Der große Wurf

Nur ein Verfassungsreferendum könnte jene Volkssouveränität herstellen, die uns eigentlich versprochen war. Exklusivabdruck aus „Demokratie versus Parteienherrschaft“.

„Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“ ― und kehrt dann nie mehr zu ihm zurück. Die Parteien haben den Staat gekapert und agieren nach dem Motto „Hab ich erst mal ihre Stimme, sollen sie den Mund halten“. Die deutsche Bevölkerung durfte nie darüber abstimmen, ob sie mit „ihrem“ Grundgesetz überhaupt einverstanden ist. Nach der Wende wurde dessen Gültigkeitsbereich einfach auf die ehemalige DDR übertragen, obwohl nicht wenige in der Wendezeit der Meinung waren, dem Volk stünde eine neue, eigene Verfassung zu. Der Autor belässt es nicht bei vagen Forderungen. Er macht Vorschläge, was eine neue, wirklich vom Souverän getragene Verfassung enthalten könnte. Dabei greift er auf ein Vorbild zurück, das vermeintlich weit hergeholt ist: die von Evo Morales ausgearbeitete Verfassung Boliviens, die das Verbot von Kriegen, die Achtung vor Mutter Erde und das gute Leben („Vivir bien“) umfasst.

Das Prinzip der Volkssouveränität bestimmt das Volk zum souveränen Träger der Staatsgewalt.

Grundgesetz (GG) für die Bundesrepublik Deutschland Artikel 20 Absatz 2:

„Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.“

Die politisch-rechtliche Grundlage Deutschlands beruht demnach auf der verfassungsgebenden Gewalt des Volkes, die sich im Akt der Verfassungsgebung realisiert. Diesen Akt der Verfassungsgebung hat die deutsche Bevölkerung laut Artikel 146 GG dringender denn je nachzuholen, denn die damalige Bundesregierung unter Kanzler Helmut Kohl hat das Grundgesetz im Zuge der deutschen Wiedervereinigung, widerrechtlich zur gesamtdeutschen Grundordnung erklärt. Es wurde nach eigenem Ermessen gehandelt und der Artikel 146 GG sowie eine Befragung der Bevölkerung völlig ignoriert.

Diese Missachtung des Volkswillens ist keine Ewigkeitsentscheidung der damaligen Kammern, wie zum Beispiel die Grundrechte der Staatsbürger, die demokratischen Grundgedanken und die republikanisch-parlamentarische Staatsform. Diese dürfen auch im Wege einer Verfassungsänderung nicht angetastet werden. Nicht unbedeutend ist, dass selbst die Bundeszentrale für politische Bildung in einem Artikel ihrer Webseite Das Grundgesetz ― eine Verfassung auf Abruf die Möglichkeit einer Verfassungsgebung wie folgt beschreibt:

„Viele andere Verfassungen, angefangen bei der amerikanischen von 1787 oder der französischen von 1791 über die Frankfurter Paulskirchenverfassung von 1849 und die Weimarer Reichsverfassung von 1919, bedurften einer speziellen Norm zur Ablösung der alten Verfassung durch eine neue nach Art des Artikels 146 GG nicht, weil dort die Reichweite der verfassungsändernden Gewalt inhaltlich unbegrenzt war bzw. ist. In der Schweiz und in Österreich kann eine Verfassungsneuschöpfung im Wege der Totalrevision beziehungsweise der Gesamtänderung bewirkt werden. Deutlich wird durch diese Hinweise auch, dass es keineswegs eine völlig irreguläre Situation darstellt, wenn sich ein Volk das Recht vorbehält, seine politische Ordnung im Wege der Verfassungsgebung beziehungsweise der Verfassungsänderung grundsätzlich neu zu regeln. Wenn diese Möglichkeit für die Situation in Deutschland als ‚Sprengladung unter dem Fundament des Grundgesetzes‘ perhorresziert worden ist, so demonstriert das nur eine gewisse Fremdheit gegenüber dem selbstverständlichen Recht kollektiver politischer Selbstbestimmung. Jedenfalls leben mit dieser Freiheit sehr viele und ältere Verfassungsstaaten auf eine durchaus auskömmliche Art und Weise. Warum nicht auch wir?“ (79).

Es ist undenkbar, dass ein Verfassungsreferendum, das das Grundgesetz ablöst, von den politischen Parteien und den Interessenvertretern der Wirtschaft unterstützt wird. Die Symbiose zwischen beiden Machtbereichen, von der die Bürger ausgeschlossen sind, läuft doch insgesamt nach ihren Wünschen.

Eine zukunftsweisende Verfassungsgebung birgt für sie die Gefahr des Kontroll- und Machtverlustes, sodass ein von den Bürgern Deutschlands initiiertes Referendum erheblichen Widerstand der Herrschenden auslösen wird. Mehr noch: Durch die Vernetzung der Kapitalinteressen ist von einem globalen Widerstand auszugehen.
Wenn wir unsere Erde retten wollen, müssen wir die globalen Eliten entmachten und in Deutschland, beispielhaft für andere Gesellschaften, eine Verfassungsänderung bewirken.

Da die politisch-rechtliche Grundlage Deutschlands auf der verfassungsgebenden Gewalt des Volkes beruht, die sich im Akt der Verfassungsgebung realisiert, wollen wir diese Neue Grundordnung provozieren und daran mitwirken, sie zu realisierten. Auf dem Weg zu dieser Volkssouveränität sind die Parteienherrschaft und die Übermacht der Wirtschaft im Sinne wahrer Demokratie radikal zu verändern. Bisher bleiben sowohl liberale Staatskonzeptionen als auch staatszentrierte Demokratievorstellungen auf die Sicherung und den Ausbau der bestehenden liberal-kapitalistischen Demokratie fixiert. Die Aufhebung dieser Beschränkung in Richtung sozialer Emanzipation erfordert eine Form radikaler Kapitalismuskritik und Neuordnung.

Wie könnte nun eine zukunftsweisende, die Natur achtende Verfassung gestaltet sein? Welche Schwerpunkte sind zu setzen?

Wie schon erwähnt, muss diese Ordnung, wenn sie einen grundlegenden Wandel in unserer Welt bewirken soll, völlig andere Prioritäten erhalten. Die Leben spendende Natur soll in dieser Verfassung den absoluten Vorrang haben, weshalb sich ihr alles ― Ökonomie, Ökologie sowie menschliche Gesellschaften ― unterordnen müssen. Nur das wird uns vor dem zerstörerischen Kollaps der jetzigen Wirtschaftsordnung bewahren.

Seit der Wiedervereinigung beider deutschen Staaten gab es eine Reihe von Initiativen, eine Verfassung für Deutschland zu verwirklichen ― bisher vergeblich. Wir stützen uns mit unserem Veränderungswillen aber nicht nur auf den Artikel 146 GG und das beschriebene Versäumnis der Politiker, sondern auf die anhaltende Zerstörung unserer Lebenswelt und den drohenden Untergang menschlicher Zivilisation.

In Deutschland ist Volkssouveränität nur durch ein Verfassungsreferendum zu erreichen!

Die Verfassungsänderung des bolivianischen Staates unter seinem Präsidenten Evo Morales verdient große Aufmerksamkeit und kann primär für Deutschland beispielgebend sein: Nach einem Referendum gab sich das Volk Boliviens am 25. Januar 2009 per Volksentscheid eine neue Verfassung. Sie ist ein ermutigendes Beispiel für ein menschenwürdiges Leben bei Achtung und Bewahrung der gesamten Natur. Der Kontrast zu dem heutigen Menschen und Umwelt zerstörenden Demokratiesystemen könnte kaum schärfer sein.

Im Vorwort dieser Verfassung ist zu lesen:

„Aus der Tiefe der Geschichte kommend, inspiriert von den Kämpfen der Vergangenheit erschaffen wir heute einen neuen, auf Respekt und Gleichheit gründenden Staat, mit den Prinzipien Selbstbestimmung, Würde, Vervollkommnung, Solidarität, Harmonie und Gerechtigkeit in der Verteilung und Umverteilung des Sozialprodukts. Wir erschaffen einen Staat, in dem das Streben nach dem guten Leben vorherrscht, mit Respekt vor der wirtschaftlichen, sozialen, rechtlichen, politischen und kulturellen Vielfalt der Bewohner dieses Landes. Im gemeinsamen Zusammenleben soll jeder Mensch Zugang zu Wasser, Arbeit, Bildung, Gesundheit und Heim haben“ (80).

Das revolutionäre an dieser Verfassung ist, dass sie einen neuen Weg des sozialen Miteinander begründet und die richtigen Antworten auf viele Probleme unserer Zeit gibt. Außerdem ist sie darauf ausgerichtet ein gutes Leben für die Bürger zu ermöglichen, eines der primären Ziele demokratischer Staaten. Der Erfolg der seit 2009 geänderten Verfassung wurde im Juli 2017 überdeutlich, als Boliviens Präsident Evo Morales die totale Unabhängigkeit von Weltbank und Internationalen Währungsfonds IWF erklärte (81).

Dies sind einige der radikalen Schritte, die zur Verfassungsänderung Boliviens führten, an denen deutlich wird, weshalb die westlichen Demokratien, allen voran die USA, sich mit all ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln gegen den drohenden Machtverlust bis heute wehren:

  • Das Prinzip des guten Lebens ist als rechtliche Grundorientierung in die Verfassung aufgenommen. Wie keine zuvor schützt sie dazu das Individuum durch liberale staatsbürgerliche Rechte.
  • Erstmals wird die Mutter Erde als philosophisch-juristische Kategorie zur Sicherung des Allgemeinwohls in eine Verfassung aufgenommen.
  • Naturgüter und öffentliche Leistungen gelten als Menschenrecht und dürfen nicht privatisiert werden. Die natürlichen Ressourcen des Landes sind ab sofort gemeinschaftliche Güter gesellschaftlichen Eigentums.
  • Auch Land ist Gemeinschaftsgut und für Grundbesitz gilt eine Höchstgrenze von 5.000 Hektar. Wenn privates Land seine landwirtschaftliche und soziale Funktion nicht erfüllt, darf es vom Staat beschlagnahmt werden.
  • Wasser, Strom und Telefon sind zukünftig Menschenrechte, die kein privates Business, sondern eine öffentliche Dienstleistung sind. Wichtige Wirtschaftszweige wie Öl, Gas, Telekommunikation, Transport, Wasser und Strom werden daher Allgemeingut.
  • Erstmals erhalten die indigenen Völker Boliviens umfassende Rechte zur kulturellen Selbstbestimmung inklusive eigenständiger Verwaltung und Rechtsprechung.
  • Demokratie wird durch außerparlamentarische, kommunale und indigene Autonomien sowie durch Raum für Eigenverantwortung dezentralisiert.
  • Die Verfassung gewährt das einklagbare Recht auf Ernährung, Trinkwasser, kostenlose Bildung und Gesundheit sowie angemessene Bezahlung für jeden Bürger.

Der Geist, den die Verfassung trägt, lässt sich gut an den 10 Geboten ablesen, die die Erde, die Menschheit und das Leben retten sollen. Sie wurden von Boliviens Präsident Evo Morales verfasst und von ihm auf der UNO-Generalversammlung wie folgt vorgetragen:

„1. Mit dem Kapitalismus aufhören
Um den Planeten, das Leben und die menschliche Spezies zu erhalten, müssen wir mit dem Kapitalismus aufhören. Es ist Zeit, die finanziellen Schulden des Südens gegen die ökologischen Schulden des Nordens aufzurechnen.

2. Auf Kriege verzichten
Nichts und niemand kann sich aus einem Krieg ausschließen. Die Kriege sind die größte Verschwendung und Plünderung von Leben und der natürlichen Ressourcen.
Wir, die indigenen Völker des Planeten, müssen der Welt sagen, dass wir glauben, dass die Millionen und Millionen von Dollar, die heute in die Industrie des Todes investiert werden, in einen großen gemeinsamen Fonds gehen sollten, um den Planeten, die Menschheit und das Leben zu retten.

3. Eine Welt ohne Imperialismus und Kolonialismus
Das kapitalistische System trägt in seinen Eingeweiden den Imperialismus und den Kolonialismus. Den anderen zu beherrschen, den anderen zu unterwerfen, den anderen zu kontrollieren und den anderen unterzuordnen sind die Formen des Lebens dieses Modells der Entwicklung, die auf der Konkurrenz basiert und nicht auf der Ergänzung/Vollständigkeit.

4. Das Wasser als Recht aller Lebewesen
Ohne Wasser gibt es kein Leben. Der Grundwasservorrat geht weltweit zurück. Um uns mit dieser Weltkrise des Wassers auseinanderzusetzen, müssen wir damit anfangen, den Zugang zu Wasser als Menschenrecht zu erklären und folglich als eine öffentliche Dienstleistung, die nicht privatisiert werden kann. Wenn das Wasser privatisiert und vermarktet wird, können wir kein Wasser für alle garantieren. Es ist fundamental, den Zugang zu Wasser zum Menschenrecht zu erklären.

5. Saubere und umweltfreundliche Energiearten
Einige Daten ermöglichen, uns zu verstehen, was in der Welt im Hinblick auf die Anwendung von Energie und ihre Beziehung zur Natur vor sich geht. Die Entwicklung sauberer und umweltfreundlicher Energien ist eine weitere grundlegende Aufgabe zur Rettung des Planeten, der Menschheit und des Lebens.

6. Achtung vor der Mutter Erde
Der Schändung unserer Mutter Erde und aller ihrer Lebewesen werden wir mit der Kraft der Erkenntnis und der Liebe zur Schöpfung entgegenwirken. Die Erde kann nicht nur als eine natürliche Ressource angesehen werden. Wir respektieren die Natur, ehren unsere Mutter Erde und erkennen die Naturgesetze als höchstes Gesetz an.

7. Die Grunddienstleistungen als Menschenrecht
Der Zugang zu Wasser, Energie, Bildung, Kommunikation, Gesundheit und Transport ist ein Grundrecht, das jeder Staat seiner Bevölkerung als grundlegendes Menschenrecht garantieren muss. Diese Dienstleistungen können nicht zu privaten Geschäften gemacht werden. Sie müssen zur Grundlage der öffentlichen Dienste werden.

8. Verbrauchen, was notwendig ist, und Konsum des lokal Produzierten
Wir müssen Schluss machen mit dem Konsumismus, der Verschwendung und dem Luxus. Im ärmeren Teil des Planeten verhungern jedes Jahr Millionen Menschen; gleichzeitig werden im reicheren Teil des Planeten Millionen Dollar ausgegeben, um die Fettleibigkeit zu bekämpfen. Wir verbrauchen im Exzess, wir vergeuden Naturressourcen und produzieren Müll, der die Mutter Erde vergiftet. Verbrauchen, was notwendig ist, und dem Verbrauch dessen, was wir lokal produzieren, den Vorrang geben, das ist von erstrangiger Bedeutung, um den Planeten, die Menschheit und das Leben zu retten.

9. Respekt vor kultureller und wirtschaftlicher Vielfalt
Der Kapitalismus reduziert die Menschen auf ein Leben als Konsumenten. Wir ― die indigenen Völker dieses Planeten – glauben nicht an Einheitslösungen für alle. Menschen sind verschieden. Wir leben in Gemeinschaften mit Identitäten, mit eigenen Kulturen. Eine Kultur zu zerstören, die Identität eines Volkes anzugreifen – das ist der größte Schaden, den man der Menschheit zufügen kann.

10. Vivir Bien ― das gute Leben
Wir ― die indigenen Völker ― wollen einen Beitrag leisten für eine gerechte, vielfältige und ausgeglichene Welt, die einschließt und nicht ausgrenzt. Wir sagen Vivir Bien ― das gute Leben“ (80).

Die Vorstellung, dass sich die Grundsätze dieser Ordnung zukünftig in den Verfassungen der globalen Völker wiederfinden und wir Deutschen den Anfang von so etwas Großartigem machen, klingt nach einer wunderbaren Utopie.

Dass die Verwirklichung dieser Utopie von den Machteliten abgelehnt und bekämpft würde, beeinflusst unseren Antrieb, die dringend notwendigen Gesellschaftsveränderungen zu schaffen, keineswegs. Im Gegenteil.
Wir sind fest davon überzeugt, dass die Menschheit eine gerechtere Welt aufbauen kann, eine vielfältige Welt, eine Welt, die integriert und ausgeglichen ist, eine Welt im Einklang mit der Natur, mit der Mutter Erde. ― Und jeder Mensch, an jedem Ort in unserer Welt weiß, dass es jetzt an der Zeit ist.

„Und plötzlich weißt du: Es ist Zeit, etwas Neues zu beginnen, und dem Zauber des Anfangs zu vertrauen“ — Meister Eckhard.



Die Gemeinschaft für Frieden und Gerechtigkeit (GFG) ist eine Vereinigung politisch und gesellschaftlich engagierter Menschen mit verschiedenen beruflichen Hintergründen. Sie bündelt unterschiedliche Kompetenzen, Erfahrungen und Erkenntnisse, um aktuelle gesellschaftlich-politische Fragen zu erörtern und Alternativen für die Zukunft aufzuzeigen.


Quellen und Anmerkungen:

Auszug aus dem Buch der Gemeinschaft für Frieden und Gerechtigkeit „Demokratie versus Parteienherrschaft. Wege und Entscheidung zu einer wahren Demokratie“, tredition, 2020, Seite 129 bis 133.