Der Gesundheitsterror
Mit dem neuen Paradigma der „Biosicherheit“ wird die Weltgesellschaft in einer Weise umgestaltet, von der frühere Faschisten nur träumen konnten.
Wie beraubt man die Menschen ihrer grundlegenden Rechte und greift in nie dagewesener Weise selbst in ihre intimsten Beziehungen zueinander ein? Wie digitalisiert man den sozialen Kontakt, zerstört Solidarität und atomisiert funktionierende Gesellschaften? Wie schafft man das so, dass sich selbst sonst sehr kritische Kräfte wie Grüne und Linke in dieses totalitäre Umgestaltungsprojekt einbinden lassen? Die Lösung liegt in der Kreation einer Bedrohung von ungeahntem Ausmaß, die alle Bürger zu disziplinieren imstande ist — stärker noch als bei angeblicher terroristischer Gefahr. Das Thema Gesundheit aktiviert nicht nur unweigerlich archaische Ängste fast aller Menschen, es tarnt die Anpassung an die Diktatur als Altruismus und delegitimiert selbständiges Denken. Die geniale Konstruktion der Architekten dieser neuen Weltordnung lautet: Wir ersetzen das bisherige Recht auf Gesundheit durch eine Gesundheitspflicht.
An den Reaktionen auf die Ausnahmeregelungen, die in unserem Land (und nicht nur in diesem) erlassen wurden, sticht die Unfähigkeit ins Auge, sie aus einer Perspektive jenseits des unmittelbaren Kontextes ihres Funktionierens zu betrachten. Nur wenige versuchen, sie anstelle dessen, wie es eine ernsthafte politische Analyse verlangen würde, als Symptome und Anzeichen eines weitreichenderen Experiments zu verstehen, bei dem ein neues Paradigma, wie Menschen und Dinge zu regieren seien, zur Disposition steht.
In einem vor sieben Jahren erschienenen Buch, das noch einmal sorgfältig zu lesen jetzt lohnt („Tempêtes microbiennes“, Gallimard 2013), beschrieb Patrick Zylberman bereits den Prozess, durch den Sicherheit in Fragen der Gesundheit, die bislang in den politischen Kalkülen nur am Rande auftauchte, zu einem wesentlichen Bestandteil staatlicher und internationaler politischer Strategien wurde. Es handelt sich um nicht weniger als die Kreation einer Art von „Gesundheitsterror“ als Instrument, um das zu managen, was als worst case scenario, als Szenario des schlimmsten Falles also, definiert wurde. Dieser Logik des größten Übels gemäß hatte die Weltgesundheitsorganisation bereits 2005 „zwischen zwei und 150 Millionen Todesfälle durch die bevorstehende Vogelgrippe“ prophezeit und so eine politische Strategie nahegelegt, die die Staaten zu diesem Zeitpunkt noch nicht zu akzeptieren bereit waren. Zylberman zeigt, dass das vorgeschlagene Instrumentarium auf drei Punkten fußte:
- die Konstruktion eines fiktiven Szenarios auf Basis eines möglichen Risikos, wobei die Präsentation der Daten in einer Weise geschieht, die ein Verhalten begünstigt, das ein Regieren in extremer Lage erlaubt;
- die Übernahme einer Logik des größten Übels als Lebenshaltung politischer Rationalität;
- die vollständige Organisation der Bürgerschaft in einer die Anhänglichkeit an die Regierungsinstitutionen weitestmöglich stärkenden Weise, wodurch eine Art Gemeinsinn der Superlative entsteht, bei dem die auferlegten Pflichten als Ausweis von Altruismus dargestellt werden und der Bürger nicht mehr ein Recht auf Gesundheit (health safety) hat, sondern von Gesetzes wegen zur Gesundheit verpflichtet wird (biosecurity).
Was Zylberman 2013 beschrieb, ist nun haargenau eingetreten. Es ist offensichtlich, dass es über diesen an ein bestimmtes Virus, das demnächst einem anderen weichen mag, geknüpften Notstand hinaus um das Design eines Regierungsparadigmas geht, dessen Effizienz die aller Regierungsformen, die die politische Geschichte des Westens bisher gesehen hat, bei Weitem übersteigt.
Während Sicherheitsgründe bereits im fortgeschrittenen Zerfall der Ideologien und politischen Überzeugungen erlaubt hatten, die Bürger zur Akzeptanz von Freiheitseinschränkungen zu bewegen, die sie zuvor nicht zu akzeptieren bereit waren, vermochte die Biosicherheit, die absolute Einstellung aller politischen Aktivitäten und aller sozialen Beziehungen zur höchsten Form der Bürgerbeteiligung zu erheben. So konnte man beobachten, wie linke Organisationen, traditionell gewohnt, Rechte einzufordern und Verfassungsbrüche anzuprangern, vorbehaltlos Freiheitsbeschränkungen akzeptierten, die durch Ministerialdekrete bar jeder Legalität beschlossen wurden und die zu erzwingen nicht einmal der Faschismus je zu träumen gewagt hätte.
Es liegt auf der Hand — und die Regierungsvertreter selbst erinnern uns unaufhörlich daran —, dass das so genannte „Social Distancing“ zum Modell der Politik werden wird, die uns erwartet, und dass man (wie die Vertreter einer so genannten Task Force, deren Mitglieder in einem eklatanten Interessenkonflikt mit der Funktion stehen, die sie ausüben sollen, angekündigt haben) diese Distanzierung nutzen wird, um allerorten menschliche Beziehungen in ihrer Körperlichkeit — als solche unter Ansteckungsverdacht geraten (politischer Ansteckung, versteht sich) — durch digitale Technologie zu ersetzen.
Die universitären Vorlesungen werden, gemäß der schon erfolgten Empfehlung des MIUR, ab nächstem Jahr permanent online stattfinden, man wird sich nicht mehr am Gesicht wiedererkennen, welches durch einen Mundschutz verdeckt sein kann, sondern mittels digitaler Geräte, die biologische Daten identifizieren, die zwingend erhoben werden müssen, und jede „Versammlung“, ob sie nun politisch motiviert ist oder einfach aus Freundschaft geschieht, wird verboten bleiben. Es geht um einen umfassenden Begriff vom Schicksal menschlicher Gesellschaften aus einer Perspektive, die in mannigfaltiger Weise die apokalyptische Idee des Weltuntergangs von den im Niedergang befindlichen Religionen übernommen zu haben scheint.
Nachdem die Politik durch die Wirtschaft ersetzt wurde, wird man nun, um regieren zu können, auch diese in das neue Paradigma der Biosicherheit, dem alle anderen Ansprüche zu opfern sind, integrieren müssen.
Es ist legitim, sich die Frage zu stellen, ob eine solche Gesellschaft noch als menschliche bezeichnet werden kann oder ob der Verlust sinnlicher Begegnungen, des Gesichts, der Freundschaft, der Liebe wirklich durch eine abstrakte und wohl auch völlig fiktive Gesundheitssicherheit kompensiert werden kann.
Redaktionelle Anmerkung: Dieser Text erschien unter dem Titel „Biosicurezza e politica“ zuerst auf Quodlibet. Er wurde vom ehrenamtlichen Rubikon-Übersetzungsteam übersetzt und vom ehrenamtlichen Rubikon-Korrektoratsteam lektoriert.