Der Fall Amri und seine Vorläufer
Wenn erfolgreiche Terroranschläge nützlicher sind als ihre Verhinderung.
Der „Fall Amri“ ist wieder in den Schlagzeilen. Es handelt sich dabei um den am 19. Dezember 2016 begangenen Terroranschlag in Berlin. Ein LKW fährt mitten in den gut besuchten Weihnachtsmarkt und tötet insgesamt zwölf Menschen, Dutzende werden zum Teil schwer verletzt.
Der „Fall Amri“ ist wieder in den Schlagzeilen. Es handelt sich dabei um den am 19. Dezember 2016 begangenen Terroranschlag in Berlin. Ein LKW fährt mitten in den gut besuchten Weihnachtsmarkt und tötet insgesamt zwölf Menschen, Dutzende werden zum Teil schwer verletzt. Tags darauf ist von einem Anschlag mit islamistischem Hintergrund die Rede. Im LKW findet man einen Ausweis. Wenig später wird Anis Amri in Italien von Polizisten erschossen. Amri war in Deutschland kein „unbeschriebenes Blatt“. Verschiedene Behörden hatten ihn „auf dem Schirm“, beobachteten und observierten ihn, bis man die Spur verlor.
Der Fall Amri hat zahlreiche Vorläufer. Er ist nicht nur voller Merkwürdigkeiten, Ungereimtheiten und Pannen. Die Manipulationen und Unterschlagungen von Beweismitteln konzentrieren sich genau dort, wo Überwachung in aktives Gewährenlassen übergeht. Parallelen zum NSU-Komplex drängen sich auf.
Warum wurden die strafrechtlichen Möglichkeiten im Fall Amri nicht genutzt? Warum verwischt man Spuren? Warum nutzte man nicht das Wissen eines V-Mannes, der vor Amri als „gefährlichem Islamisten“ gewarnt hatte? Warum stachelte genau dieser V-Mann Amri zu Anschlägen auf? Warum wurde die Observation von Anis Amri offiziellen Angaben zufolge abgebrochen? Wer hat dies veranlasst?
Auf die beiden letzten Fragen antwortete der Kriminaldirektor Golcher, Chef der eingerichteten Task Force, vor dem parlamentarischen Untersuchungsausschuss in Berlin nicht. Dafür hätte er keine „Aussagegenehmigung“. Lupenrein.
Um diese Farce zu verstehen, muss man wissen, dass die Task Force der Polizei „jeden Stein umdrehen“ (Innenstaatssekretär Torsten Akmann) sollte. Dafür bekam sie den Namen „Lupe“.
Das Drehbuch hatte zwar satirereife Pointen, ist aber nicht besonders originell. Man kennt es aus anderen, ähnlich gelagerten Fällen.
Natürlich kann all dies eine unglückliche Verkettung von noch unglücklicheren Zufällen sein. Was aber, wenn ein „anschlagsbereiter“ V-Mann kein Zufall ist, die Manipulation von Beweismitteln keinem Zufallsprinzip folgt, sondern einem behördlichen/geheimdienstlichen Vorgehen?
Es liegt in der „Natur der Sache“, dass es auch im Fall Amri kein voll umfängliches Geständnis geben wird, das den Beweis erbringt, dass Ermittlungsziele und Vorgehensweisen diesen Terroranschlag haben geschehen lassen, dass der Schutz von Strukturen, Wissen und rechtswidrigen Geheimdienstmethoden gelegentlich mehr wiegt, als die Verhinderung eines solchen Terroranschlages.
Normalerweise begnüge ich mich damit, mit den noch vorhandenen Indizien nachzuweisen, dass die offizielle Version die unwahrscheinlichste ist, um es den LeserInnen zu überlassen, die Schlussfolgerungen daraus zu ziehen.
In diesem Fall möchte ich einen anderen Weg gehen: Ich nehme die Hypothese zum Ausgangspunkt, dass dieser Terroranschlag hätten verhindert werden können und fülle sie mit den Fakten, die bisher öffentlich wurden. Wenn man diesem Weg folgt, wird man überrascht sein, wie weit man damit kommt.
Der Fall Amri
Die mit diesem Fall betrauten Geheim- und Polizeidienste waren sich schnell und gut koordiniert einig. Alle hätten ein bisschen wussten, aber eben nicht genug. Dann wussten sie ein bisschen mehr, aber das hätte auch nicht ausgereicht. Und verwiesen dabei auf die geltenden Gesetze - womit der eigentliche Schuldige gefunden war: Der Rechtstaat, der die potenziellen/islamistischen Täter schützt, Polizei und Geheimdienst also viel zu wenige Befugnisse haben, diese zu verfolgen.
Auf dieses Sprungbrett stellte sich die Bundeskanzlerin Merkel mit ihrem ganzen Gewicht und sprang ins volle Bad: „Dort wo Bedarf für politische oder gesetzliche Veränderungen gesehen wird, werden wir notwendige Maßnahmen in der Bundesregierung zügig verabreden und umsetzen.“ Die oberste Pflicht des Staates sei es, die Bürger zu schützen. Die oberste?
Was mit „Bedarf“ nur gemeint sein kann, ist klar: Mehr Polizei, noch mehr strafrechtlichen Befugnisse, noch leichtere und schnellere Abschiebemöglichkeiten, noch mehr „Ausländerrecht“, noch mehr Möglichkeiten, jemanden zum „Gefährder“ zu machen, ohne dass es strafrechtlich relevante Beweise dafür gibt.
Der Chor, der all diesem anstimmt, hat lange geübt, der Text ist einstudiert. Es fehlten nur die Anlässe, ihn auftreten zu lassen.
In Berlin und in NRW wurden parlamentarische Untersuchungsausschüsse zum Fall Amri eingerichtet. Sie sollen die Gründe für die „Pannen“ ausfindig machen und daraus politische Konsequenzen ziehen.
Dabei stießen die Parlamentarier in Berlin auf Merkwürdigkeiten, über die man beim besten Willen nicht hinwegsehen konnte: Verschiedene Dokumente, die den Fall Amri zum Inhalt haben, wurden manipuliert: Man änderte Worte im Text, man datierte Schreiben um, man schliff sich Beweismittel zurecht. Es stellen sich also die Fragen, warum man diese Straftaten im Amt beging, warum man das Risiko der Entdeckung in Kauf nahm?
Sehr schnell konnte der Zweck dieser Beweismittelmanipulationen herausgefunden werden: Es ging darum, das Wissen über Amri klein zu schreiben und die vorhandenen und nicht genutzten strafrechtlichen Möglichkeiten gegen Amri „wegzuxxxxen“.
Wer in Deutschland die Handhabung des „Ausländerrechts“, des Asyl- und Aufenthaltsrechts kennt, weiß, wie hart und gnadenlos fast jede Gelegenheit genutzt wird, die vorhandenen Rechtsmittel anzuwenden, alle Rechtsmittel auszuschöpfen. Das gilt ganz allgemein gegenüber Flüchtlingen. Das gilt ganz besonders, wenn man sie mit Islamismus in Verbindung bringt.
Wenn man um diese Praxis weiß, dann kann man vorab eines ganz sicher festhalten: Bei Amri wurde nicht vergessen, die bestehenden Rechtsmittel anzuwenden. Es gab andere, das Ausländerrecht überragende „Rechtsgüter“ und „Rechtsabwägungen“, die hier zum Zuge kamen. Aber welche?
Bevor ich auf den Fall Amis Amri zurückkomme, möchte ich ein paar Beispiele der letzten 40 Jahre knapp ausführen, die ähnlich gelagert sind. Warum werden bestehendes Behörden – und Geheimdienstwissen nicht genutzt, um einen Anschlag zu verhindern? Warum wird die Aufklärung solcher Anschläge so massiv sabotiert, obgleich man die Opfer solcher Anschläge so herzergreifend bedauert hat? Warum decken politische Instanzen solche massiven Rechtsbrüche? Sind das alles – im schlimmsten Fall – bedauerliche Pannen oder hat dieser Umgang einen deutlichen und benennbaren Nutzen?
Der Terroranschlag auf das Oktoberfest in München 1980
Man stelle sich einmal vor, der Terroranschlag auf das Münchner Oktoberfest 1980 wäre verhindert worden. Dann hätte der CSU-Chef Franz Josef Strauß nicht die Chance gehabt, diesen Terroranschlag der RAF in die Schuhe zu schieben. Dann hätte der Bundeskanzlerkandidat der Union, Franz Josef Strauß, nicht die Gelegenheit nutzen können, mit dem Blut der Opfer den Schrecken eines bevorstehenden „Sozialismus“ an die Wand zu malen, ein Sozialismus, der durch einen Wahlsieg der SPD gekommen wäre. Das Wahlkampfmotto lautete damals: „Freiheit oder Sozialismus“.
Wenn dieser Anschlag, der neun Menschen das Leben gekostet und über 200 Menschen schwer verletzt hatte, verhindert worden wäre, wäre Gundolf Köhler, einer der Attentäter nicht als „unpolitischer Verwirrter“ eingestuft worden, sondern als das was er war: Ein Neonazi, der enge Kontakte zur Wehrsportgruppe Hoffmann hatte und zur Tatzeit nicht alleine war.
Dann wäre Heinz Lempke nicht an „Selbstmord“ gestorben, nachdem er ankündigte, „auszupacken“, sondern als der Mann identifiziert worden, der den Sprengstoff lieferte:
„Am 27. September, einen Tag nach dem Anschlag in München, sagten zwei deutsche Rechtsextremisten bei der bayrischen Polizei aus. Sie wiesen auf einen Gleichgesinnten hin, auf Heinz Lempke, einen Förster aus Uelzen. Die Neonazis machten klare Angaben:
"‚Herr Lempke zeigte uns verschiedene Sprengstoffarten, Zünder, Lunten, Plastiksprengstoff und militärischen Sprengstoff (…). Er sagte uns, dass er mehrere Waffenverstecke im Wald habe‘.“ (Frontal 21-Beitrag vom 25.3.2014)
Dann wären die Spuren, die der Neonazi Heinz Lempke hinterlassen hat, nicht im Sande verlaufen. Dann hätte man herausbekommen, wofür der Förster Lempke über 30 geheime Depots verwaltet hatte.
Dann wären die Akten über Lempke nicht mit dem Vermerk „Nur zum Teil gerichtsverwertbar“ gesperrt worden, „was auf eine V-Mann-Tätigkeit schließen lässt.“ (SZ vom 12.5.2016)
Dann hätte sich die Bundesregierung nicht untersagt, die Klarnamen der V-Leute zu nennen, die möglicherweise zur Tataufklärung beitragen könnten, „weil angeblich immer noch Leib und Leben der früheren V-Leute bedroht sein könnten“. (s.o.)
Dann hätte man bereits Anfang der 1980er Jahre das gewusst, was bis Anfang der 1990er-Jahre als Verschwörungsgespinst abgetan wurde: Die Tatsache, dass seit den 1950er-Jahren Nazis und Neonazis in Terroreinheiten zusammengefasst wurden, um im Falle eines russischen Einmarsches Sabotageanschläge zu verüben.
Dann hätte man schon Anfang der 1980er-Jahre erfahren, dass nicht nur der Neonazismus in der BRD eine Gefahr darstellt, sondern auch staatliche Behörden, die diese als „Terrorreserve“ halten. Dann wäre auch ganz früh bekannt geworden, dass in diesem Kontext Hunderte von Depots mit Waffen und Sprengstoff angelegt worden waren.
Dann hätte man spät - aber weit vor den Pogromen als Heimatfindung - erfahren, dass es in Deutschland einen staatlich geführten terroristischen Untergrund gibt, der von allen Regierungsparteien mitgetragen und an allen parlamentarischen Kontrollinstanzen vorbei unterhalten wird.
Stattdessen hat man diesen Terroranschlag für unpolitisch motiviert erklärt und zur Tat eines Einzeltäters gemacht. Dafür hat man alles getan: Man hat Beweismittel vernichtet, man hat Zeugen für unglaubwürdig erklärt. Man hat Geheimdiensterkenntnisse verschwinden lassen, man hat Geheimdienstwissen unterschlagen.
Und wenn dies nicht mehr zu verheimlichen war, hat man daraus „Pannen“ gemacht und diese bedauert.
Mordversuch unter „Polizeischutz“
Gehen wir zehn Jahre weiter.
Man stelle sich einmal vor, die gemeinschaftliche und lebensgefährliche Brandstiftung in Rostock-Lichtenhagen 1991 wäre verhindert worden, als Hunderte von „besorgten Bürgern“ die Unterkunft von vietnamesischen Vertragsarbeitern über mehrere Tage belagert hatten, bis diese am helllichten Tag brannte und die Bewohner sich in letzter Minute retten konnten.
Man stelle sich vor, die mehreren Hundertschaften an Polizei hätten eingegriffen, wenn nötig Verstärkung angefordert, um die live übertragende Belagerung zu beenden. Das wäre nicht das, aber ein Signal gewesen, dass Pogrome nicht als versteckte beziehungsweise tolerierte Regierungspolitik verstanden werden müssen.
Stattdessen wurde dieses tätige Zuschauen und aktive Gewährenlassen als bedauerliche Panne gewertet. Das Inbrandstecken sei beim Schichtwechsel geschehen.
Stattdessen wurde der unter polizeilicher Aufsicht durchgeführte „Überfall“ bedauert und verurteilt, um im selben Atemzug die Motive in den Arm zu nehmen: Die Ängste vor „Überfremdung“ und einer hereinbrechenden „Asylantenflut“ seien ernst zu nehmen. Das wurde dann auch sehr ernsthaft betrieben: 1993 wurde mit einer 2/3 Mehrheit das bestehenden Asylrecht abgeschafft.
“Betreutes Morden“
Machen wir noch einmal einen Sprung, in die Jahre 1998 bis 2011.
Man stelle sich einmal vor, man hätte die zahlreichen V-Leute, die mit dem sich in der Gründung befindlichen „nationalsozialistischen Untergrund“ NSU in Kontakt standen, dazu genutzt, die Terror- und Mordanschläge zu verhindern. Man hätte also über V-Leuten dem späteren NSU Waffen, illegale Papiere, Geld und Unterkünfte versprochen, um sie und ihre Pläne auffliegen zu lassen.
Man stelle sich also vor, man hätte das Wissen von Dutzenden von V-Leuten im Nahbereich des NSU dazu genutzt, wofür man sie mit viel Geld „anwirbt“ und „führt“: zur Verhinderung schwerer Straftaten.
Dann hätte es zehn Jahre keine „Döner-Morde“ im ausländischen und kriminellen Milieu gegeben, sondern eine gesellschaftliche und politische Debatte darüber, wie man die Planung und offene Propagierung eines neonazistischen Untergrundes, eines „führerlosen Widerstandes“ ernst nimmt.
Der Fall Amri
Kehren wir zum Ausgangspunkt zurück, in das Jahr 2017. Die anfangs gestellte Frage, welche gewichtigen Interessen eine Rolle gespielt haben könnten, um vorhandene Rechtsmittel gegen Anis Amri nicht einzusetzen, kann sehr konkret beantwortet werden:
„Recherchen des rbb und der Berliner Morgenpost belegen nun, dass die sogenannte Vertrauensperson VP-01 frühzeitig Islamisten zu Anschlägen in Deutschland angestachelt haben soll. Laut eines Zeugen war dabei auch von einem Anschlag mit einem Lkw die Rede.“ (morgenpost.de vom 19.10.2017)
Mehr noch: Der vom Landeskriminalamt Nordrhein-Westfalen (LKA) geführte V-Mann „01“ hatte Kontakte zu Anis Amri und diesen immer wieder dazu aufgefordert, Anschläge in Deutschland zu verüben. Es gibt dafür nicht nur mehrere Zeugen. Es existiert auch ein „Behördenzeugnis“, das rbb und BZ einsehen konnten: In diesem „berichtet der Nachrichtendienst über ein Vier-Augen-Gespräch, in dem VP-01 gegenüber einem Mitstreiter erklärt habe, ‚nach einem zuverlässigen Mann für einen Anschlag mit einem Lkw zu suchen‘.“ (s.o.)
Fassen wir zusammen: Dem Landeskriminalamt (LKA) gelang es, einen V-Mann in der „islamistische Szene“ zu platzieren. Dieser hatte auch Kontakt zu Anis Amri. Aus Unterlagen für den ersten PUA in Nordrhein-Westfalen geht hervor, „dass der Vertrauensmann mehrfach ausdrücklich vor der Gefährlichkeit Amris gewarnt habe.“ (FR vom 21.10.2017)
Der V-Mann wusste um dessen politische Einstellung und feuerte ihn und seine Freunde an, Anschläge zu verüben.
Der V-Mann „01“ bestreitet dieses nicht, sondern erklärt dieses zu seinem Aufgabenprofil: „* (…) er habe sich entsprechend seinem Auftrag ‚immer als anschlagsbereit‘ gezeigt, um an Informationen zu gelangen*.“ (Rbb24 vom 19.10.17)
Lassen wir das Paradoxon beiseite, zu Straftaten anzustiften, um sie zu verhindern.
Können begangene Terroranschläge nützlicher sein, als verhinderte?
Diese Frage drängte sich an mich heran wie ein räudiger Hund. Wie kann man so viel Wissen und so viele Pannen zusammenbringen? Wie kann man an so viele Pannen glauben, die sich ganz zufällig passgenau ineinanderfügen?
Dann kroch das bleierne Déjà-vu-Gefühl hoch, dieses bodenlose Gefühl, dass sich hier etwas wiederholt! Denn natürlich ist alleine die Vorstellung, dass man Terroranschläge geschehen lässt, beängstigend.
Aber man kann die Frage auch vom Ende her angehen, also wie folgt stellen: Haben all die, die Pannen, Zufälle und ein paar Rechtsbrüche begangen haben, darunter gelitten? Wurden sie strafrechtlich verfolgt, wurden sie versetzt? Haben die Behörden, die daran beteiligt waren, an Einfluss, Macht, und Befugnissen verloren?
Man kann diese Fragen anhand der hier aufgeführten Beispiele klar und bestimmt beantworten: Nein!
Haben all die beteiligten Behörden vom hie und da eingestandenen „Versagen“ profitiert? Hat ihnen gar das „Versagen“ genutzt?
Das lässt sich deprimierend klar beantworten, wenn man nur auf den NSU-VS-Komplex schaut.
Orwell 3.0
Man könnte - mit normalen Sachverstand - meinen, alleine die Tatsache, dass über 40 enttarnte V-Leute im NSU-Nahbereich die Terroranschläge nicht verhindert, sondern mit ermöglicht haben, habe das V-Mann-System in Gänze diskreditiert. Man könnte als Konsequenz aus diesem „kompletten Staatsversagen“ den Geheimdienst /VS abschaffen oder ganz bescheiden die Aufklärung vor „Quellenschutz“ setzen und dies rechtlich verankern.
Man könnte, bei Anwendung durchschnittlicher Logik, auch Folgendes annehmen: Wenn ein Geheimdienst in Serie Beweismittel unterschlägt, Akten vernichtet, Untersuchungsausschüsse belügt und Falschaussagen organisiert, also jede Art von Verschleierung betreibt, dass man ihn und seine Methoden „an die Leine“ nimmt und wirksame Kontrollinstanzen verankert.
Das genaue Gegenteil war und ist der Fall: Mehr konnte der Geheimdienst aus seinem Versagen nicht herausholen. Er hat von allem mehr bekommen: mehr Geld, mehr Personal, mehr Befugnisse…
„Alle Geheimdienstaffären, das zeigt die Geschichte, enden damit, dass Personal und Budget für die Dienste aufgestockt werden. Das gilt beispielsweise auch für die Affäre rund um den rechtsterroristischen NSU.“ (Historiker Josef Foschepoth)
Diese Kontinuität und Unverschämtheit lässt sich am Beispiel des Inlandgeheimdienstes namens Verfassungsschutz sehr genau nachzeichnen. Bereits Ende 2014 ließ uns eine klitzekleine Nachricht, die man auch überlesen durfte, wissen, dass das Bundesamt für Verfassungsschutz/BfV mehr Geld und mehr Mitarbeiter bekommen wird.
Zu den circa 2.800 Mitarbeitern sollen bald 100 weitere hinzukommen. Außerdem werden dieser Behörde als „Sachmittel“ weitere 13,44 Millionen Euro bewilligt, womit der Etat für diese Behörde im Jahr 2015 bei fast 231 Millionen Euro liegt.
Dies beschloss das „Vertrauensgremium des Bundestages“, das für den Geheimdienstetat zuständig ist. Man kann dies durchaus mit den Bonizahlungen für Spitzenangestellte bei Banken vergleichen.
Doch damit nicht genug. Ein halbes Jahr später, im Juli 2015 hatte der Bundestag das „Gesetz zur Verbesserung der Zusammenarbeit im Bereich des Verfassungsschutzes“ beschlossen:
„Das Begehen von Straftaten durch Staatsdiener und ihre V-Leute wird erstmals gesetzlich legitimiert und ihre Strafverfolgung eingeschränkt. Schwerer kann man den Rechtsstaat kaum beschädigen.“ (Müller-Heidelberg: Beamtete Straftäter – Täter vom Dienst).“ (Der Staat ist der Verfassungsfeind, NachDenkSeiten vom 15.6.2016)
Man kann dafür wie Prof. Hajo Funke auch folgende Worte finden:
„Der faschistische Staatsrechtler Carl Schmitt brachte es auf den Punkt: ‚Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet’. Genau das wird mit der geplanten Reform der Sicherheitsbehörden faktisch erreicht. Indem V-Leute vor Strafverfolgung weitgehend geschützt sind, erhalten sie eine von außen unkontrollierbare Macht über einen rechtsfreien Ausnahmezustand. Ohne jede wirkliche Analyse der Mordserie und des staatlichen ›Versagens‹ wird ein Abgrund an geheimen Parallelstrukturen im Staat rechtlich etabliert.“ (Prof. Hajo Funke, Jenseits des Rechts, S. 238/39, in: Geheimsache NSU, Zehn Morde, von Aufklärung keine Spur, Andreas Förster (Hg.), 2014)
Vielleicht wird somit auch deutlich, dass es den nächsten „Fall Amri“ oder NSU geben wird, solange „Skandale“ so fürstlich honoriert werden.
Man kann es auch anders sagen: Das, was uns als „Skandal“ kurzweilige Empörung abverlangt, führt uns ein eingefärbtes „schwarzes Schaf“ aus der Herde vor, damit diese ungestört ihres Weges gehen kann.
Weiterlesen:
Wolf Wetzel: Der NSU-VS-Komplex. Wo beginnt der Nationalsozialistische Untergrund - wo hört der Staat auf?, Unrast Verlag 2015, 3. Auflage
Wolf Wetzel: Der blinde Fleck? Der Terroranschlag auf das Oktoberfest in München 1980 – und die Puppenspieler