Der gelenkte Aufstand

Die Proteste im Libanon, anfangs durch soziale Nöte der Bevölkerung motiviert, werden von westlichen Mächten instrumentalisiert.

Seit einem Monat halten Proteste im Libanon an, Straßenblockaden legen den Alltag lahm. Die Demonstranten wollen nach der Regierung auch den Präsidenten sowie das Parlament zur Aufgabe zwingen, obwohl diese erst vor eineinhalb Jahren mit deutlicher Mehrheit gewählt worden waren. Gesprächs- und Reformangebote werden abgelehnt, eine politische Führung fehlt. Was wollen die Leute? Worum geht es?

Südlich von Beirut, unweit des Vorortes Khalde wurde am Dienstag ein Mann tödlich getroffen, als Soldaten unter dem Einsatz von Schusswaffen versuchten, eine Menschenansammlung nach einem heftigen Streit von einer wichtigen Verkehrskreuzung zu vertreiben. Der Mann, dessen Name mit Alaa Abou Fakher angegeben wird, war Mitglied der Progressiven Sozialistischen Partei (PSP), für die er im Stadtrat von Khalde saß. Der PSP-Vorsitzende und Drusenführer Walid Jumblatt forderte die Demonstranten auf, „auf den Staat zu zählen“, weil „das Land sonst ins Chaos gestürzt“ werde. Die Armeeführung leitete eine Untersuchung gegen den betreffenden Soldaten ein.

Präsident Michel Aoun äußerte sich am Dienstag im Rahmen eines Interviews mit dem Sender Al Mayadeen zu den Forderungen der Demonstranten nach einer Regierung aus Technokraten. „Eine Regierung nur aus Technokraten kann nicht die Politik des Landes bestimmen“, so Aoun. Er wolle eine Regierung je zur Hälfte aus Technokraten und Politikern bilden.

Die Demonstranten forderte Aoun auf, nach vier Wochen Protesten das Land wieder freizugeben: „Wenn Sie so weitermachen, zerstören Sie den Libanon und Ihre eigenen Interessen.“ Man arbeite „Tag und Nacht daran, die Lage zu stabilisieren“. Auf die Frage, ob der zurückgetretene Ministerpräsident Saad Hariri in sein Amt zurückkehren werde, erwiderte Aoun, noch sei nichts entschieden. Zwischenzeitlich war der ehemalige Finanzminister Mohammad Safadi vorgeschlagen worden, das Amt des Ministerpräsidenten zu übernehmen. Nur nach wenigen Tagen zog Safadi seine Zustimmung zurück. IWF und Weltbank warten schon.

Am vergangenen Wochenende hatte die Weltbank den Libanon aufgefordert, „innerhalb einer Woche“ ein neues Kabinett zu berufen, um den weiteren wirtschaftlichen Absturz zur stoppen. Libanon ist hoch verschuldet, und obwohl die im Ausland lebenden Libanesen Milliarden von US-Dollar auf den libanesischen Banken haben, können sie über ihr Geld nicht verfügen. Die Banken haben seit Jahren private Einlagen an die libanesische Zentralbank zur Finanzierung der Regierungsgeschäfte abgegeben, erklärte der Leiter der Zentralbank Riad Salame kürzlich in einem CNN-Interview. Man habe den Banken bis zu 20 Prozent Zinsen zugesagt.

Doch wurden weder die Zinsen bezahlt noch das geborgte Geld zurückgegeben. Seit Wochen bleiben die Banken geschlossen und haben nur vereinzelt für wenige Stunden geöffnet. Inhabern von US-Dollar-Konten bleibt der Zugang zu ihrem Geld verwehrt, in den Banken soll es teilweise zu Handgreiflichkeiten zwischen den Kontoinhabern und dem Bankpersonal gekommen sein. Geldautomaten, die bis Anfang Oktober noch US-Dollar und Libanesische Währung ausgaben, stellen nur noch Libanesische Pfund (LBP) zur Verfügung. Die Landeswährung, die seit dem Ende des Bürgerkrieges 1990 mit 1.500 pro 1 US-Dollar gebunden ist, hat an Wert verloren. Auf dem Schwarzmarkt kostet ein US-Dollar inzwischen bis zu 2000 LBP.

Preise für Lebensmittel sind bis zu 20 Prozent gestiegen, auch private Strom- und Wasserversorger verlangen mehr. Hart trifft es ausländische Arbeitskräfte, die in Hotels und privaten Haushalten arbeiten und ihren monatlichen Lohn in US-Dollar erhalten. Meist wird ein großer Teil des Geldes in die Heimatländer der Arbeiter überwiesen, wo sie ihre Familien unterstützen. Arbeitgeber haben keinen Zugang zu ihrem US-Dollarvermögen und geraten mit der Zahlung in Verzug. Der Anstieg der Lebenshaltungskosten führt dazu, dass die Arbeiter mehr verlangen, um den Preisanstieg ausgleichen zu können.

Neue Kredite nur bei Verkauf des Tafelsilbers

Am Dienstag traf sich Präsident Aoun mit Vertretern der Internationalen Unterstützungsgruppe, in der die UNO, China, Frankreich, Deutschland, Italien, Russland, Großbritannien und die USA sowie die Europäische Union und die Arabische Liga vertreten sind.

Westliche Staaten sowie der Internationale Währungsfonds und die Weltbank fordern vom Libanon den Verkauf staatlichen Tafelsilbers wie beispielsweise den lukrativen Mobilfunk- oder den Elektrizitätssektor. Um bei der Geberkonferenz in Paris 2018 (CEDAR) zugesagte Kredite zu erhalten, soll die Privatisierung vorangetrieben werden.

Begierig sind Investoren auch auf den Öl- und Gassektor, dessen Exploration im östlichen Mittelmeer wegen Grenzstreitigkeiten mit Israel noch nicht begonnen hat.

Von den arabischen Golfstaaten, die im Libanon seit Ende des Bürgerkriegs Milliardensummen investiert haben, bleibt Hilfe weitgehend aus. Lediglich das Golfemirat Katar zahlte im Juni 500 Millionen US-Dollar an die Regierung. Die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) haben neue Investitionen zwar zugesagt, bisher aber nichts überwiesen. Saudi-Arabien, das Milliarden von US-Dollar zur Unterstützung von Saad Hariri im Libanon investiert hat, hält ebenfalls sein Geld zurück. Grund dafür ist der wachsende Einfluss der libanesischen Hisbollah, die mit einem Bündnis aus den Wahlen im Mai 2018 als Sieger hervorging. In der Regierung, die nach dem Rücktritt von Ministerpräsident Saad Hariri vor zwei Wochen nur noch eine Übergangsregierung ist, ist das Hisbollah-Bündnis mit vier Ministern vertreten.

Der ursprünglich von wirtschaftlichen Sorgen ausgelöste Aufstand von Hunderttausenden Libanesen Mitte Oktober wird inzwischen von Kräften instrumentalisiert, die nicht nur die Regierung, sondern auch das Parlament zu Fall bringen wollen.

Verschiedene Parteien, darunter auch die Libanesischen Kräfte, mobilisieren ihre Anhänger auf die Straßen und lehnen bisher jedes Angebot ab. Das Bündnis um die Hisbollah und die Freie Patriotische Bewegung, der auch Präsident Michel Aoun angehört, fordern zum Dialog auf und drängen die Demonstranten, die Straßen freizugeben. Die Kommunistische Partei des Libanon (KP), die vor allem im Süden des Landes eng mit der Hisbollah kooperiert, hatte Mitte Oktober die Proteste zu Beginn teilweise angeführt. Ein Gesprächspartner der KP, der namentlich nicht genannt werden wollte, räumte ein, dass inzwischen andere Kräfte versuchen, die Proteste zu steuern. Die Lage sei unklar und gefährlich.

Ähnlich beschreibt Sofia Saadeh, emeritierte Professorin für neue Geschichte des Mittleren Ostens in Beirut, die Situation. Anfangs sei es um gerechte Löhne, um Strom, Wasser, Gesundheitsversorgung gegangen, die Leute hätten gegen Korruption protestiert. Nun ähnelten die Parolen denen, die man aus Syrien kenne: „Sie wollen den Sturz des Regimes, aber im Libanon gibt es kein Regime wie in Syrien.“ Nicht nur die Regierung, auch der Präsident und vor allem das Parlament sollten gehen, beschreibt Saadeh die Forderungen der Demonstranten. „Regierung und Präsident haben zum Dialog eingeladen, Reformvorschläge gemacht, das Parlament soll darüber beraten. Aber die Leute wollen mit niemandem reden. Was wollen sie?“

Sie sei der festen Überzeugung, dass die berechtigte Kritik der Bevölkerung an den vielen Missständen benutzt werde, um die Regierung zu stürzen, der die Hisbollah angehöre. Das Parlament sei schließlich erst vor eineinhalb Jahren gewählt worden, doch die USA hätten das Ergebnis wegen des starken Abschneidens der Hisbollah und ihres Bündnisses von Anfang an abgelehnt.

Hintergrund des Konflikts sei die schlechte ökonomische Lage, die sich mit den US-Sanktionen gegen die Hisbollah verschärft habe.

Hisbollah fordert Handel mit dem Osten

Der Vorsitzende der Hisbollah, Hassan Nasrallah, kritisierte am Montag den ökonomischen und finanziellen Druck der USA gegen den Libanon scharf. Die USA verhindere den Kapitalfluss in den Zedernstaat, davon seien auch chinesische Investitionen betroffen. Libanon werde bedroht, weil es mit seinen natürlichen Nachbarn Syrien, Irak oder dem Iran Handel treibe. Der Druck sei so groß, dass libanesische Firmen inzwischen Angst hätten, in Syrien zu investieren, so Nasrallah. Das Land müsse sich davon frei machen und solle eine eigene Landwirtschaft und Industrie aufbauen. Chinesische Investitionen dafür seien zugesagt, das sei im nationalen Interesse.

Der „Markt im Irak ist eine historische Gelegenheit für den Libanon“, so Nasrallah weiter. Der anhaltende Streit um die Seegrenze mit Israel entlang der Öl- und Gasvorkommen im östlichen Mittelmeer verhindere, dass der Libanon sein Öl und Gas fördern könne.

Strafrechtliche Ermittlungen gegen Politiker und Offizielle wegen möglicher Korruption unterstütze man, so Nasrallah weiter. „Sollte es einen Fall geben, der mit einem Vertreter der Hisbollah zu tun hat, fordere ich Sie auf, mit uns anzufangen. Ich garantiere Ihnen den Respekt der Hisbollah.“