Der Gott der Reichen
Der Hype um das Neun-Euro-Ticket beweist: Der Markt bedient nur Kaufkraft, den Bedarf deckt er nicht.
Das Neun-Euro-Ticket, über das der Bundestag am 19. Mai 2022 entschieden hatte, hat einen Run auf die Bahn ausgelöst. Überfüllte Züge platzen aus allen Nähten, das marode Schienennetz ist am Ende. Der einst versprochene bessere Service durch Privatisierung entpuppte sich als Ammenmärchen der Apologeten eines „gottgleichen“ Marktes, der angeblich das alternativlos Beste für alle sei.
Ohne Moos nix los
Der Markt ist ein moderner Gott. Mal „reagiert“ er „unruhig“, mal „verhalten“. Seine „unsichtbare Hand“, so das Versprechen seiner Verfechter, beschere uns Innovation und Fortschritt, Freiheit und Glück. Was sollte dieser Gott mit seinem Dauerwettbewerb nicht schon alles regeln: gut ausgestattete und effiziente Kliniken zum Beispiel. In Wahrheit führte deren Privatisierung um so mehr zu exorbitantem Personalmangel und der Schließung wenig lukrativer Sparten, allen voran Kinderkliniken und Kreißsäle.
Auch der Deutschen Bahn sollte dieser Schritt 1994 zu besseren Leistungen für Fahrgäste und mehr Effizienz verhelfen. Doch nun lässt das Neun-Euro-Ticket die Züge, Busse und Bahnen aus allen Nähten platzen. Nutzer erfahren, wie es ist, stundenlang stehend zu reisen, eingepfercht wie eine Presswurst zwischen anderen Fahrgästen. Züge mussten geräumt werden, das veraltete Schienennetz entpuppt sich als marode Katastrophe, und natürlich: Das eisenhart und repressiv von der Bundesregierung bekämpfte Coronavirus mag nach deren Ansicht wohl auch nicht die stickigen, schweißgetränkten Zugabteile.
Der Run auf das Supersparangebot zeigt deutlich: Der Bedarf ist da, aber vielen fehlt gewöhnlich das Geld dafür. Ohne „Moos“ ist eben nichts los.
Das Verkehrsnetz taugt schon längst nicht mehr dafür, den tatsächlichen Bedarf in der Bevölkerung zu decken, von den Bedürfnissen ganz zu schweigen. Denn wahr ist: Der Markt, angeblich das Beste für die Menschheit, diente nie den Interessen der Mehrheit.
Er soll die kaufkräftige Nachfrage befriedigen. Das ist ein großer Unterschied.
Privatisierung und Preisexplosion
Den Marktapologeten waren die Probleme durchaus vor der Einführung des bis Ende August befristeten Monatstickets zum Sparpreis bewusst. Sie warnten vor den jetzt ersichtlichen Zuständen mit übervollen Zügen und Bahnhöfen. Ihnen ist natürlich klar, dass der Nahverkehr in den vergangenen Jahren für immer mehr Menschen zum puren Luxus wurde. Tickets für darauf angewiesene Pendler fressen immer größere Summen aus den Lohntüten. Von Wochenendreisen können immer mehr Familien nur noch träumen.
Dazu ein Beispiel: Kurz nach ihrer Privatisierung führte die Bahn 1995 das sogenannte „Schönes-Wochenende-Ticket“ ein. Anfangs konnten damit bis zu fünf Personen für 15-D-Mark das ganze Wochenende, also zwei Tage lang, mit dem Nahverkehr durch Deutschland reisen. Nur vier Jahre später benötigten dieselben fünf Reisenden bereits jeweils ein Ticket pro Tag für je 35 D-Mark. Insgesamt mussten sie das Fünffache ausgeben.
Wollen diese fünf Personen heute zwei Tage lang am Wochenende einen Ausflug mit dem Nahverkehr unternehmen, können sie sich immer noch ein „Sparangebot“ kaufen: Zwei „Quer-durchs-Land-Tickets“, die das alte abgelöst haben, für je 70 Euro sind dazu inzwischen nötig. Das ist ein Anstieg um das 18-Fache in 27 Jahren, wenn man mit dem Eurokurs bei seiner Einführung rechnet. Ein Blick in eine Tabelle des Statistischen Bundesamtes offenbart derweil: In den 27 Jahren dazwischen verdoppelten sich die Durchschnittslöhne nicht einmal. Und die Hartz-IV-Sätze stiegen seit 2005 gerade einmal um 30 Prozent.
Negative „Innovation“ für mehr Gewinn
Die im Jahr 1994 frohlockend von der Politik verkündete Serviceverbesserung durch die Privatisierung der Bahn entpuppte sich schnell als Märchen. Einem Rückblick des Deutschlandfunks von 2019 zufolge halbierte die Bahn in den darauffolgenden 25 Jahren ihre Belegschaft und legte zahlreiche Strecken still. Offenbar sparte sie massiv an der Wartung des Equipments, denn auch das kostet Geld. Private Konzerne müssen eben Profit einfahren, koste es, was es wolle.
Extremer Preisanstieg, halbierte Belegschaft und fehlende Wartung haben Konsequenzen. Diese negative Innovation für höhere Gewinne bekamen Fahrgäste deutschlandweit beispielsweise im März 2018 zu spüren. Keine 20 Zentimeter Neuschnee brachten ausgerechnet am Wochenende der Leipziger Buchmesse fast den gesamten Schienenverkehr in Deutschland zum Erliegen. Verzweifelte Menschenmassen saßen bei Minusgraden in Bahnhöfen fest, viele sogar über Nacht.
Damals führte ich mit dem erfahrenen Lokführer Bernd Sickert dazu ein Interview für die junge Welt. Er sagte, zwar habe die Bahn für solche Fälle ganz innovativ Weichenheizungen installiert. Aber das Personal fehlte, um die Weichen von Verwehungen zu befreien. So tauen die Heizungen den Schnee zwar erst einmal auf, aber der ständig hinzukommende Neuschnee führt zur Vereisung. Die Weichen froren also zu und nichts ging mehr. In zwei Tagen schaffte es die Bahn nicht, das Problem vollständig zu beheben.
„Preisschock“ schon angekündigt
Die Logik des hochgelobten Marktes hat noch mehr Tücken parat. Nicht nur, dass die Subventionen für das Neun-Euro-Ticket — die Bahn muss schließlich Gewinn einfahren — aus dem von der arbeitenden Mehrheit gefüllten Steuertopf stammen: Nach dem Auslaufen des Subventionsprogrammes dürfte im Herbst ein „Preisschock“ folgen, warnte Ingo Wortmann, Präsident des Verbands Deutscher Verkehrsunternehmen, schon mal vorab.
Denn steigende Energiepreise machen auch vor der Bahn nicht halt. Und diese müsse die Bahn natürlich, resümierte Wortmann, „auf die Fahrpreise umschlagen“. Würde dies verboten oder trage keine profitablen Früchte, so der Verbandspräsident, müsse man eben alternativ „das Angebot einschränken“.
Mit anderen Worten: Die Bahn erhöht die Preise, spart zugleich beim Personal und bei der Wartung, um ihre Gewinnmarge zu halten. Aber immer weniger Menschen können sich das Bahnfahren leisten.
Zumal die wirklich Wohlhabenden vermutlich eher selten mit Bus und Bahn von A nach B fahren. Kommt nicht mehr genug Geld in die Konzernkasse, weil die Inflation den Inhalt vieler Konten und Portemonnaies schrumpfen lässt, werden Strecken eben dichtgemacht. Was sich nicht rentiert, kommt weg — so geht Kapitalismus.
Dem „Gott“ die Ware Arbeitskraft entziehen
Das logische Ende vom Lied kann sich jeder denken: Wenn sich kein potenzieller Nutzer mehr den Nahverkehr leisten kann, wird er eben abgeschafft. Denn der Markt sorgt schließlich dafür, dass nur Konzerne florieren, die aus Geld erquicklich mehr Geld machen — der einzige, traurige Sinn und Zweck, den der gelobte Markt jeder Produktion und Dienstleistung zugesteht, um bestehen zu können.
Wie dann Millionen zu ihren Arbeitsstellen gelangen sollen, interessiert den Markt und seine Apologeten freilich nicht. Es sei denn, die Millionen einigten sich auf einen Generalstreik. So könnten die „kleinen Leute“ dem ominösen Gott der Reichen durchaus die am dringendsten benötigte Ware entziehen: Arbeitskraft.
Die herrschenden Eigentümer der Produktionsmittel jedenfalls brauchen Bus und Bahn genauso wenig wie öffentliche Krankenhäuser. Sie verfügen über ganz andere Möglichkeiten, ihre Probleme zu lösen. Und sie können ihr Geld auch anders vermehren, indem sie etwa in Biotechnologie oder Rüstungsgüter investieren. — Auch dort arbeiten übrigens Lohnabhängige! — Denn Pandemien und Kriege gehen ersichtlich immer. Der Markt ist eine Spielwiese für Reiche.
Trotzdem sollten die Ärmeren, so sie gesundheitlich können, das befristete, scheinheilige Sparticket leidlich nutzen. Wer weiß, wann wir mit Kind, Enkel und Kegel mal wieder so günstig rauskommen, um Freunde und Verwandte zu treffen oder einfach Urlaub zu machen. Kriege, Bioterror und Inflation dürften uns noch einiges abverlangen in naher Zukunft.