Der Mensch als Toastbrot
Für den Menschen ist die Moderne eine steil abwärts führende Rutsche, die ihn von seinen wesensmäßigen Potenzialen weggleiten lässt.
Es ist mittlerweile außerordentlich schwierig, zur Wirklichkeit, in der wir leben, noch etwas zu sagen, das noch nicht gesagt worden ist. Etwas herauszustellen, das kaum oder nur wenig thematisiert wird. Thorsten Krawinkel gelingt das auch diesmal, indem er das Narrativ des Fortschritts fundamental zertrümmert. Was als Sieg der Ratio gefeiert wurde, stellt sich als das heraus, was es in seinem Kern immer schon war: Verkümmerung. Die Totalverblödung, die wir heute ernten: nichts weiter als logisch. Ein sprachlich umwerfender Galopp durch die Neuzeit.
Die Szene ist ikonographisch, vielfach geschildert in der hehren Erzählung der Neuzeit und in diversen Gemälden festgehalten: Galileo Galilei sitzt im Florenz der Renaissance vor seinem Fernrohr, um den Priestern das von ihm entdeckte Kreisen einiger Monde um Jupiter zur Anschauung zu bringen. Doch die Hüter der Wahrheit jener Epoche weigern sich durch Galileis raffiniert konstruiertes Teleskop auch nur hindurch zu schauen.
Was für ein aufgewecktes Kerlchen war dieser progressive Forscher doch und wie ignorant gaben sich die spätmittelalterlichen Kirchenherren. Kein Wunder, dass sie ihren Zenit lang überschritten hatten und die Zukunft den Neugierigen, den Forschern, den rationalen Analysten gehören würde.
Das Glück der Moderne mit all ihren großartigen Errungenschaften wie Anästhesie, Waschmaschine und Elektroroller sollte uns von da an bevorstehen,
Vernunft, Aufklärung und all das großartige Zeug eben, das uns so wunderbar weit gebracht hat — also dort hin, wo wir heute stehen...
Doch einige erstaunliche, für manchen Zeitgenossen sogar unbequeme, Nebenwirkungen brachte das damalige new normal ebenfalls mit sich, denn es dauerte nicht lange, da stammte der Mensch plötzlich vom Affen ab und nur ein paar mentale Abwärtsspiralen später war die Welt plötzlich aus einem grotesk absurden Urknall entstanden.
Wie könnte man als Krone der Schöpfung mehr am Boden liegen, als mit solch nihilistischer Mythologie im Rücken. Nichtigkeit und Leere als Sakramente eines zufälligen, sinnentleerten Daseins. Nichtigkeit und Leere als Alpha und Omega eines orientierungslosen Werden-und-Vergehens. Was soll da noch retten, außer der Griff zur Flasche, der obsessive Blick auf die Bundesligatabelle oder der beherzte Kopfsprung mitten hinein in Lust und Rausch dieser Kirmes namens Erdenleben — eigene Kompensationsmethoden bitte einfügen...?
Süchte gibt es ja reichlich und bekanntlich sind manche tabu und kriminell, während andere gesellschaftlich völlige Akzeptanz erfahren. Die eigentliche Plage des neuen Jahrtausends allerdings, die heute so weit verbreitete Denksucht, wird nicht nur in ihrer Existenz geleugnet, nein in Wissenschaftskreisen wird ihrer sogar ganz besonders und seit Corona erst in vollem Ausmaß hingebungsvoll gehuldigt.
Gar nicht so weit hergeholt, zu sagen, seit Galilei und Kopernikus haben wir im Grunde lediglich die GEOzentrik des Weltraums durch die EGOzentrik des Welt-Innenraums ersetzt. Mit dem Verschwinden jener, trat diese auf den Plan und ihren glorreichen Siegeszug an.
Ein halbes Jahrtausend Wissenschaft und Aufklärung — und das Resultat ist am Ende kaum mehr als die Vertauschung zweier Buchstaben von: GEO zu EGO — da ham wa abba echt ma was geschafft, Tusch und Halleluja!
Kopernikanischer Salto rückwärts
Ganz auf dieser Linie lag ein Gespräch mit einer Freundin nach Absetzen der Maske vorm örtlichen Supermarkt. Auf ihr: „Ich schaff das überhaupt nicht, das alles in mein Weltbild rein zu bekommen“ — erwidere ich: „Dieses neue Weltbild kann man auch nicht in sich hinein bekommen — tatsächlich geht es darum, dich in das neue Weltbild hineinzukriegen. Und wenn’s schwierig wird, muss man sich eben mal nicht so anstellen und ein bisschen quetschen, bis der Deckel irgendwie zugeht.“
Subjekt und Objekt — wer ist was, was ist wer, das sollte man in diesen Zeiten für sich klar bekommen.
Demokratie war gestern. New normal ist nun das Gravitationszentrum des Planeten. Ein kopernikanischer Salto rückwärts quasi, Zirkus Roncalli lässt grüßen — und jetzt ist gefälligst Ruhe im Kartong! Marsch, marsch auf die zugeteilte Umlaufbahn, Untertan: ID2020-34-r2d2-0815!
Die 34 am Anfang meiner neuen ID zeigt die individuellen Freiheitspunkte (IFP) im Social-Score-System (SSS). Subversive Gespräche, häretische Essays führen natürlich zu deftigen Abzügen. Unterhalb von 50 Points gilt: Leben verboten — überleben erlaubt und so ist für mich ein Platz weit draußen ganz am Rand des Happy-Future-Universums vorgesehen, weitab vom allen Party-Hotspots der supersmart durchstartenden Wellness- und Hygienesekte.
Das Netz zieht sich zu
Im Anfang ist bekanntlich bereits alles enthalten — und den Beginn des Internets in Good old Germany kann man rückblickend vielleicht auf den damals schon ziemlich dummen Spruch unseres Bundes-Boris-Besenkammer-Beckers datieren: Bin ich schon drin? fragte Bobbele damals ganz unschuldig staunend. Mit ganz anderem Spin ist der Satz für den Champion ja grad wieder topaktuell geworden — das Leben schreibt Geschichten... Kann sich doch keine KI ausdenken! Was hätte man also erwarten sollen vom supadupa WorldWideGlobalPeaceDorfWeb?
Nach 20 Jahren ist Ebay langweilig, Google diabolisch und Wikipedia zum dogmatischen Wächterrat einer ehemals halbwegs freien analogen Wirklichkeit geworden.
Und nun, da der große Fischschwarm namens Menschheit eingefangen ist, beginnt das Netz sich machtvoll zuzuziehen. Sagte Gates nicht neulich erst in den Tagesthemen: „Wir werden sieben Milliarden Menschen einloggen und das Netz dann einholen?“ Menschenfischer soll man ja sein und Bill ist doch der Auserwählte — Halleluja!
Biodigitale Konvergenz
Es ist alles schon in der Pipeline. Das Biologische soll digitaler und das Digitale biologischer werden. Der Chip im Hirn, das Hirn im Chip, wo ist bald noch der Unterschied? Das Internet der Körper ist bereits ganz konkret anvisiert und wird zu einer neuen Form von Leibeigenschaft führen. Wer hätte das gedacht!
Offenbar wächst mal wieder das zusammen, was schon immer zusammen gehörte: Mensch und Doofheit! Doch wie werden wir frohlocken, wie werden wir erleichtert jubeln, erlöst von dieser Bürde, diesem Neandertaler des 20. Jahrhunderts mit seiner zwar irgendwie niedlichen aber schon auch reichlich peinlichen Rührseligkeit, dieser sentimentalen Verirrung in Nächstenliebe, Herz und Mitgefühl.
Sarkasmus off — Der Tod der Aufklärung unter Laborbedingungen spielt sich gerade vor unser aller Augen ab.
Wie die Figuren aus dem Pink-Floyd-Video tapern wir hinein in die Verwertungsmaschine eines stickstoffgekühlten Neofeudalismus.
Die Theosphäre von gestern feiert dabei eine gespenstische Auferstehung als Technosphäre von morgen und übermorgen. In den Clouds der Konzerne sitzen die neuen Götter: Jeff, Bill, Elon, Mark, you name it — wo sind die Ladys, by the way...? Wo ist die Frauenquote für Superreiche?! Gönnerhaft und gütig werden die neuen Sonnenkönige jedenfalls auf ihre Smartcitys hinabschauen, auf ihre bis zum Horizont reichenden Salatkopffelder — also auf uns — und dann freuen sie sich auf die Erntezeit. Unsereins kratzt sich am Salatblatt und denkt: Bin ich schon dran?
Luther wird dann wieder zurückübersetzt in das hermetische Latein von heute. Evangelien aus Nullen und Einsen werden uns leiten. Wahrlich, ich sage euch: 01001101-00111001! Psalme im Alphabet der Nucleotidbasen werden uns verzücken. Wenn ich auch wandere im finstren Tal: CGTAGC-ACGTG — REvolution statt Evolution, lautet das Motto! Der Mensch wird wieder zum Schaf, die Gesellschaft wird wieder zur Herde und sie wird preisen die Hohepriester aus IT und Biologie, wenn sie die heiligen Schriften für uns auslegen. Ostern und Weihnachten werden dann endlich auf einen Tag fallen und auch Ihr, liebe Leser:innen und LeserInen werdet sehen: Es wird gut sein. Alles wird schon bald sehr, sehr gut sein — im Menschenpark. Operation gelungen, Patient tot. So sei es, Halleluja, also — Mähhh . . .
Der Mensch als Toastbrot
Es mag schon 2015 gewesen sein. Ich lag spät abends im Halbschlaf vor der Glotze und verfolgte mit einem Auge irgendeine BioGenFutureDoku. Und seltsamerweise ist mir diese eine Sequenz seitdem nie mehr aus dem Sinn gegangen: Ein paar weiß bekittelte Hornbrillenmenschen stehen vor weiß gekachelten Wänden und zeigen auf ein ebenso weißes Brot, auf einem abermals weißen Tisch. Jeden einzelnen Parameter, der dieses Brot ausmacht, gedenken die Forscher vollständig zu enträtseln, worauf sie dann sämtliche Eigenschaften vom Geschmack bis zu Haptik und Haltbarkeit nach Belieben und präzise einstellen können, souffliert dazu eine scharfsinnig und tiefgründig klingende Stimme aus dem Off.
Infantile Allmacht, null Kontakt zum lebendigen und pathologischer Größenwahn! Kleinkinder bauen sich ihre Welt aus Legosteinen, hab ich damals noch gedacht.
Und: Ausgerechnet das heilige Brot müssen sie so entweihen... Vom: Nehmt und esset alle davon, dies ist mein Leib, der Eucharistie, zur maximalen Entzauberung im Sterillabor der Biotech-Herätiker... Dazwischen liegen 500 Jahre, in denen sich die Raupe Mensch unersättlich durch Welt, Wissen und sich selbst hindurchgefressen hat. Folgt nun etwa die magische Verwandlung in den wunderschönen Schmetterling? Oder erstarren wir tiefgekühlt im Kokon der transhumanen Exoskelette, der Tech-Komponenten im globalen Überwachungskapitalismus? Werden wir zum Kopfsalat auf dem virtuellen Datenacker, zum molekular vermessenen Toastbrot gar? Müssen wir den analogen Menschen nun als Weltkulturerbe bei der UNESCO schützen?
Ich glaube tatsächlich, jemand sollte die Sache schleunigst in die Hand nehmen! Als Losung, als Motto unseres Antrags schlage ich diese Zeilen aus Born to be wild vor, dem Kultsong aus Easy Rider — Klassiker aller antitotalitären Freiheit und Ekstase:
Yeah, we gonna make it happen
Take the world in a love embrace
Fire all of your guns at once
And explode into space…
Redaktionelle Anmerkung: Dieser Beitrag erschien zuerst am 18. Juni 2022 in der 94. Ausgabe der Wochenzeitung Demokratischer Widerstand.