Der gefallene Sozialdemokrat
An das friedenspolitische Erbe der SPD kann sich Bundeskanzler Olaf Scholz wohl nicht mehr erinnern — bei einer Rede beschimpfte er Friedensaktivisten als „gefallene Engel“.
Volksparteien füllen normalerweise öffentliche Plätze. Davon konnte allerdings nicht die Rede sein, als Bundeskanzler Olaf Scholz am 18. August auf dem Münchner Marienplatz sprach, anlässlich des SPD-Wahlkampfauftakts in Bayern. Knapp die Hälfte des großen Platzes vor dem Münchner Rathaus war mit Leuten bevölkert, die des Kanzlers wegen gekommen waren. Von diesen war wiederum nur knapp die Hälfte gewillt, Scholz zuzujubeln. Die andere Hälfte war an diesem prügelheißen Tag erschienen, um den Cum-Ex-Kanzler mit Trillerpfeifen und Buhrufen zu empfangen. Dieser in mehrfacher Hinsicht aufgeheizte Freitagnachmittag war symptomatisch für das gespaltene Deutschland 2023: einfache Bürger, die sich gegenseitig fast an die Gurgel gehen; eine dysfunktionale Infrastruktur, die die Kundgebung behindert; eine sozialdemokratische Volkspartei, die eher wie ein Schatten ihrer selbst wirkt und auf der Bühne nur noch wie eine wenig beachtete Vorband auftritt. Folglich kann die SPD offenkundig nur noch durch Provokationen auf sich aufmerksam machen. Statt an das friedenspolitische Erbe der Sozialdemokratischen Partei anzuknüpfen, bespuckte Olaf Scholz ebendieses, indem er Friedensaktivisten als „gefallene Engel aus der Hölle" beschimpfte. Ein analytischer Vor-Ort-Bericht.
Stell dir vor, es gibt eine SPD-Kundgebung und keiner geht hin. Die geringe Besucherzahl an diesem Freitagnachmittag war freilich nicht allein mit der schwindenden Popularität der ehemaligen Volkspartei zu erklären. In dieser Woche verkehrte in der Münchner Innenstadt aufgrund der sogenannten „Stammstreckensperrung“ baustellenbedingt keine S-Bahn. Ganz normal in der Industrienation Deutschland im Jahre 2023.
Somit war der Marienplatz einzig und allein mit der vertikal verlaufenden U-Bahn erreichbar, während etwaige SPD-Anhänger aus dem Westen und Osten Münchens oder aus den Vorstädten der bayerischen Landeshauptstadt im Grunde genommen nur über lange Umwege zum Rathaus gelangen konnten. Und das in einer SPD-Stadt.
Wie voll der Marienplatz unter „normalen“ Umständen — was ist heute schon „normal“? — gewesen wäre, darüber kann nur spekuliert werden. Doch selbst wenn doppelt so viele SPD-Anhänger zugegen gewesen wären, hätten sie niemals den gesamten Marienplatz gefüllt. Sowohl vonseiten der Anhänger als auch der Gegenprotestanten waren circa je tausend Menschen anwesend. Die übrige Durchlaufmenge bestand aus Bummlern und Touristen, die zufällig in den Auftritt des Kanzlers hineinspazierten und die ganze Veranstaltung wohl schlicht als Zufallsereignis betrachteten, welches man sich beiläufig ansieht, vielleicht auf einem Handyfoto festhält, um dann desinteressiert weiterzugehen.
Trotz Bundeskanzler-Besuch — die Hälfte des abgesperrten Bereichs ist menschenleer. Foto: Nicolas Riedl
Im Vorfeld hatte die außerparlamentarische Corona-Opposition Münchens für Gegenproteste mobilisiert. Dies rief wiederum die Lokalblätter auf den Plan, zu verkünden, dass die AfD und eine imaginierte Querdenker-Szene — die es in München schon lange nicht mehr gibt — Gegenproteste organisieren würden. Ist es nicht bemerkenswert, dass die Gegenproteste zum Kanzlerauftritt ein größerer Aufhänger sind als der Auftritt selbst? Die Intention hinter der Hofberichterstattung ist mehr als eindeutig. Die Blätter — allen voran der Lokalteil der Süddeutschen Zeitung — stehen hinter dem Kanzler und mobilisierten mit diesen Meldungen weitere SPD-Anhänger, damit der zu erwartende Schwall an Pfiffen und Buhrufen nicht derart anschwillt, dass er medial nicht mehr kaschiert werden kann. Zugleich wurde hier unverkennbar die Opposition entsprechend geframed: „Rechts“, „AfD“, „Querdenker“. Mit anderen Worten: Wer nicht für den Kanzler ist, ist rechts.
Der Marienplatz-Kessel
Den Marienplatz dürften manche der Gegendemonstranten — und auch ich — nach den „drei Jahren“ mit anderen Augen sehen. Nicht einmal zwei Jahre ist es her, dass hier an diesem Ort Maßnahmenkritiker bei Winterkälte stundenlang eingekesselt und mit Ordnungsgeldern im vierstelligen Bereich bedroht wurden. Es ist schon sehr zynisch, dass nun genau an diesem entweihten Ort in wenigen Minuten wieder substanzlose Loblieder auf unsere vermeintlich so gut funktionierende Demokratie gesungen werden. Es ist der gleiche Ort wie damals. Die Temperaturen mögen zwar gänzlich anders als im Dezember 2021 sein, doch abermals ist der Platz aufgeheizt — dieses Mal sogar im zweifachen Sinne.
Noch bevor Florian von Brunn, Vorsitzender der Bayern-SPD, und darauffolgend Olaf Scholz die Bühne betraten, kam es zu ersten Reibereien unter den Zuhörern. Dabei handelte es sich gar nicht mal ausschließlich um „Antifas“ oder Agent Provocateurs, sondern um ganz einfache Bürger mittleren Alters in unauffälligen Freizeitklamotten, die sich gegenseitig anbrüllten und beinahe physisch aufeinander losgingen. Einmal mussten zwei Polizeibeamte sogar einschreiten, um einen SPD-Anhänger abzuführen, der einen Gegendemonstranten aggressiv anschrie, er solle mit den Buhrufen aufhören.
Eine wirkliche Grenzziehung war nur schwer möglich. Der Übergang zwischen SPD-Anhängern und Gegendemonstranten war stellenweise fließend.
Schwer auseinanderzuhalten: SPD-Anhänger und Gegendemonstranten. Foto: Nicolas Riedl
Während sich vor der Bühne an den Fahnen klar erkennbar SPDler versammelten, war der hintere Bereich der abgesperrten Fläche nahezu leer; hingegen waren hinter den Absperrgittern überwiegend Gegendemonstranten versammelt, eine zufällige Mischung aus der Münchner Corona-Opposition, AfD und Friedensaktivisten. In dem schmalen nördlichen Durchgangsweg am Fuße des Rathauses sowie auf dem breiteren Durchgangsweg im Süden standen Kundgebungsteilnehmer — häufig in Ukraineflaggen gehüllt — und Gegendemonstranten praktisch Schulter an Schulter, aber im Geist getrennt.
Vergesslicher Kanzler, weniger vergessliche Menschen
Wie schon bei der Gegendemo zum Roger-Waters-Konzert in München vergangenen Mai, „glänzte“ die SPD erneut mit einer Versammlungseröffnungsansprache, die ob ihrer Schizophrenie nicht einer unfreiwilligen Komik entbehrte.
Die SPD-Lokalpolitikerin, die die Auflagen verlas, ließ die Anwesenden wissen, dass das Benutzen von Trillerpfeifen untersagt sei und von den Ordnungskräften unterbunden werden würde, was just durch ein ohrenbetäubendes Pfeifkonzert konterkariert wurde.
Am Marienplatz gab es wohl mehr Trillerpfeifen als Polizisten. Das Unterfangen, diese zu verbieten, war von vorneherein zum Scheitern verurteilt. Des Weiteren verkündete sie, dass das Mitführen von Waffen untersagt sei. Da kann man als friedliebender Bürger, die hier zuhauf anwesend waren, nur zustimmen. Dennoch erscheint das explizite Betonen einer an sich logischen Auflage ziemlich skurril, kommt sie doch von einer Partei, die 100 Milliarden Euro Sondervermögen — als Neuverschuldung — für Waffenlieferungen lockermacht. Und zu guter Letzt war es untersagt, sein Gesicht so zu vermummen, dass eine Identitätsfeststellung nicht möglich ist.
Wieder einmal scheint man in Scholz’scher Manier die drei Corona-Jahre … „vergessen“ zu haben, während mancherorts über die Wiedereinführung der Maskenpflicht nachgedacht wird.
„Vergessen“ ist hier stichwortgebend. Scholz hat seine Fähigkeit des selektiven Vergessens hinlänglich unter Beweis gestellt, gerade dann, wenn es — für ihn — ungemütlich wird. Mit dieser Verdrängungskompetenz ist er am Zahn der Zeit. Weitaus weniger vergesslich waren dagegen die vielen Gegendemonstranten, die mit ihren Plakaten dem Kanzler einige Gedächtnisstützen darreichten. So wurde auf den Schildern an die Verstrickungen des Kanzlers in den Cum-Ex-Skandal erinnert, bei welchem die Steuerzahler um einen zweistelligen Milliardenbetrag gebracht wurden.
Unvergessen sind die zahlreichen Verbrechen während der Coronazeit. In den Reihen der Gegendemonstranten erinnerte man sich nur allzu gut an die Worte von Olaf Scholz, wonach es keine roten Linien geben dürfe und die Corona-Opposition lediglich eine „winzige Minderheit von enthemmten Extremisten“ sei. Insofern war es an diesem Tag dann doch erstaunlich, zu welch einer Geräuschkulisse und verhältnismäßigen Mobilisierung die vermeintlich „winzige Minderheit“ imstande war. Auch ist es dem Kanzler nicht gelungen, die roten Linien zu tilgen. Diese wurden vielfach überschritten, und jene Menschen, die diese roten Linien zogen, zeigten dem bürgerfremden Kanzler unmissverständlich die rote Karte.
Andere Schilder erinnerten an eine weit zurückliegende SPD, die einst wahrhaftig für Deeskalation und „Wandel durch Annäherung“ stand. Heute bekommt ein SPD-Kanzler höchstens hitzebedingte Röte ins Gesicht, aber keine Schamröte, wenn in seinem Publikum Pappmodelle von Kriegsgeräten hochgehalten werden oder Schilder mit der Aufschrift „Vielen Tank!“ Ist auch das ein Teil der „Zeitenwende“?
Mit Schildern helfen die Gegendemonstranten dem Kanzler auf die Sprünge. Foto: Nicolas Riedl
Gefallene Engel in der heißen Luft
Als dann nach langen Vorreden und einer Pause während des Glockenspiels in der Fassade des Münchner Rathauses der Kanzler die Bühne betrat, schwoll die Melange aus Pfiffen, Buhrufen und Klatschen ins Unerträgliche an. Ich sah mich gezwungen, zum Schutz meines Trommelfells meine Kabelkopfhörer aufzuziehen. Das musste ich noch nie auf einer Demo. Olaf Scholz erlebte am Marienplatz zwar kein Erding; das Verhältnis zwischen Applaus und Buhrufen war in etwa 1:1, während Markus Söders Rede damals in der Flughafenstadt gnadenlos unterging.
Dennoch dürften anwesende Touristen aus dem Ausland weniger den Eindruck erhalten haben, hier würde nun der oberste Volksvertreter eine Rede halten. Ein Teil der Menge jubelte ihm zu, ein mindestens genauso großer Teil buhte ihn aus, und ein weiterer Teil der Menschen ging einfach desinteressiert an dem Geschehen vorbei. Massenmobilisierung und die Strahlkraft aus früheren Sozialdemokraten-Tagen suchte man hier vergebens.
Und die Rede von Scholz? Nun, die ist wirklich noch einmal ein Fall für sich und Stoff für einen eigenen Artikel, deshalb beschränken wir uns hier nur auf das „Worst-Of“: Selbst beim beiläufigen Zuhören der Rede war es ein Leichtes, das Gesprochene zu decodieren und die dahinterliegende Kommunikationsstrategie zu erkennen. Die Rede war so durchschaubar, in Schriftform wäre sie durchaus für eine Berliner Deutschabiturprüfung geeignet.
Scholz redet der Militarisierung das Wort, während im Publikum martialische Pappmodelle hochgehalten werden. Foto: Nicolas Riedl
Die Plattheit war das eine. Das andere waren die Passagen, die an Unverschämtheit und Schizophrenie ihresgleichen suchten. Die Stelle in der Rede, bei der sich Scholz an jene Friedensaktivisten wandte, die „Frieden schaffen ohne Waffen“ skandierten, ging ob ihres obszönen Inhalts im Netz viral. Im ersten Schritt versuchte er sie mit einer „Ich-kann-euch-ja-verstehen“-Rhetorik ins Boot zu holen, indem er die Friedensbewegten daran erinnerte, dass er selbst damals in den 80er Jahren „Frieden schaffen ohne Waffen“ skandiert hatte. Doch nun könne man die Ukraine nicht auf sich allein gestellt lassen, wenn diese angegriffen werde. Dass die Ostukraine zuvor acht Jahre lang von der Westukraine angegriffen wurde, verschwieg er geflissentlich ... oder aber hatte auch das wieder ... vergessen.
Ebenso schien er vergessen zu haben, was die SPD zwischen den besagten 80er Jahren und der Jetztzeit für den Frieden im gemeinsamen Haus Europa — nicht — getan hatte. Was waren die unzähligen Versäumnisse, die Europa in diese Situation geführt hat? Das alles schien aus seinem Gedächtnis getilgt worden zu sein. Und so würde Deutschland — wie viele andere demokratische Länder — Waffen an die Ukraine senden. Und dann folgte ein Satz, der wohl in die Geschichte eingehen wird:
„Olaf Scholz München 18.08.2023 über sein Volk“
„Und die, die hier mit Friedenstauben rumlaufen, sind deshalb vielleicht gefallene Engel, die aus der Hölle kommen, weil sie letztendlich einem Kriegstreiber das Wort reden.“
Da kann einem doch schon mal die Friedenspfeife aus dem vor Staunen geöffneten Mund fallen. Was soll man dazu noch sagen?
Während seiner Amtszeit als Hamburger Innensenator lancierte Olaf Scholz die Möglichkeit, mutmaßliche Drogendealer und -konsumenten mithilfe von Brechmitteln zu überführen. Mit diesem unsäglichen Satz kreierte Scholz selbst ein verbales Brechmittel für alle Friedensaktivisten und jene früheren Sozialdemokraten, die sich für ihre Post-Agenda-2010-SPD so schämen, dass es ihnen die eigene Parteifarbe direkt ins Gesicht treibt.
Der SPD-Bundeskanzler Olaf Scholz framet Friedensaktivisten als Luzifer. Als Gegendemonstrant hatte man wohl mit vielem gerechnet, aber ganz sicher nicht damit. Vor den tosenden Buhrufen gab es den Bruchteil einer ruhigen Sekunde, in der den Protestlern hörbar die Spucke wegblieb. Dieser Kanzler investiert zusätzlich 100 Milliarden Euro — zehnmal so viel oder mindestens das Doppelte des Cum-Ex-Steuerraubes — in die Rüstung und bezeichnet dann Friedensaktivisten als „Engel aus der Hölle“. Das war gewiss kein Ausrutscher, sondern eine knallhart kalkulierte Kampfansage und Eskalation der Kriegsrhetorik. Die Verklammerung dahinter ist sehr geschickt. Wer sich für den Frieden einsetzt, kann ja schließlich nicht verkehrt liegen. Er oder sie gleicht einem unschuldigen Engel. Mit diesem Satz raubte Scholz diesem Engelsbild die Unschuld. Fällt ein Engel, dann hat er seine Unschuld verloren und wird zu Luzifer aus der Hölle. Da sind wir 2023 angelangt — eine SPD, die Friedensaktivisten im wahrsten Sinne des Wortes verteufelt, sie als gefallene Engel bezeichnet, die einem Kriegstreiber das Wort reden.
Apropos „Kriegstreibern das Wort reden“: Wie oft hat die SPD dem größten Kriegstreiber der Welt, den USA, bei ihren unzählbaren völkerrechtswidrigen Angriffskriegen das Wort geredet? Jugoslawien, Afghanistan, Mali; hat Scholz das alles auch wieder — Sie ahnen es schon — … „vergessen“? Wenn man aus Scholzs Sicht ein gefallener Engel aus der Hölle ist, wenn man mit einer Friedenstaube herumläuft — so wie Scholz es selbst letztes Jahr noch tat —, was sind dann die SPDler? Die neuen Hells Angels?
Wer dachte, die SPD hätte zu Coronazeiten bereits ihre Talsohle erreicht, der wurde am 18. August in München Zeuge dessen, wie die SPD an ebendieser Talsohle noch einen zusätzlichen Schützengraben grub. Zugleich entblödete sich Scholz nicht, zu predigen, wir alle müssten unsere Lebensweise drastisch verändern, um dem Klimawandel Herr zu werden. Mit Kohle als Energiequelle sei dies nicht möglich. Einen Widerspruch zu der 100-Milliarden-Investition in ganz sicher nicht CO2-neutrale Rüstung sieht er dabei nicht. Fahrverbote für den Diesel, freie Fahrt für die Panzer. Die Rede war eine einzige Beleidigung für jeden Anwesenden mit einer Mindestmenge an Resthirn. Wie tief der Schützengraben an der Talsohle der SPD noch gegraben wird, ist nicht absehbar.
Abschließend sei gesagt: Friedensaktivisten sind keine gefallenen Engel aus der Hölle! Hingegen ist Olaf Scholz sehr wohl ein gefallener Sozialdemokrat.
Ob er aus der Hölle kommt, soll jeder für sich entscheiden.
Quellen und Anmerkungen:
Sollten Sie bei diesem Bericht schlechte Laune bekommen haben, sei Ihnen zur Auflockerung der neueste Beitrag des Meme-Künstlers „Snicklink“ anempfohlen, der Scholzs Unfallrede herrlich durch den Kakao gezogen hat: