Der letzte „Wert“ des Westens
Mindestens jede Viertelstunde stirbt ein ukrainischer Soldat an der Front, jedoch nicht für unsere Werte — sondern ihretwegen.
Wie viele ukrainische Soldaten sterben eigentlich täglich? Eine kurze Recherche führt — zu nichts. Denn die Zahlen variieren irgendwo zwischen 100 und 1.200 toten Kämpfern am Tag. Eine Analyse frei zugänglicher Quellen in den sozialen Netzwerken hat bereits im Oktober 2022 ergeben, dass um die 400.000 ukrainische Soldaten gefallen sind. Trifft das zu? Sind Meldungen bei Facebook, Twitter und Co. glaubwürdig? Wie dem auch sei, verifizierbare Zahlen gibt es keine. Was wir aber wissen: Es sterben in jedem Fall uniformierte Ukrainer. Vorsichtig geschätzt, wenn wir wirklich nur von 100 Toten am Tag ausgehen, jede Viertelstunde einer. Sie tun es nicht umsonst, wie man hierzulande oft liest und noch häufiger hört: Sie sterben für uns und unsere Werte. Das stimmt natürlich nicht, beruhigt aber die Gemüter. Die bittere Wahrheit ist, dass sie nicht für, sondern wegen uns sterben. Nicht für unsere Werte, sondern wegen dieser Werte. Das kann auf Dauer eigentlich nicht gut gehen, irgendwann erkennen das die Ukrainer — die, die dann noch da sind, werden wahrnehmen, dass sie ausgenutzt wurden.
Die nächste Eskalationsstufe wird zur Normalität
Der Bundespräsident saß neulich im sommerlichen Berlin, zu Gast beim ZDF — es war mal wieder Zeit für ein Sommerinterview. Es ging unter anderem um Streumunition, um Streubomben. Washington hat entschieden, diese verstümmelnde Waffengattung in die Ukraine zu schicken. Seit 2010 gibt es ein internationales Abkommen, das diese Waffen ächtet — 111 Nationen und der Heilige Stuhl haben es unterschrieben. Inklusive der Bundesrepublik. Die Vereinigten Staaten allerdings nicht — wie so oft.
Washington möchte Wladimir Putin in Den Haag sehen, vor dem Internationalen Strafgerichtshof: Einer Justiz, die die USA für sich selbst nicht anerkennen. Das ist freilich ein alter Hut und keine Neuigkeit, aber zeigt immer wieder die doppelmoralische Kontinuität im sich anbahnenden Weltenbrand, die es zu erwähnen lohnt.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier jedenfalls sollte sich im ZDF zu Streuwaffen äußern. Er schrie nicht auf vor Freude: Das ist die gute Nachricht. Die schlechte Nachricht ist, dass er, die höchste Person (m, w, d) im Staate, für diese Waffengattung keine verurteilenden Worte fand.
Er hätte jedes Recht dazu gehabt, denn die Streubomben-Konvention gilt als Völkerrechtssubjekt — und genau dieses Völkerrecht will Deutschland, speziell die deutsche Außenpolitik, gewahrt wissen. Neulich erst erklärte Annalena Baerbock, die, die vom Völkerrecht kommt, dass es verschärft werden müsse. Das sollte sie mal ihrem Bundespräsidenten sagen.
Aber der war ja auch nur derjenige, den das ZDF schnell zu fassen bekam. Die Bundesregierung urteilt genauso wie Steinmeier: Man könne nichts machen; Achselzucken eben, dumm dreinschauen. Die sonst so tönende Außenpolitik, hier ist sie ganz klein mit Hut. Und ehe man sich versieht, spricht man über Streubomben so, als seien sie alternativlos. Kaum ist die Bombe geplatzt, also jene, dass die Ukraine jetzt auch streuende Waffen erhält, wird die nächste Eskalationsstufe zur Normalität — und man spricht von ihr, als sei es nie anders gewesen.
Die Russen setzen sie ja auch ein, diese Streumunition, heißt es plötzlich. Als mache es das besser. Tun die Russen das? Die einen sagen so, die anderen anders — wie immer im Krieg, wie stets, wenn kognitive Kriegsführung sich die Berichterstattung unter den Nagel reißt. Auszuschließen ist es freilich nicht, denn Krieg ist eine Schule der Grausamkeit und der fortwährenden Eskalation. Außenstehende könnten diese todbringende Logik unterbrechen, denn sie entziehen sich dieser Dynamik. Wenn sie denn wollen. Aber wir tun es nicht — obwohl: Außenstehende sind wir schon lange nicht mehr.
„Maximal gehaltvoll“ aufrüsten …
... sagt selbst der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj. Nicht direkt, nicht gewollt, aber er hat ja oft ein Händchen dafür, Dinge auf den Punkt zu bringen, die er gar nicht so zur Sprache bringen wollte. Letzte Woche forderte er, dass die internationale Unterstützung „maximal gehaltvoll“ sein müsse, gerade in Bezug auf Waffenlieferungen — davon sei das Ende des Krieges abhängig. Damit gibt er einen Plan für das Ende des Krieges vor: Keine Lieferungen und der Krieg findet einen Schlusspunkt. Man muss es nur tun, indem man es nicht mehr tut: Liefern.
Aber offenbar kann es gar nicht zu viele Waffen für die Ukraine geben. Jede Woche, ja schier jeden Tag fläzen sich Experten und solche, die sich als Lobbyisten Expertisen nachsagen lassen, in den postdemokratischen Sesseln öffentlich-rechtlicher Bedürfnisanstalten. Ob beispielsweise Norbert Röttgen überhaupt nicht heimgeht oder gleich auf dem Mainzer Lerchenberg übernachtet, um schnellstmöglich in ein Studio eilen zu können, ist bis heute nicht hinlänglich geklärt.
Und immer geht es um die Ukrainer, um dieses — ja, man muss es so sagen — auserwählte Volk. Um diese Edlen aus Osteuropa, die nicht einfach von einer korrupten Regierungsclique unter freundlicher Mithilfe westlicher Korruptionsagenten an der Front verheizt werden, sondern für das große Ganze ihr Leben lassen.
Nun eventuell auch noch im friendly fire, denn die Streubomben haben die teuflische Eigenschaft, dass sie recht beliebig alles durchschlagen, was im Weg steht. Kollateralschäden beim Einsatz dieser Waffengattung sind nicht einfach nur leidige Nebeneffekte, sondern bereits einkalkuliert. Aber jeder Ukrainer, der von einem Schrapnell getroffen wird, egal ob von einem russischen oder einem westlichen, kommt aus guten Gründen zu Schaden: Für unsere Werte — und dafür, dass sich Norbert Röttgen auch weiterhin ziemlich wichtig nehmen darf.
Vermutlich können viele diese Argumentation mit unseren Werten, die ausgerechnet in der Ukraine verteidigt werden, nicht mehr hören. Millionenfach wurde in diesem Land von kritischen Geistern gefragt, was genau diese Werte denn sein sollen. Selbst wenn jemand eine schlüssige Antwort auftischen könnte, wonach dort wirklich etwas „für uns“ getan würde, bleibt die Frage: Ist es das wert? Jede Viertelstunde ein toter ukrainischer Soldat, ein toter Vater, Sohn, Bruder oder Enkel? Mindestens. Womöglich sind es sogar mehr.
Die Ukrainer werden uns verfluchen
Herrscht in den Köpfen derer, die diesen Krieg auf dem Feld der Ehre beschwören, wirklich der Gedanke vor, die Ukrainer werden uns — dem Westen, uns Deutschen — auf alle Zeit dankbar sein für das, was wir eskaliert und was sie ausgebadet haben? Glaubt wirklich irgendein Deutscher, dass Ukrainer noch in zehn Jahren anerkennend den Hut ziehen, wenn er sagt, er käme aus Deutschland? Das ist freilich eine mögliche Option für die Zukunft. Aber es kann glatt andersherum laufen: Wenn sich nach diesem Krieg die Erkenntnis durchsetzt, dass wir die Situation für die Ukrainer ins Unermessliche verschlechtert haben, könnten wir ein Problem bekommen.
Man muss jetzt nichts beschwören, aber ein enttäuschtes Volk, das dann mit den Russen als Nachbarn wieder irgendwie ins Reine kommen muss, während der Teil des Westens, der besonders eloquent dem Krieg das Wort redete, verhältnismäßig weit weg ist — vor so einem enttäuschten Volk sollte man sich hüten. Zumal dann, wenn es noch Waffenbestände hat, die aus unseren Lagern stammen.
Man frage mal die Amerikaner, deren einstige „Waffenbrüder“ aus Afghanistan kamen und danach in die Staaten. Direkt in Hochhäuser geflogen.
Nochmal, so muss es nicht kommen. Aber es kann. Und man sollte das berücksichtigen, wenn man jetzt so tut, als seien möglichst brutale Waffenarten nun unmöglich auszuschließen. Sie eskalieren den Krieg — eine Binsenweisheit, die man dieser Tage nicht oft genug wiederholen kann. Sie animieren auch die Gegenseite hochzurüsten, noch brutaler vorzugehen.
Das kann, das wird nicht spurlos an dem Verhältnis der Ukrainer zu Deutschland vorbeigehen. Denn wir opfern diese Menschen — vermutlich deshalb, weil dieser Krieg der letzte gemeinsame Nenner einer Europäischen Union ist, die längst schon an den Anfang ihres Endes geraten ist.
Der Krieg ermöglicht nochmal ein gemeinsames Leitmotiv, einen Grund für europäischen Zusammenhalt. Wenn er beendet wird, verliert sich das organisierte Europa wieder in Debatten, die belegen, wie fremd man sich auf dem Kontinent geworden ist.
Die Ukrainer verteidigen vielleicht in der Tat unsere Werte. Denn solange sie kämpfen und sterben, verharrt die EU in einem Vakuum, in dem Fragen über Fortführung und weitere Existenz ausgeblendet werden können. Die Simulation europäischer Einigkeit und europäischen Demokratieverständnisses, sie werden in der Ukraine verteidigt.