Der lange Schatten des Syrienkrieges
Die türkische Lira befindet sich im freien Fall.
Was äußerlich aussieht wie der idiotische Streit zwischen zwei Egomanen um die Freilassung eines unbedeutenden amerikanischen Priesters aus türkischem Hausarrest ist in Wahrheit der vorerst letzte Akt eines sich ständig verschärfenden Konflikts zwischen USA und NATO auf der einen Seite und einer Türkei, die sich partout nicht westlichem Druck beugen will, auf der anderen.
Waffenbrüder
Von Anbeginn an war die Türkei treibende Kraft im Kampf um den Regime Change in Syrien. Sie bot den Gegnern Assads Unterschlupf und half ihnen von dort aus bei der Organisierung des Widerstands. Sie versorgte die sogenannte Freie Syrische Armee (FSA) und griff auch durch Luftunterstützung aktiv in die Kämpfe ein. Die Türkei scheute sich nicht, syrische Flugzeuge abzuschießen, und riskierte durch den Abschuss eines russischen Kampfjets sogar den Konflikt mit dem militärisch wesentlich stärkeren Russland.
Bereits ab 2012 versuchte die Türkei mit solchen Provokationen, den Bündnisfall zu konstruieren, der die NATO und die USA zu einem Eingreifen an der Seite der Türkei und damit auch der FSA in Syrien verpflichtet hätte. Nach anfänglichen Erfolgen der Rebellen hatte sich sehr bald gezeigt, dass sie den Krieg ohne erfahrene Bodentruppen nicht gewinnen konnten. Dazu fehlte die Unterstützung aus der Bevölkerung, auch wenn die westliche Propaganda ein anderes Bild zu vermitteln suchte.
War der Sturz Assads zwar ein Anliegen sowohl des Westens als auch der Türkei, so waren USA und NATO zu mehr als logistischer Unterstützung nicht bereit. Da auf westlicher Seite die Türkei die Hauptlast des Syrienkriegs trug, wuchsen die Spannungen unter den NATO-Partnern.
Die USA unterstützen die Kurden
Als dem syrischen Präsidenten von westlicher Seite der Einsatz von Giftgas unterstellt wurde, drohte US-Präsident Obama mit dem militärischen Eingreifen der USA. Durch das geschickte Verhandeln Russlands konnte diese Verschärfung des Konfliktes abgewendet werden, denn Assad stimmte der amerikanischen Forderung nach vollständiger Vernichtung der syrischen Chemiewaffen unter internationaler Aufsicht zu. Ein massiverer Einsatz von US-Militär wurde abgesagt. Damit zerstoben die letzten Hoffnungen der Rebellen und der Türkei auf stärkere militärische Unterstützung durch die USA.
Enttäuscht vom US-amerikanischen Taktieren schlossen sich mehrere Milizen und dschihadistische Kampfgruppen, die bisher von den USA unterstützt worden waren, zum Islamischen Staat zusammen. Dieser aber wandte sich nicht weiter gegen Assad, sondern gegen den Irak. Dessen Armee war trotz ihrer zahlenmäßigen und waffentechnischen Überlegenheit nicht zu kämpfen bereit. Mossul fiel kampflos in die Hände des IS.
In den irakischen Stammesgebieten war die Verärgerung über die Untätigkeit und Korruption der Regierung, aber auch über das Regime der irakischen Armee mittlerweile so groß geworden, dass dem IS auch vonseiten der Bevölkerung wenig Widerstand entgegengesetzt wurde. Nur unter erheblichem Kraftaufwand und mit iranischer Unterstützung konnte er erst kurz vor Bagdad gestoppt werden.
Die Lage war nun so ernst, dass dringend weitere Kampftruppen mobilisiert werden mussten. In dieser explosiven Lage waren die USA noch weniger bereit, eigene Truppen ins Gefecht zu schicken. Noch mehr Unterstützung aus dem Iran hätte zu einer stärkeren Verschiebung der Kräfteverhältnisse zugunsten des ungeliebten Mullah-Regimes geführt. Da boten sich die Kurden als einzige kampferprobte Kraft an, die dem IS Paroli bieten konnte. Sie wurden vom Terrorismusvorwurf reingewaschen und stattdessen zusätzlich mit Waffen ausgerüstet, denn der Westen brauchte dringend ihre Unterstützung.
Aber die Aufrüstung der Kurden stand im schärfsten Gegensatz zu den Interessen der Türkei. Sollte sie all die Risiken und Lasten im Kampf gegen Assad nur getragen haben, um letztlich den Interessen der Kurden zu dienen? Um ein Gegengewicht zu den Kurden zu schaffen, unterstützte die Türkei mehr oder weniger offen den IS und geriet damit in einen massiven Gegensatz zu den Interessen der USA. Der Streit zwischen den NATO-Partnern nahm an Schärfe zu.
Die Türkei wechselt die Seite
Nach dem Abschuss eines russischen Kampfjets durch die türkische Luftwaffe verschärfte sich ab 2015 die Lage zwischen der Türkei und Russland. Russlands Boykott fügte der türkischen Wirtschaft erheblichen Schaden zu. Da auf der anderen Seite auch Vorteile vonseiten der NATO und der EU für das türkische Engagement in Syrien ausblieben und sogar die Kritik an der Türkei von dieser Seite zunahm, schwenkte das Land allmählich um – vom Gegner Assads und der Russen hin zu einer neutralen Haltung gegenüber den beiden. Russland versüßte dies durch den lukrativen Ausbau der wirtschaftlichen Beziehungen.
Damit wurde die Unterstützung des Westens für die prowestlichen Rebellen deutlich erschwert. Mit dem Eintreten Russlands in den Krieg an der Seite Assads war die westliche Lufthoheit über Syrien gebrochen. Die Rebellen verloren immer mehr an Boden, eine Stadt nach der anderen fiel zurück an die Regierung; die USA waren weiterhin beschäftigt mit dem Kampf gegen den IS und der Rückeroberung Mossuls. Die Türkei bekämpfte nun nicht mehr Assad, sondern die amerikanischen Verbündeten: die Kurden. Der Krieg drohte verloren zu gehen.
Der Putschversuch von Teilen des türkischen Militärs im Juli 2016 wird, nicht zu Unrecht, von Erdogan dem Westen angelastet. Immerhin wäre der Westen der Nutznießer gewesen, wenn der erfolgreiche Machtwechsel in Ankara auch zu einem Wechsel der türkischen Politik gegenüber Assad, den Russen und auch den Kurden geführt hätte. Es ist nicht auszuschließen, dass türkische Militärs in der NATO sich die westliche Sichtweise zu eigen gemacht haben und die Russen als die größere Bedrohung für die türkischen Interessen ansahen als die Kurden und die NATO.
Offene Konfrontation
Von da an schien das Tuch zerschnitten zwischen der Türkei und den USA, auch wenn man vonseiten der USA aus immer wieder gerade in der Kurdenfrage zu Zugeständnissen gegenüber der Türkei bereit war. Aber all diese Zugeständnisse bewirkten nicht den Wiedereintritt der Türkei aufseiten des Westens in den Syrienkonflikt. Und der Siegeszug der Koalition hielt an. Auch der Versuch einer arabischen Lösung durch die USA unter der Führung Saudi-Arabiens kam [nicht von der Stelle (1).
Im weiteren Verlauf eroberte die syrisch-iranisch-russische Allianz den Süden Syriens, die USA ließen ihre dortigen Verbündeten im Stich, Israel hielt sich weitgehend zurück und die Weißhelme mussten in einer Nacht-und Nebelaktion nach Jordanien gerettet werden – an diesem Punkt wurde den USA offenbar ihr aussichtslose Lage bewusst. Zudem begannen jetzt die Kurden Verhandlungen mit der syrischen Regierung aufzunehmen. Es ist also vielleicht nur noch eine Frage der Zeit, bis die Entscheidung über die Kurdengebiete fällt. Werden die USA dann Bodentruppen schicken oder in Syrien den Schwanz einziehen und abziehen?
Die USA wollen sich nicht abfinden mit der Niederlage, die unausweichlich scheint. Aber diese Nation – ganz besonders unter Trump – scheint als einzige Mittel zur Durchsetzung ihrer Interessen den Druck der militärischen Drohung sowie Wirtschaftssanktionen zu kennen.
Vermutlich sollen letztere nun die Türkei als den vermeintlichen Verräter, aber vielleicht auch als den Retter in höchster Not zur Vernunft bringen. Denn wer sonst könnte das Schicksal der USA in Syrien noch wenden? Aber Erdogan sieht zurecht nicht ein, dass er den Blutzoll für US-amerikanische Interessen zahlen soll; er widersetzt sich diesem Druck. In einem solchen Fall wird dann auch schon mal ein unbedeutender Prediger als Vorwand genommen, um amerikanischen Forderungen Nachdruck zu verleihen und als Anlass für Verschärfungen zu dienen.
Verunsicherte Investoren
Ohne diese politischen Ereignisse sind die wirtschaftlichen Entwicklungen der letzten Wochen nicht zu verstehen. Die Erklärungsversuche von Wirtschaftsexperten sind hilflos und teilweise widersprüchlich, weil sie gerade die Wirkungsweise dieser politischen Vorgänge auf die Investoren nicht in Betracht ziehen. Sie versuchen, die ökonomischen Vorgänge aus den Theorien der Wirtschaftswissenschaften herzuleiten und klammern sich an Scheinargumente wie die mangelnde Unabhängigkeit der türkischen Notenbank.
Wie hoch ist denn die Unabhängigkeit der japanischen Notenbank, wenn sie ständig von der Regierung gezwungen wird, die Anleihen des eigenen Staates aufzukaufen? Mittlerweile hält sie 70 Prozent daran, weil private Investoren die japanischen Papiere nicht mehr kaufen. Wie hoch ist die Unabhängigkeit der EZB, wenn sie jeden Monat für Milliarden Euro Anleihen aufkaufen muss, um die wirtschaftliche Stabilität des Euros nicht zu gefährden? Solche Maßnahmen der Manipulation unternimmt Erdogan ja noch nicht einmal. Er weigert sich nur, die Zinsen zu erhöhen, um Konjunktur und Wirtschaft nicht zu gefährden. Da ist er nicht der erste, der zum Schutz der eigenen Wirtschaft so handelt!
Jedoch treffen solche Maßnahmen zum Schutz der eigenen nationalen Interessen auf eine zunehmende Dünnhäutigkeit und Rigorosität der USA, die sich zu einer Gefährdung des internationalen Wirtschaftslebens ausweiten. Immer häufiger werden Unternehmen vor amerikanische Gerichte gezerrt wegen des Vorwurfs, gegen Sanktionen verstoßen zu haben. Immer häufiger werden Personen auf Listen gesetzt, mit denen Geschäftsbeziehungen tabu sind, immer häufiger Konten blockiert, besonders in den USA, und Guthaben von Staaten, Unternehmen und Einzelpersonen werden eingefroren.
Wenn türkische, russische, iranische Minister von der modernen, amerikanischen Form der Inquisition bedroht sind, wer kann da noch sicher sein? Wer traut sich dann noch, langfristig sein Geld in Unternehmen von Ländern zu investieren, die von heute auf morgen unter amerikanischen Bannstrahl fallen können, weil sie sich nicht amerikanischer Willkür unterordnen wollen? Das betrifft nicht nur Unternehmen sogenannter Schurkenstaaten. Das droht mittlerweile selbst Verbündeten wie Deutschland, wenn sie Pipelines bauen für den Transport russischen Gases, statt nach amerikanischem Wunsch US-Flüssiggas zu kaufen.
Panische Flucht aus der Lira
Die Anleger sind weltweit nervös und verunsichert durch die Ausweitung von Sanktionen und Zöllen, die alleine nur einem Ziel dienen: dem Erhalt amerikanischer Konkurrenzfähigkeit. Auf einer solchen Stimmung gedeiht ein Währungsverfall solchen Ausmaßes, wie er sich seit einiger Zeit in der Türkei vollzieht. Das ist nicht Ergebnis von veränderter Wirtschaftsleistung, wie selbst die FAZ in ihrem Artikel „Die Türkei ist kein Einzelfall“ vom 11. August 2018 schreibt:
„Die Zahlen für die Türkei sind auf den ersten Blick weder dramatisch noch vernachlässigbar.“
Solche Währungsentwicklungen sind Ergebnis politischer Vorgänge und Signale. Die Geldgeber investieren nicht mehr, weil ihnen die Lage zu unsicher wird. Es fließen keine Dollars mehr in die türkische Wirtschaft; Investoren wissen nicht, ob der Streit mit den USA sich noch weiter verschärft und welche Auswirkungen mögliche weitere Sanktionen auf die Erträge oder gar die Sicherheit des investierten Kapitals haben werden.
Am Freitag, den 10. August fiel die türkische Lira teilweise um 25 Prozent gegenüber dem US-Dollar. Hatte sich innerhalb von wenigen Minuten die Wirtschaftskraft der Türkei so dramatisch verschlechtert gegenüber der amerikanischen? Nein, Trump hatte eine drastische Erhöhung der Zölle auf türkischen Stahl und Aluminium angekündigt. Eine politische Ankündigung, die sich wirtschaftlich auswirken könnte, war der Auslöser dieses Währungssturzes, nicht der Zustand der türkischen Wirtschaft.
Hatte die Türkei die Dollar der Investoren durch gute Renditen angelockt, als die Welt zwischen den USA, der EU und der Türkei noch in Ordnung war, so wurden diese zurückhaltender mit ihren Investitionen, als im Zuge des Syrienkonfliktes die Spannungen zunahmen. Der nachlassende Zustrom an Dollar führte zu seiner allmählichen Verknappung. Türkische Unternehmen und Banken, die auf Dollar angewiesen waren, waren bereit, mehr Lira für die begehrte Währung zu zahlen. Das Ergebnis: Die Lira fiel gegenüber dem Dollar, anfangs allmählich, aber beständig. Der allmähliche Anstieg des Dollars aber verstärkte auch im selben Maße die Zurückhaltung der Investoren.
Zu einem ersten sprunghaften Anstieg des Dollars von 3 auf 4 Lira kam es nach dem gescheiterten Putsch in 2016. Mit der Zunahme der Spannungen hielten sich auch die Investoren mehr und mehr zurück. Der Dollar blieb gefragt in der Türkei und damit auch sein Preis hoch. Denn Banken und Unternehmen, mehr noch als der türkische Staat, waren in Dollar verschuldet; sie mussten Dollar erwerben, um ihre Verbindlichkeiten bei den ausländischen Banken zu bedienen.
Die politische Eskalation der letzten Wochen um den amerikanischen Prediger veränderte das Verhalten der Investoren grundlegend: Sie hielten sich jetzt nicht mehr nur zurück mit Investitionen, sondern trennten sich panikartig von ihren Engagements in der Türkei. Aus Angst vor einer weiteren Verschlechterung der politischen Lage verkauften sie unter der Devise: Rette sich, wer kann – Motto und Motiv eines jeden Währungsverfalls. Mit den wirklichen wirtschaftlichen Verhältnissen hat dies nichts mehr zu tun.
Quellen und Anmerkungen:
(1) https://ruedigerraulsblog.wordpress.com/2018/05/17/syrien-wettlauf-um-den-sieg/, https://ruedigerraulsblog.wordpress.com/2018/05/17/syrien-wettlauf-um-den-sieg/, https://ruedigerraulsblog.wordpress.com/2017/06/08/paukenschlag-im-nahen-osten/