Der Gärtner im Dschungel

Der Mensch ist und braucht Natur. Exklusivabdruck aus dem Buch „Gärtner im Dschungel“.

Helmut Salzinger war Literaturkritiker der „Zeit“ und hatte Bücher über Walter Benjamin („Swinging Benjamin“) und über Musik geschrieben, als er sich Anfang der 1970er Jahre auf das Land zurückzog, um sich fortan möglichst biodynamisch mit Lebensmitteln zu versorgen. Wie bei einem Stadtmenschen und Intellektuellen naheliegend, ging das Unterfangen schief. Aber es bescherte dem Autor statt reichlich Gemüse tiefgehende Erkenntnisse — und machte ihn zum „Gärtner im Dschungel“. Im Folgenden ein Auszug aus dem gleichnamigen Buch. Salzingers Erkenntnis: „Wenn wir etwas vom Wesen des Menschlichen begriffen haben, dann dieses: dass der Mensch als Natur und Lebewesen von keinerlei Bestimmung über die Erde gesetzt ist, sondern dass er von gleicher Art ist wie alles Lebendige.“

Die Geschichte des Menschen auf Erden hat mit einer Katastrophe begonnen, hat sich sodann als Katastrophe in Permanenz entwickelt, und nun ist es weiter nichts als logisch, dass sie, wenn sie es denn überhaupt tut, auch als Katastrophe endet. Doch was heißt schon Katastrophe? Es ist eine Frage der Einschätzung, des Standorts und der Perspektive.

Ich lese im Verlust der Mitte, einem jener Versuche über Werte aus den fünfziger Jahren (Ullstein-Buch Nr. 39). Er stammt von dem Wiener Kunsthistoriker Hans Sedlmayr, der alles am Zusammenbrechen sah: Kunst, Religion und den Menschen selber. Mein Lehrer an der Uni ist seinerzeit sehr höhnisch über dieses Buch hergezogen, und ich fühlte mich ihm gegenüber ziemlich voreingenommen.

So erinnere ich mich beispielsweise einer kleinen Session vor dem damaligen Gebäude der philosophischen Fakultät am Hamburger Bornplatz, wo ich zusammen mit Lakschewitz und Peymann im Kreise sozusagen als magischen Chanson den Namen Sedlmayr skandiere, während die Kommilitonen kopfschüttelnd an uns vorbei und dem Erwerb ihrer Seminarscheine nachgingen. Wie gesagt, wir kamen alle von Wolffheim, und erst jetzt beim Lesen fange ich an, mich des von ihm erlassenen Bannes zu entledigen, was mir gar nicht leicht fällt.

Doch die Lage ist so, dass die Karre inzwischen noch sehr viel tiefer im Dreck sitzt, als Sedlmayr es damals befürchtet hat, und dennoch tun die meisten von uns immer noch, als fühlten sie sich wohl. Den meisten geht es aber in Wirklichkeit schlecht.

Ich meine jetzt ausnahmsweise einmal nicht die Armen und Ausgebeuteten der Dritten Welt, sondern uns im relativen Wohlstand der Ersten lebenden Menschen, für die so grundlegende und natürliche Funktionen des Lebens wie ein Trunk frischen Wassers aus einer Quelle oder einem Bach, ein Atemzug von reiner Luft, die Stille eines Sonnenaufgangs oder das Farbenspiel eines Sonnenuntergangs, ein unangestrengtes besinnliches Alleinsein mit sich selber, der Blick auf eine natürliche Landschaft ohne irgendeine technische Manifestation menschlichen Herrschaftsanspruchs über sie, ohne Straße oder Schiene oder Häuser oder Hochspannungsmasten oder Flugzeuge in der Luft, lauter Dinge, die menschliches Wohlbefinden nicht etwa verursachen, sondern eher als Vorbedingung der Möglichkeit eines solchen Empfindens anzusehen sind, gehen dem weitaus überwiegenden Teil der in Wohlstand und Luxus dahinvegetierenden, von Neurosen und psychosomatischen Ausfallserscheinungen geplagten Menschen dauerhaft ab.

Sie bewohnen eine weitgehend künstliche Welt, der sie sich zunehmend anpassen, und bezahlen für die damit verbundene Verkünstlichung all ihrer Lebensfunktionen mit einem Verlust von natürlichem Wohlbefinden, der ihnen allerdings oft kaum noch bewusst wird, auch wenn ihr Körper schwer darunter leidet.

Die „Verpflanzung“ des Menschen ins Künstliche, die Herstellung von künstlichen Lebensverhältnissen, die gegenwärtig in unsern Breiten ein Ausmaß erreicht hat wie nie zuvor in der Geschichte, ist dennoch keine Erfindung unserer Zeit.

Jeglicher zivilisatorische Prozess bewegt sich fort von den Quellen des Natürlichen, und Sedlmayr, in seinem erwähnten Werk, behandelt an zentraler Stelle ein Phänomen, das diesen Vorgang zugleich darstellt und seine Bedingungen reflektiert, die Gartenkunst. Er hält das Konzept des Landschaftsgartens, wie die Goethezeit ihn in einigen herausragenden Beispielen hervorgebracht hat, für „die umfassendste Form des Gesamtkunstwerks, die man sich überhaupt vorstellen kann: ein Übergesamtkunstwerk“ (17).

„Gesellschaftsgeschichtlich erwächst diese Form noch durchaus aus dem feudalen Großgrundbesitz; und wenn man bedenkt, dass ihre großartigsten Verwirklichungen eine Zurückdrängung des fruchtbar bebauten Landes zugunsten einer idyllischen Wildnis bedeuten, ermisst man erst die Vehemenz der geistigen Kräfte, die sich in dieser, so gesehen, absurden Form durchsetzen“ (20).

Nach 1830 wird ein gewisser Hang zur Veräußerlichung, zur Musealisierung des Parks fassbar, für Sedlmayr symptomatisch für den Sturz aus der Mitte, der die Welt allmählich erfasst. An dieser Sicht ist ja was dran, wenn man voraussetzt, dass die Welt rund, ihr Platz im Zentrum und alles im Gleichgewicht ist, was Sedlmayr offensichtlich annimmt. Die Frage ist halt bloß, ob es auch stimmt. Das wage ich nicht zu entscheiden. Doch finde ich mich in meiner Sicht der Dinge eigentümlich ermuntert und ermutigt durch die Tatsache, dass dieser Autor sein Buch mit einem Hinweis auf sich anbahnende Veränderungen abschließt, in denen er ein erstes Anzeichen sieht, „das Hoffnung gibt, der Umstand, dass viele das Verhängnisvolle der Lage wieder zu erkennen beginnen und nicht mehr als vermeintliche ‚Befreiung‘ begrüßen“ (187).


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Helmut Salzinger: „Der Gärtner im Dschungel“, 208 Seiten, Westend Verlag, 1.2.2019.