellen aufgeschnitten und zerschnitten, man schießt mit Röntgen-, Laser- und Elektronenstrahlen auf schockgefrorenes und leitfähig gemachtes Lebendiges et cetera.

Jahrzehnte zuvor prangerte dagegen der Chemiker Walter E. Richartz (1927 bis 1980) die institutionalisierte Wissenschaft an. Aufgrund seiner Erfahrung im US-amerikanischen Wissenschaftsbetrieb kritisierte er in seinem Roman über „Westliche Wissenschaft“ (1980) die „Festung der Engstirnigkeit“, in der „Benutzbarkeit zum Kriterium“ wird, sobald und wenn es um angewandte Forschung geht. „Was nicht ins Bild passt, wird ausgesperrt“, Erfolg wird zum „Kriterium der Richtigkeit“. Das Verhältnis von Mensch und Natur werde verkehrt und führe über die „Naturverwüstung“ zur „Menschenverwüstung“ (31).

Und der Philosoph und Wissenschaftstheoretiker Paul Feyerabend (1924 bis 1994) sieht als Ursache der sich zunehmend auftuenden „Kluft zwischen Natur und Mensch“ speziell die „überhebliche Ignoranz vieler Intellektueller“, die die „Vorstellungen vieler Menschen beiseite schieben, die ihnen nicht in den Kram passen“. Der Autor bekennt polemisch, dass ihn „Tausende von akademischen Rotznasen“, die „mit Wohlgefallen ihre großen Gehälter einkassieren, ohne Dankbarkeit, ohne ein Gefühl der Verpflichtung jenen Menschen gegenüber, die ihr Vertrauen in sie setzen, ohne einen Sinn für Perspektive“ wütend machen (32).

„Was ihr den Geist der Zeiten heißt,
Das ist im Grund der Herren eigner Geist,
In dem die Zeiten sich bespiegeln.“

(J. W. von Goethe)