Der lauwarme Krieg
Die Informationsstelle Militarisierung zeigt auf, wie neue Führungsstrukturen bei der Bundeswehr Truppe und Verwaltung kriegstüchtig machen sollen.
„Kriegstüchtigkeit als Handlungsmaxime“ (1) — diese Aussage aus den Verteidigungspolitischen Richtlinien aus dem November 2023 steht bisher wie keine andere für die Marschrichtung, die Verteidigungsminister Boris Pistorius der Bundeswehr verordnet hat. Am 4. April 2024 traten er, Generalinspekteur Breuer und Staatssekretär Hilmer in Berlin vor die Presse, um die Strukturreform für die „Bundeswehr der Zeitenwende“ vorzustellen. Hinter den sehr allgemein klingenden Ankündigungen verbirgt sich eine brandgefährliche Strategie: „Vorwärts, marsch!“ in Richtung Krieg.
Von Martin Kirsch
Auch hier steht die sogenannte Kriegstüchtigkeit im Mittelpunkt. Die Führungsstrukturen der Bundeswehr sollen schlanker, die Hierarchien und Befehlsketten klarer und bisherige Doppelstrukturen abgebaut werden. Ausgerichtet wird die neue Struktur an der US- und NATO-Doktrin namens Multi-Domain-Operations. Dieses Konzept für Großmachtkriege der Zukunft sieht eine enge Verzahnung der verschiedenen Dimensionen der Kriegsführung vor.
Im Zentrum der militärischen Strukturen stehen daher die drei bereits bestehenden Teilstreitkräfte Heer für die Dimension Land, Luftwaffe für die Dimension Luft- und Weltraum und Marine für die Dimension See. Zudem wird der bisherige Organisationsbereich Cyber- und Informationsraum (CIR) für die gleichnamige Dimension zur vierten Teilstreitkraft aufgewertet.
Alle weiteren dimensionsübergreifenden Strukturen der Bundeswehr werden dem stellvertretenden Generalinspekteur unterstellt und grundlegend neu organisiert. Alle Einsätze der Bundeswehr werden künftig aus einem Operativen Führungskommando geführt. Die bisherigen Organisationsbereiche Streitkräftebasis und Zentraler Sanitätsdienst verlieren hingegen ihre Eigenständigkeit und gehen in einem neuen Unterstützungskommando der Bundeswehr auf.
Neben den Streitkräften beinhaltet die aktuelle Reform auch die Vorbereitung der Bundeswehrverwaltung auf einen potenziellen Kriegsfall.
Um Verwaltungsaufgaben, die bisher von SoldatInnen übernommen wurden, an zivile Angestellte abzugeben, sollen im Bereich Infrastruktur, Umwelt und Dienstleistungen (IUD) eigene Einheiten geschaffen werden, die den Kampftruppen der Teilstreitkräfte zugeordnet werden. Besonders brisant sind allerdings die Reformansätze im Bereich des Personalwesens. Hier sollen jetzt Strukturen geschaffen werden, die in die Lage wären, künftige Musterungen bis hin zur Wiedereinführung eines Wehrdienstes zu verwalten.
Von Kopf bis Fuß — Reformschritte im Halbjahrestakt
Pistorius wird nachgesagt, dass ihm an seinem ersten Arbeitstag als Verteidigungsminister ein Organigramm des Hauses vorgelegt wurde, das ihm — als erfahrenem Verwaltungsmenschen —Rätsel aufgab. Ob diese von ihm selbst verbreitete Erzählung so zutrifft oder bereits eine erste Vorbereitung der Untergebenen auf anstehende Reformen war, wird wohl sein Geheimnis bleiben. Klar ist allerdings mittlerweile, dass Pistorius zu Ende bringen will, was seine beiden Vorgängerinnen mit Reformvorschlägen, Eckpunkten und Prüfaufträgen begonnen hatten (2). Eine grundlegende Reform der Strukturen von Verteidigungsministerium und Bundeswehr unter der von ihm vorgegebenen Maßgabe der Kriegstüchtigkeit.
Die Umsetzung startete Mitte April 2023 mit der Ankündigung eines neuen Planungs- und Führungsstabs im Verteidigungsministerium (3), der bereits Ende Mai 2023 seine Arbeit aufnahm. Dieser direkt dem Minister unterstellte neue Stab sollte dem Minister einen besseren Zugriff auf die Strukturen im Verteidigungsministerium ermöglichen, das zuvor als kaum kontrollierbar galt. Kritik kam vom Verband der Beamten und Beschäftigten der Bundeswehr, der das Primat der Politik durch einen den zivilen StaatssekretärInnen vorgeschalteten Stab unter militärischer Führung gefährdet sieht.
Auf die Veröffentlichung der Verteidigungspolitischen Richtlinien (4) am 9. November 2023, in der die „Kriegstüchtigkeit“ in einem Regierungsdokument festgeschrieben wurde, folgte unmittelbar der nächste Reformschritt. Am 11. November 2023 stellte Verteidigungsminister Pistorius seine Pläne für den Umbau des Ministeriums vor (5). Die rund 200 bis 300 frei werdenden Dienstposten sollen für Aufgaben der unteren Ebenen in Truppe und Bundeswehrverwaltung eingesetzt werden.
Parallel zum Umbau des Verteidigungsministeriums folgte die Vorbereitung des nächsten Reformschritts. Zum 8. Dezember 2023 wurde im Ministerium eine Arbeitsgruppe eingerichtet, um Reformvorschläge für die künftige Struktur der Bundeswehr zu erarbeiten. Laut dem im März 2024 von Fachmedien veröffentlichten internen Bericht „Bundeswehr der Zukunft — Projektgruppe Struktur Bundeswehr“ (6) sollte die Arbeitsgruppe unter Berücksichtigung bisheriger Untersuchungen „ergebnisoffen Organisations- und Strukturentscheidungen sowie bestehende Kommandos und Ämter (…) hinterfragen sowie Kriegstüchtigkeit als übergeordneten Maßstab für die Eignung der Vorschläge“ anlegen. Ziel war es, dem Verteidigungsminister bis Ostern 2024 einen konkreten Plan vorzulegen. Geführt wurde die Arbeitsgruppe von Zweisternegeneral Andreas Hoppe, der nach Vollendung seiner Aufgabe zum 1. April 2024 zum neuen, jetzt noch mächtigeren, stellvertretenden Generalinspekteur der Bundeswehr befördert wurde (7).
In besagtem Bericht bereits angekündigt ist der Auftrag an die künftigen vier Inspekteure von Heer, Luftwaffe, Marine und Cyber- und Informationsraum sowie die zwei Kommandeure von Operativem Führungskommando und Unterstützungskommando, bis Oktober 2024 Pläne für die Reform der ihnen unterstellten Bereiche vorzulegen. Die jetzt folgende Weiterentwicklung und Feinausplanung sollen unter den aus dem Ministerium vorgegebenen Maßgaben „Aufwuchsfähigkeit, Skalierbarkeit, Dynamikrobustheit, Digitalisierung (Zukunftstechnologie, Operationsführung) Informationsüberlegenheit und Kriegsversorgung“ (8) stattfinden. Bis April 2025 dürften die Strukturen der Bundeswehr damit binnen zwei Jahren einmal von Kopf bis Fuß auf Kriegstüchtigkeit durchreformiert sein.
Ein Operatives Führungskommando für alle Einsätze
Unterhalb des stellvertretenden Generalinspekteurs wird es künftig ein Operatives Führungskommando der Bundeswehr geben. Die „Planung und operative Führung (aller Einsätze) der Bundeswehr aus einer Hand“ ist laut Minister Pistorius dessen Aufgabe (9). Dafür werden das bisherige Einsatzführungskommando, zuständig für alle Auslandseinsätze von Out-of-Area bis Bündnisverteidigung an der NATO-Ostflanke, und das erst im Oktober 2022 neu aufgestellte Territoriale Führungskommando für Einsätze im Inland, von Katastrophenhilfe bis Aufmarschplanung und Landesverteidigung, zusammengelegt.
Der Minister verspricht sich dadurch ein „360-Grad Lagebild“ in einer übergreifenden Operationszentrale, die somit auch das Ministerium in allen Fragen zu Einsätzen der Bundeswehr beraten kann (10). Zudem soll das Operative Führungskommando zentraler Ansprechpartner sowohl für die NATO als auch für Bundes- und Landesbehörden wie unter anderem das Technische Hilfswerk (THW) und Polizeibehörden sein.
Im Zentrum des neuen Kommandos steht allerdings die „Planung des übergeordneten Kräfteansatzes für militärische Einsätze“ (11).
Nach dem Vorbild der drei Joint Force Command der NATO weist dieses neue Führungskommando den vier Teilstreitkräften Einsatzaufgaben zu und klärt in diesem Prozess auch, welche Unterstützungsleistungen aus dem neuen Unterstützungskommando der Bundeswehr den Teilstreitkräften für ihre konkreten Einsätze zugeordnet werden. Sollte es in diesem Prozess zu Streitigkeiten zwischen den Spitzengenerälen kommen, wird eine Entscheidung durch den stellvertretenden Generalinspekteur getroffen.
Um sich auf die Führung von Einsatzaufgaben zu konzentrieren, werden die Truppenteile, die bisher dem Territorialen Führungskommando zugeordnet waren, weitestgehend dem neuen Unterstützungskommando zugeordnet (12). Allein die 16 Landeskommandos mit ihren Verbindungsstrukturen in die Bundesländer, Regierungsbezirke und Kommunen bleiben dem neuen Operativen Führungskommando zugeordnet.
Diese Zentralisierung von Führungsaufgaben in einem Kommando bringt einen sehr mächtigen Dreisternegeneral an dessen Spitze hervor. So mächtig, dass selbst der oberste Soldat der Bundeswehr, Generalinspekteur Carsten Breuer, zwischenzeitig Bedenken über die Macht des Kommandeurs des Operativen Führungskommandos geäußert haben soll (13).
Vier Teilstreitkräfte für vier Dimensionen des Krieges der Zukunft
Der Logik der Aufgabenverteilung in militärische Dimensionen folgend wird es künftig vier Teilstreitkräfte geben, die jeweils die Verantwortung für Überwachung und Kriegführung in dieser Dimension tragen und einem Inspekteur unterstellt sind.
Dem Heer mit Verantwortung für die Dimension Land werden neben den bisher unterstellten Einheiten künftig auch die Heimatschutzkräfte der Bundeswehr zugeordnet, weil sie der Organisationslogik entsprechend in der Dimension Land agieren werden. Forderungen aus dem Kommando Heer, auch Unterstützungskräfte wie Sanitätsdienst und Logistik den Landstreitkräften zuzuordnen, wurde nicht entsprochen. Selbst die in dem Vorlagenpapier aus dem Ministerium geplante Zuordnung der Fähigkeitskommandos für Feldjäger, ABC-Abwehr und CIMIC (Zivil-militärische Zusammenarbeit) findet nicht statt. In der Pressekonferenz begründet der Minister die Zuordnung dieser Kräfte in das neue Unterstützungskommando auf Nachfrage neben dem Mangel an Ressourcen in diesem Bereich und der Zugänglichkeit für die anderen Teilstreitkräfte auch mit der Priorität der heeresinternen Umstellung auf einsatzbereite Divisionen ab 2025 (14).
Die Luftwaffe, die spätestens mit der Aufstellung des neuen Weltraumkommandos im April 2023 sowohl für den Luft- als auch den Weltraum verantwortlich ist, wird um zwei weitere Kommandos aufgestockt. Dabei handelt es sich sowohl um das bisher direkt dem Ministerium unterstellte Luftfahrtamt der Bundeswehr als auch um eine aufgrund von EU-Vorgaben neu zu gründende Common Airworthiness Monitoring Organisation der Bundeswehr (CAMOBW). Zweitere ist für ein „harmonisiertes Regelwerk für Zulassung, Herstellung und Betrieb von Luftfahrzeugen (Lfz), die sogenannten European Military Airworthiness Requirements (European Military Airworthiness Requirements)“ (15) zuständig. „Mit dieser Strukturreform macht die Luftwaffe einen großen Schritt in Richtung Kriegstüchtigkeit. Alles für die Einsatzbereitschaft unserer Luftfahrzeuge nun aus einer Hand“, sagt der Inspekteur der Luftwaffe, Ingo Gerhartz, dazu gegenüber der Süddeutschen Zeitung (16). Kritik an der Unterstellung des Luftfahrtamtes unter die Luftwaffe wird allerdings laut, weil das Amt mit der Aufgabe betraut ist, die Flugsicherheit zu prüfen. Sollte die Unabhängigkeit des Luftfahrtamtes durch den Unterstellungswechsel angetastet werden, käme dies einem TÜV gleich, der dem Chef einer Autovermietung unterstellt wäre. Zudem dürfte der Luftwaffe im kommenden Reformprozess der unteren Ebenen die größte Umstrukturierung bevorstehen, weil sich dort besonders viele Generäle auf hohen Ebenen, weit weg von der tatsächlichen Truppe, tummeln.
Für die Marine bringt die Strukturreform, außer dem Erhalt des Zugriffs auf Unterstützungskräfte über das neue Unterstützungskommando, wenig Neues. Mit der Veröffentlichung eines „Zielbild Marine 2035+“ hatten die Seestreitkräfte allerdings bereits im März 2023 relevante Teile des jetzt für Land- und Luftstreitkräfte anstehenden Planungsprozesses für die unteren Ebenen bereits vorweggenommen.
Größter Gewinner der aktuellen Strukturreform dürfte der bisherige Organisationsbereich Cyber- und Informationsraum (CIR) sein, der zu einer eigenständigen Teilstreitkraft aufgewertet wird.
Dieser erst 2017 gegründete Bereich der Bundeswehr ist neben der Sicherung von Führungsfähigkeit (IT-Bataillone), die für die künftige Vernetzung von Waffensystemen zentral sein wird, laut Minister auch für die „Analyse hybrider Bedrohungen“ wie Desinformation und Cyberangriffe zuständig. Die Fähigkeiten des CIR, mit dem Zentrum Cyberoperationen und dem Zentrum Operative Kommunikation selbst Cyberangriffe und Propagandakampagnen beziehungsweise der Bundeswehr genehme Desinformation durchführen zu können, wird dabei gezielt verschwiegen. Zudem ist CIR auch für die sogenannte Aufklärung und Wirkung im Feld durch elektronische Kriegsführung mit Abhörantennen und Störsendern zuständig. Damit erfüllt CIR mit der Verantwortung für und der Operationsführung im Cyber- und Informationsraum die neue Definition für eine Teilstreitkraft. Einen internen Reformprozess mit dem Ziel der gesteigerten Einsatzfähigkeit hat die neue Teilstreitkraft in den letzten zwei Jahren unter dem Titel „CIR 2.0“ bereits durchlaufen (17).
Ein zentrales Unterstützungskommando
„Im Unterstützungskommando sind die Fähigkeiten gebündelt, die in allen Dimensionen gebraucht werden“, verkündete Minister Pistorius auf der Pressekonferenz zur Strukturreform (18).
Konkret verlieren die beiden bisherigen Organisationsbereiche Streitkräftebasis und Zentraler Sanitätsdienst, die als Dienstleister für die Auslandseinsätze der Bundeswehr geschaffen wurden, ihre Inspekteure und damit ihre Eigenständigkeit. Zusammen verschmelzen sie zu einem neuen Unterstützungskommando, das die Verwaltungsaufgaben für alle dimensionsübergreifenden Fähigkeitskommandos übernimmt. Die Mangelressourcen, die von allen vier Dimensionen gebraucht werden, sind die Sanitätsversorgung der Bundeswehr sowie die Kommandos für Logistik, Feldjäger, ABC-Abwehr und zivil-militärische Zusammenarbeit.
Neben dem Streitkräfteamt und dem Planungsamt der Bundeswehr, die bisher der Streitkräftebasis beziehungsweise direkt dem Ministerium unterstellt waren, sollen auch die Bereiche in das neue Unterstützungskommando eingegliedert werden, die bisher dem Territorialen Führungskommando unterstellt waren. Darunter fallen neben den Truppenübungsplätzen der Bundeswehr auch die deutschen Anteile des für EU-Missionen ausgelegten Multinationalen Kommandos Operative Führung und dem Joint Support and Enabling Command (JSEC) der NATO, die beide in Ulm beheimatet sind, sowie der Deutsche Militärische Vertreter (DMV) beim NATO-Militärausschuss und der EU in Brüssel.
Ob es allerdings dauerhaft bei der Zentralisierung von raren Unterstützungsleistungen in einem Kommando bleiben soll, bleibt offen. Während Generalinspekteur Breuer auf der Pressekonferenz zur Strukturreform argumentiert, dass das zentrale Kommando vorteilhaft wäre, um die unterstellten Fähigkeitskommandos teilstreitkräfteübergreifend weiterzuentwickeln, macht Minister Pistorius andere Andeutungen. Auf Nachfrage einer Journalistin spricht er davon, dass der Mangel an Unterstützungskräften, der es nicht erlaubt, allen Teilstreitkräften genügend davon zur Verfügung zu stellen, in den nächsten Jahren behoben werden soll (19). Ob damit bereits Pläne gemeint sind, die Bereiche Sanität, Logistik, Feldjäger und ABC-Abwehr in den nächsten Jahren massiv auszubauen, bleibt allerdings im Unklaren.
Bis dahin wird das Operative Führungskommando für konkrete Missionen die Bedarfe der Teilstreitkräfte nach Unterstützungskräften priorisieren und entsprechende Zuteilungen vornehmen. Sollte es darüber zum Konflikt zwischen den Teilstreitkräften kommen, liegt die endgültige Entscheidung, wie bereits angedeutet, beim stellvertretenden Generalinspekteur, dem sowohl das Operative Führungskommando als auch das Unterstützungskommando unterstellt sind.
Kriegsbereite Bundeswehrverwaltung — Strukturen für Wehrdienst in Vorbereitung
Neben den Streitkräften soll im Rahmen der aktuellen Strukturreformen auch die Wehrverwaltung kriegstüchtig gemacht werden. Im Zentrum stehen die Dezentralisierung der Strukturen, eine größere Nähe zur Truppe und die Fähigkeit, sich spontan auf eine vorbereitete Struktur für den Verteidigungsfall umzustellen.
Für den Bereich Rüstung (BAAINBw) wurde ein Maßnahmenpaket mit 70 Punkten erarbeitet. Neben der schnelleren Beschaffung stehen die „Unterstützung der Industriepartner beim Aufbau einer resilienten und durchhaltefähigen Rüstungswirtschaft“, die Gewährleistung der Ausrüstungsnutzung auch bei Aussetzung ziviler Vorgaben und die „Festlegung von Mindestbevorratungsmengen“ für Ausrüstung und Handwaffen für ein mögliches massenhaftes Einziehen von ReservistInnen im Vordergrund. Hinzu kommt eine noch engere Verzahnung des Rüstungsamtes mit der Ministeriumsabteilung für Cyber- und Informationstechnik und der Teilstreitkraft CIR für die „Optimierung der Beschaffung und Nutzung der IT-Services der Bundeswehr“ (20).
Deutlich größere Veränderungen stehen allerdings in den Bereichen Infrastruktur und Dienstleistung (BAIUDBw) und Personal (BAPersBw) an. „Wir haben bei den Strukturen mitgedacht, dass es zur Wiedereinführung einer wie auch immer gearteten Wehr-/Dienstpflicht kommen könnte“, sagt Pistorius auf der Pressekonferenz zur Strukturreform (21). Die aktuell stark zentralisierte Personalverwaltung der Bundeswehr soll dafür wieder Strukturen in der Fläche erhalten. Als erster Schritt dazu sollen unterhalb des Personalamtes mit Sitz in Köln vier regionale Personalzentren entstehen, die im Fall der Fälle auch die Aufgaben des jeweils anderen Zentrums übernehmen können. „Die Regionalzentren werden auch ‚Keimzellen‘ für diejenigen Strukturen, die im Ernstfall die personelle Aufwuchsfähigkeit sicherstellen“ (22).
Unabhängig von einer künftigen politischen Entscheidung über die Wiedereinführung einer Wehr- oder Dienstpflicht sollen diese Personalzentren die „Vorbereitung und Prüfung von Wehrerfassungs- und Musterungsprozessen, um eine verpflichtende Einberufung zum Wehrdienst verwaltungsseitig bewältigen zu können“, in Gang setzen.
Das sei bereits jetzt nötig, weil eine Wiedereinführung der Wehrpflicht im Spannungs- oder Verteidigungsfall auch nach aktueller Gesetzeslage automatisch passieren würde. Damit bereitet Pistorius erste Schritte, mindestens zur flächendeckenden Musterung von Jugendlichen, die ihm ohnehin als Ziel vorschwebt, auf der Verwaltungsseite bereits vor.
Den größten Umbauprozess wird es allerdings im Bereich Infrastruktur, Umwelt und Dienstleistung (IUD) geben. Auch hier soll der starken Zentralisierung entgegengewirkt werden. Dazu werden Stellen für Landesbeauftragte geschaffen, die den Kontakt zwischen Bundeswehrverwaltung mit den zivilen Strukturen der Bundesländer und den dort verorteten Truppen der Bundeswehr halten sollen. Für den Verteidigungsfall bereitet das Amt zudem mobile Verwaltungsteams, sogenannte Embedded Support Organizations (ESO), vor. Diese Verwaltungsteams sollen in der Lage sein, auch der kämpfenden Truppe auf den Ebenen Division bis Bataillon bis ins Feld zu folgen, um den SoldatInnen Verwaltungsaufgaben abzunehmen und sie so kampffähiger zu machen. Zudem ist das BAIUDBw beauftragt, wieder Strukturen für den „Vollzug von Versorgungs- und Sicherstellungsgesetzen“ aufzubauen (23), wie sie in der alten Wehrverwaltung des Kalten Krieges vorhanden waren. Bei den Versorgungs- und Sicherstellungsgesetzen handelt es sich um einen Teil der 1968 gegen massive Proteste verabschiedeten Notstandsgesetze für den Spannungs- und Verteidigungsfall.
Damit sichert sich der Staat im Kriegsfall privilegierten Zugriff auf Rohstoffe und Dienstleistung bis hin zur Beschlagnahmung von „verteidigungsrelevanten“ zivilen Gütern wie Lkw. Des Weiteren soll das Bauwesen der Bundeswehr in die Lage versetzt werden, bei besonders wichtigen Infrastrukturprojekten (Schnelläuferprojekten) Teile der Aufgaben der überlasteten zivilen Bauverwaltung der Bundesländer zu übernehmen, um die Baufortschritte für die Truppe zu garantieren. Und zu guter oder schlechter Letzt sollen wieder Strukturen zur Bewertung der militärischen Nutzbarkeit von ziviler Infrastruktur im Spannungsfall und zur dezentralisierten Lagerung von Versorgungsgütern wie militärischen Essensrationen geschaffen werden (24).
Diese Änderungen im Bereich der Wehrverwaltung machen mehr als deutlich, dass es Minister Pistorius mit seiner Strukturreform um die tatsächliche und konkrete Vorbereitung für einen potenziellen Kriegsfall geht.
Die damit einhergehende Militarisierung der Gesellschaft, bereits durch diese Vorbereitungen, dürfte allerdings weitaus früher spürbar werden.
Strukturen für einen lauwarmen Krieg
Während die Umbaumaßnahmen in der Wehrverwaltung an eine Reaktivierung der Denke des Kalten Krieges erinnern, sprechen die Umstrukturierungen der Truppe eher für eine Ausrichtung auf ein Kriegsbild der hoch vernetzten, digitalisierten Kriegsführung der Zukunft. Sinnbildlich dafür steht die Aufwertung des Bereichs Cyber- und Informationsraum zur Teilstreitkraft bei gleichzeitiger Eingliederung der verhältnismäßig zivil geprägten Bereiche Logistik und Sanitätsdienst unter straffe militärische Kommandostrukturen.
In der Pressekonferenz führt Minister Pistorius aus:
„Es gibt kaum noch eine Gefechtssituation in der Ukraine, wo nicht digitale Führungsfähigkeit eine zentrale Rolle spielt, dass ein Gefecht erfolgreich bestritten werden kann.“ (25)
Und Generalinspekteur Breuer ergänzt:
„Darüber hinaus würde es mir überhaupt nicht ausreichen, wenn wir, in Anführungszeichen, nur auf den Krieg in der Ukraine schauen. Das ist für mich eher das, was im Moment State-of-the-Art ist. (…) Die gesamte Struktur ist so angelegt, dass wir auch Anknüpfungspunkte weiter nach vorne haben werden. Und genau darum muss es gehen. Das wir Krieg weiter denken als das, was wir im Moment machen.“ (26)
Damit spielen Breuer und Pistorius auf ein militärisches Konzept an, das die gesamte Strukturreform prägt, auch wenn es nicht explizit benannt wird: Multi-Domain-Operations (MDO). Dieses Konzept für die vernetzte, digitalisierte und eng verzahnte Kriegsführung der Zukunft wurde Ende der 2010er-Jahre maßgeblich von US-General David G. Perkins entwickelt (27). Ausgehend von der vorherigen US-Doktrin der vernetzten Kriegsführung von Land- und Luftstreitkräften (Land-Air-Operations) soll es für die Großmachtkonkurrenz der Zukunft eine enge Vernetzung der fünf militärischen Dimensionen, Land, Luft, See, Weltraum und Cyberspace geben. So könnten in der Vorstellung der Militärplaner auch militärisch ebenbürtige Gegner bezwungen werden. Dafür müssten die eigenen Streitkräfte die Fähigkeiten besitzen, die gegnerische Verteidigung in allen fünf Dimensionen gleichzeitig zu bedrohen, um so in mindestens einer Dimension einen Durchbruch zu erringen, der den Raum für ein Vorstoßen auch in den anderen Dimensionen eröffnet.
Laut der reinen Lehre von General Perkins gibt es nur Phasen der Konkurrenz und der offenen Konfrontation, die dann wiederum von einer weiteren Phase der Konkurrenz abgelöst würden. Friedenszeiten sind in dieser Denke quasi ausgeschlossen, weil es permanent vonnöten sei, die feindlichen Systeme auszuspähen und zu testen.
Sei es durch verdeckte und offene Cyberangriffe, durch Überflüge von Kampf- und Aufklärungsflugzeugen entlang der gegnerischen Linien oder das Kreuzen von Schiffen durch Seegebiete, die vom Gegner als eigenes Territorium angesehen werden.
Wer die Phase der Konkurrenz nicht nutzt, verliert in der Phase der Konfrontation. Ziel sei es aber, in der Phase der Konfrontation schnell die Oberhand zu gewinnen, um damit die Bürde der weiteren Eskalation auf die nächsthöhere Stufe — im Extremfall bis zum Atomschlag — dem Gegner zuzuschieben. Im Idealfall könne so unter den eigenen Bedingungen in die nächste Phase der Konkurrenz eingetreten werden.
Bereits auf der Land-Warfare Conference 2018 in London, auf der sich Generäle aus über 40 Staaten über die Kriegsführung der westlichen Alliierten nach 2025 austauschten, sprach der deutsche General Frank Leidenberger, ein persönlicher Freund von US-General Perkins, mit besonderem Blick auf Cyberattacken davon, dass Deutschland sich bereits in einem „lukewarm war” (deutsch: lauwarmen Krieg) befinde. Die politische Klasse sei allerdings nicht bereit, diese Realitätswahrnehmung zu teilen (28).
In den letzten Jahren haben NATO (29) und Bundeswehr (30) sich ebenfalls dem Konzept der Multi-Domain-Operations verschrieben. So heißt es in einer zwanzigseitigen Broschüre des Planungsamtes der Bundeswehr von November 2023:
„Das Erreichen einer MDO-Befähigung der Bundeswehr wird eine Generationenaufgabe sein. Sie wird im Kontext des sehr fordernden Kriegsbilds der Zukunft über die Bedeutung der Bundeswehr im Bündnis und ihre Fähigkeit zur bündnisgemeinsamen Verteidigung entscheiden.“ (31)
Die vor sechs Jahren von General Leidenberger getroffene Aussage scheint sich damit jeweils zur Hälfte bewahrheitet und überholt zu haben. Den aktuellen Stellvertreterkrieg zwischen Russland und NATO auf dem Territorium der Ukraine und die massive Aufrüstung auf beiden Seiten lassen sich aus der Perspektive der Großmächte durchaus als lauwarmer Krieg beschreiben — mit tödlichen Kämpfen in der Ukraine, aber unterhalb der Schwelle der direkten Konfrontation der Atommächte. Die Perspektive der politischen Klasse in Deutschland darauf scheint sich allerdings in relevanten Teilen geändert zu haben. Die aktuelle Strukturreform der Bundeswehr, die bis Frühjahr 2025 abgeschlossen sein soll, atmet die Luft der Multi-Domain-Operations und fußt auf der von Pistorius ausgegebenen Maßgabe der Kriegstüchtigkeit.
Auch wenn die Vorbereitungen in diese Richtung auf Hochtouren laufen, dürfen wir uns nicht damit abfinden, uns in einem lauwarmen Krieg einzurichten, der eine Option auf tatsächlichen Frieden in Europa nicht nur auf Jahre, sondern auf Jahrzehnte verunmöglichen dürfte.