Der ignorierte Krieg
Die Tragödie im Jemen wird in den Medien vielfach falsch erklärt, weil Saudi-Arabien und seine Verbündeten die Wahrheit über ihre Taten vertuschen wollen.
Die größte humanitäre Katastrophe weltweit, das Leid der Kinder und die scheinbar unbesiegbaren Huthi-Kämpfer: So wird die Lage im Jemen in den Headlines der Mainstream-Medien beschrieben. Nur sprechen viele leider fälschlicherweise vom Jemenkrieg als einem vergessenen Krieg. Vergessen bedeutet hier jedoch nicht den Verlust einer Erinnerung. Denn: Der Jemen wird nicht vergessen, sondern systematisch auf der politischen Weltbühne ignoriert.
Der offizielle Krieg im Jemen
Der Beginn des offiziellen Kriegs im Jemen fällt mit dem Beginn des Arabischen Frühlings im Jahre 2011 zusammen, als die Machtkämpfe im Land entfachten und neue Machteinflüsse den Jemen destabilisierten. Jemens geopolitische Lage ist von großer Bedeutung, und es dauerte somit nicht lange, bis die Interessengruppen in dieser Region die Unruhen und internen Kämpfe ausnutzten, um dort ihre eigenen politischen Ziele zu verfolgen. Die Lage im ärmsten der arabischen Länder war schon immerzu heikel. Die schiitische Minderheit der Huthis, die sunnitische saudi-freundliche Regierung Jemens und die jahrelange Spaltung des Landes in Nord und Süd gaben immer wieder Anlass für eine schwierige Lage — umso mehr, da seit Kriegsbeginn gewisse Parteien von externen Interessengruppen unterstützt, bewaffnet und beeinflusst werden.
Festzustellen ist, dass die Meerenge an der südwestlichen Küste Jemens Bab al-Mandab (deutsch: Das Tor der Tränen), die lediglich 27 Kilometer breit ist, geopolitisch schon immer sehr wichtig war. Sie verbindet das Rote Meer mit dem Golf von Aden, trennt die Landmasse der Arabischen Halbinsel von der Afrikas und ist eines der Nadelöhre des europäischen Erdölmarktes (1). Solch eine strategisch wichtige Lage möchten die sunnitischen Akteure Saudi-Arabiens und ihre Verbündeten keineswegs in den Händen der Huthis sehen.
Jemen war stets von Kriegen, Intrigen und verschiedenen Interessengruppen beeinflusst worden, beispielsweise im 20. Jahrhundert von den Briten und den Sowjets (2).
Bei näherer Betrachtung der Geschichte des Jemens erkennt man schnell, wie kompliziert die Lage von Nord- und Süd Jemen immerzu war und die Spannungen nicht nur auf den Arabischen Frühling zurückzuführen sind. Der meist zitierte Satz des früheren Präsidenten Ali Abdullah Saleh: Wer Jemen regieren wolle, müsse über den Köpfen der Schlangen tanzen, verdeutlicht, wie kompliziert die Machtverteilung gewesen sein muss (3).
Die internen Intrigen lassen sich anhand Präsident Salehs politischem Kurs sehr schön aufzeigen. Saleh war von 1978 bis 2017 Präsident der Jemenitischen Arabischen Republik (Nordjemen) und von 1990 bis 2012 Präsident des geeinten Jemens, der Jemenitischen Republik. Gleich zu Beginn des Arabischen Frühlings verbündete er sich mit seinen früheren Feinden, den Huthi-Kämpfern, als seine eigene Macht zu schwinden begann. Die Huthi waren es dann auch, die Saleh 2017 töteten, als er die Allianz kündigte, um sich stattdessen wieder Saudi-Arabien politisch anzunähern (4).
Die Huthi spielten jedoch nicht nur in diesem Zusammenhang eine bedeutende Rolle. Im Westen liest man von einem Bürgerkrieg im Jemen zwischen den Huthi-Rebellen und der jemenitischen Regierung. Um die Lage jedoch besser verstehen zu können, sollte das direkte Einschreiten Saudi-Arabiens im Jahr 2015 in diesen Krieg näher betrachtet werden.
Iran und Saudi-Arabiens Militärkoalition 2015
Im Jemen geht eine Art von „Proxy War“ vonstatten. Diese Stellvertreterkriege sind seit dem Zweiten Weltkrieg keine Seltenheit und waren für den Kalten Krieg ebenso charakteristisch wie für den Krieg gegen den Terror oder für den Arabischen Frühling. Dessen ungeachtet, kann die Unterstützung des Irans für die Huthis nicht mit derjenigen der USA für die Mujaheddin in Afghanistan gleichsetzt werden. Auch ist die iranische Unterstützung, für die ohnehin keine ausreichende Beweislage besteht, nicht annähernd ins Verhältnis zu der von Saudi-Arabien geführten Militärallianz zu stellen.
Die sogenannten Huthi-Rebellen bestehen in ihrer Mehrheit aus Zaiditen, die dem schiitischen Islam folgen und gegen die Regierung Salehs und später Abed Rabbo Mansur Hadis gekämpft haben und ihre Kämpfe bis heute fortsetzen. Es gibt sie nicht erst seit dem Arabischen Frühling, sondern sie kämpften bereits seit ihrer Gründung gegen die Regierung Salehs. Ihr Slogan zeichnet die Parallelen zu der iranischen politischen Ideologie aus:
„Gott ist groß! Tod den USA! Tod Israel! Verdammt seien die Juden! Sieg dem Islam!“ (5).
Der Iran dementiert jede Beteiligung an diesem Krieg sowie die Unterstützung der Huthi-Kämpfer. Saudi-Arabien rechtfertigt dagegen seine „Militärallianz im Jemen“, seit dem Jahr 2015 unter dem Namen Operation Decisive Storm (deutsch: Sturm der Entschlossenheit oder Operation Entscheidungssturm), mit der Einmischung des Irans im Nachbarland Jemen und wollte die Macht des im Februar 2015 gestürzten Präsidenten Hadis, der im Exil in Saudi-Arabien weilte, wiederherstellen (6).
Die Koalition Saudi-Arabiens mit neun weiteren Ländern — wobei die USA, Großbritannien und Frankreich finanzielle und logistische Unterstützung zur Verfügung stellen — hat sehr große Auswirkungen auf den Krieg. Die „Jemen-Papers“ — ein 15 Seiten langer Bericht des französischen Militärgeheimdienstes (DRM) vom 3. Oktober 2018 — sind klassifizierte Dokumente, die die Waffenlieferung Frankreichs nach Saudi-Arabien beweisen und Diskussionen rund um die umstrittenen Waffenlieferungen auslösten (7).
Die Militärallianz Saudi-Arabiens ließ die Lage im Jemen endgültig eskalieren und löste eine humanitäre Katastrophe aus. Es kam zu einer Seeblockade an der Küste Jemens, sodass nur noch Hilfsgüter durchkamen, die jedoch nicht annähernd für die jemenitische Bevölkerung ausreichen (8).
Ein Kriegsverbrechen großen Ausmaßes
Die Huthi-Rebellen kämpfen für die Unabhängigkeit ihres Landes. Jeder Krieg ist ein schmutziger Krieg und gewiss tragen sie auch Verantwortung für das Leid der Bevölkerung. Was jedoch Saudi-Arabien und seine Verbündeten im Jemen angestellt haben, um ihre eigenen Interessen zu verfolgen, lässt sich unschwer als Kriegsverbrechen einordnen.
Als im Oktober 2018 der regimekritische Journalist Jamal Kashoggi im saudi-arabischen Konsulat in Istanbul ermordet wurde, waren die westlichen Staaten aufgrund des medialen und öffentlichen Interesses gezwungen, die Tat zu verurteilen und ihre Beziehungen zu Saudi-Arabien zu überdenken — oder zumindest so zu tun, als würden sie sie überdenken.
Ein Jahr nach der Ermordung Kashoggis äußert sich die deutsche Regierung über ihre Wirtschaftsbeziehungen mit den Saudis wie folgt:
„Wir sind zu dem Ergebnis gekommen, dass wir grundsätzlich ein Interesse an dieser Mission haben“, entgegnete ein Sprecher von Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD) der Kritik. Ein Sprecher des Innenministeriums sagte, die Kooperation sei „Bestandteil der deutsch-saudi-arabischen Zusammenarbeit in Sicherheitsfragen“. Dabei gehe es besonders um die Grenzsicherung. Diese sei „Voraussetzung für eine wirksame Terrorismusbekämpfung“ (9).
Wenn es um Saudi-Arabien geht, fallen in der westlichen Politik und im Mainstream weder die Begriffe Diktator, Menschenrechte, Al-Qaida-Unterstützung noch hat die Ermordung eines Journalisten eine Auswirkung auf die Beziehung zum Golfstaat.
Die Welt schaut einmal mehr zu
Nach dem ersten Corona-Lockdown in Europa konnte man sich die etablierte Medienwelt anschauen und deren Positionen und Berichterstattungen einordnen: Solch eine aufwühlende, neue und gleichzeitig beängstigende Zeit hatte die Menschheit seit Jahren nicht zu spüren zu bekommen. Zu sehen war, wie sich der sogenannte zivilisierte Westen in solchen Krisenzeiten verhält.
Zudem konnten wir sehr gut beobachten, wie die „Black-Lives-Matter-Bewegung“ nach der brutalen Ermordung George Floyds durch einen weißen Polizisten in den USA aufblühte und wie die Menschen auf der ganzen Welt auf Unrecht und Mord reagieren. Aber nicht weniger brutal geht es in dem Krieg zu, den die USA gemeinsam mit Saudi-Arabien im Jemen führen.
Ebenso wie die „Black-Lives-Matter-Bewegung“ ist auch der Krieg im Jemen von großer Bedeutung, deshalb sollte auch hierzu ein ebensolcher Aufschrei erfolgen. Medial und im öffentlichen Leben wird dieser Krieg nicht einfach „vergessen“, sondern systematisch ignoriert.
Die wenigsten westlichen Mainstream-Medien appellieren an internationales Recht und benennen die Verbrechen im Jemen beim Namen. Dabei sollte sich die westliche Gesellschaft gerade in der Zeit von Corona und Unsicherheit vorstellen können, wie Kinder und Familien in Kriegsregionen leben müssen.
Die Drohnenkriege und Luftangriffe im Jemen, kombiniert mit der Seeblockade und der Einkesselung des Landes, führen seit Jahren zu Tausenden Hungertoten, Choleratoten und ermordeten Menschen. Dies sollte international für Entrüstung sowie Protest sorgen und ein Fall für die internationalen Behörden werden.
Wir westlichen Gesellschaften schauen aber tatenlos zu, denn allzu mächtig sind die Kriegsparteien Saudi-Arabien und Co, von denen wir wirtschaftlich abhängig sind. Das schwarze Gold lässt die Machthaber in den Golfstaaten ihre eigene Politik, Terrorunterstützung und Unmenschlichkeit fortsetzen, ohne dass sie langfristige Sanktionen von den westlichen Staaten zu befürchten hätten.
Schnell ist erkennbar, wie einfach die Gedanken der Menschen in den westlichen Ländern zu lenken sind. Sie wissen vom Kriegsgeschehen im Jemen wenig, wenn nicht überhaupt nichts. Diese Ignoranz ermöglicht Unmenschlichkeit, und die logistische, finanzielle Unterstützung sowie die Waffenexporte nach Saudi-Arabien führen zu noch mehr Leid.
Im Jemen, das ist kein vergessener Krieg, sondern eine absichtlich ignorierte Tragödie auf der politischen Weltbühne, da Saudi-Arabien und seine Verbündeten keine Aufmerksamkeit für ihre Taten im Jemen wünschen.
Wir sollten uns angesichts der heiklen Lage in unserer zivilisierten Welt umso mehr fragen, ob wir Jemen weiterhin ignorieren oder auf diese Ungerechtigkeit mit Widerstand antworten sollten.
Quellen und Anmerkungen:
(1) Ganser, Daniele: Illegale Kriege. Wie die NATO-Länder die UNO sabotieren. Eine Chronik von Kuba bis Syrien, 5. Auflage, Zürich 2016, Seite 216, Seite 274.
(2) Al Jazeera English, Jemen: Die Nord-Süd-Kluft | Al Jazeera Welt, https://www.youtube.com/watch?v=tXk-k5oA1rs&t=2444s
(3) Faisal al-Yafai, Ali Abdullah Saleh: The last dance of Yemen’s snake-charmer, https://english.alarabiya.net/en/views/news/middle-east/2017/12/04/Ali-Abdullah-Saleh-The-last-dance-of-Yemen-s-snake-charmer
(4) April Longley Alley, Collapse of the Houthi-Saleh Alliance and the Future of Yemen’s War, https://www.crisisgroup.org/middle-east-north-africa/gulf-and-arabian-peninsula/yemen/collapse-houthi-saleh-alliance-and-future-yemens-war
(5) Wikipedia, https://de.wikipedia.org/wiki/Huthi
(6) Khairallah Khairallah, Operation Decisive Storm three years on, https://thearabweekly.com/operation-decisive-storm-three-years
(7) https://made-in-france.disclose.ngo/en/documents
(8) Yemenis in free fall one year since blockade, https://reliefweb.int/report/yemen/yemenis-free-fall-one-year-blockade
(9) Jasmin Sarwoko, Ein Jahr nach Khashoggi wieder business as usual?, https://www.zdf.de/nachrichten/heute/bundesregierung-will-wieder-mit-saudi-arabien-kooperieren-100.html