Der ewige Zankapfel
Wohin westliche Doppelmoral und anti-russische Propaganda führen können, zeigte schon der Krimkrieg Mitte des 19. Jahrhunderts.
Kommenden März jährt sich die Abspaltung der Krim von der Ukraine zum fünften Mal. Ein weiterer Jahrestag wird dann wohl deutlich weniger Beachtung finden: 160 Jahre vor der Krimkrise hatten westliche Großmächte Russland schon einmal den Krieg erklärt. Die Halbinsel im Schwarzen Meer wurde dabei zum Hauptschlachtfeld. Die damalige internationale Konfliktlage und die geopolitischen Interessengegensätze, die zum Krimkrieg führten, weisen beachtliche Parallelen zur derzeitigen Situation auf. Und auch die russophobe Propaganda im Westen folgte denselben Prinzipien wie heute.
Im März 1854 erklärten Großbritannien und Frankreich dem Russischen Reich den Krieg. Der folgende militärische Konflikt, der als Krimkrieg in die Geschichte einging, ist im Westen inzwischen fast völlig vergessen. Obwohl er doch mit seinen hunderttausenden Todesopfern (1) der verlustreichste Krieg zwischen 1815 und 1914 war und wegen vieler technischer Neuerungen als erster „moderner Krieg“ gilt.
In Russland erinnert man sich des Krimkriegs als eine von mehreren westlichen Invasionen, die im Gegensatz zu den anderen — in den Jahren 1812, 1918 und 1941 — zwar zu einer russischen Niederlage führte, aber gleichzeitig auch patriotischen Stolz auf den zähen Verteidigungskampf Sewastopols hervorbrachte (2). Fast vergessen ist jedoch überall, wie Akteure der westlichen Öffentlichkeit — vor allem die britische Presse — damals für den Krieg trommelten und ihr blutiges Ziel schließlich erreichten.
Krimkrieg knapp zusammengefasst
Ein kurzer Blick auf den Ablauf des Krieges: Im Streit über den Vertretungsanspruch der Christen im Heiligen Land, das damals unter osmanischer Herrschaft stand, hatte der russische Zar Nikolaus I. im Juli 1853 die Fürstentümer Moldau und Walachei, zwei osmanische Vasallenstaaten, besetzen lassen. Mit britischer Rückendeckung erklärte das Osmanische Reich daraufhin Russland den Krieg. Es war bereits der neunte russisch-türkische Krieg. 1854 traten Großbritannien und Frankreich auf osmanischer Seite in den Krieg ein. Später schlossen sich noch italienische Truppen aus Sardinien-Piemont an (3).
Nachdem der Zar seine Truppen aus den Fürstentümern zurückgezogen hatte, entschieden sich die Westmächte zur Invasion der Krim. Die Segelschiffe der russischen Schwarzmeerflotte hatten keine Chance gegen die dampfgetriebenen, teilweise schon gepanzerten Schlachtschiffe der Alliierten. Die russische Marine versenkte ihre eigenen Schiffe vor Sewastopol und blockierte damit die Hafeneinfahrt für den Feind. Auf der Krim besiegten die britisch-französisch-türkischen Invasionstruppen — heute übrigens allesamt NATO-Mitglieder — in mehreren Feldschlachten die russische Armee. Zudem belagerten sie die Garnisonstadt Sewastopol, bis diese, nach einem Jahr sturmreif geschossen, kapitulierte. Anfang 1856 schlossen die Kriegsparteien den Frieden von Paris. Russland musste die Krim und seine gesamte Schwarzmeerküste entmilitarisieren.
Medien werden zu Machtfaktor
Nicht nur wegen des Einsatzes von Schnellfeuergewehren, Dampfschiffen, Eisenbahnen und des massiven Trommelfeuers auf Sewastopol (4) gilt der Krimkrieg als erster militärischer Konflikt der Moderne. Auch die damals neuen Technologien der Telegrafie und Fotografie wurden eingesetzt. Medien in Frankreich und vor allem Großbritannien erzeugten massive öffentliche Aufmerksamkeit für den Krieg und wurden zu einem politischen Machtfaktor.
Große britische Zeitungen schickten Kriegsberichterstatter auf die Krim. Ihre Nachrichten und Bilder von der Front erreichten die Öffentlichkeit im damals unglaublich schnellen Tempo weniger Tage. Nachdem die Briten im April 1855 ein Unterwasserkabel von der Krim aufs bulgarische Festland verlegt hatten, kamen Meldungen sogar innerhalb weniger Stunden in London an.
Zwar produzierte der bekannte Pionier der Kriegsfotografie, der Brite Roger Fenton im Auftrag der Regierung vor allem Propagandabilder. Doch die meisten anderen Korrespondenten wie etwa William Russell von der Times berichteten durchaus kritisch über den miserablen Zustand der britischen Soldaten vor Ort. Wegen fehlender Winterkleidung und der katastrophalen sanitären und medizinischen Bedingungen starben rund 16.000 von ihnen fernab der Kampfhandlungen.
Die Macht der Medien war enorm. Der britische Kommandant Lord Raglan beschwerte sich sogar in mehreren Briefen bei seinem Kriegsminister, dass die Berichte englischer Zeitungen, die auch in St. Petersburg gelesen wurden, den russischen Befehlshabern nicht nur wichtige militärische Informationen zukommen ließen, sondern auch die Moral des Feindes stärkten.
Die Berichterstattung führte in Großbritannien zu einer großen Anzahl von Spenden für Hilfsfonds und zur Entstehung von Initiativen wie der der Krankenschwester Florence Nightingale. Und das war noch nicht alles: Die Macht der britischen Öffentlichkeit war damals so groß, dass im Januar 1855 sogar die britische Regierung wegen der publizistischen Kritik an den Missständen zurücktrat. „Es handelte sich um den ersten Krieg der Geschichte, in dem die öffentliche Meinung eine so bedeutende Rolle spielte“, urteilt der englische Historiker Orlando Figes in seinem Buch über den Krieg (5).
Medien als Hauptkriegstreiber
Doch die Medien waren keine humanitären Helfer, die nur das Wohl der Soldaten im Auge hatten. Zuvor hatten sie nämlich höchst selbst die Londoner Regierung und ebenjene Soldaten in den Krieg getrieben. Figes kommt zu dem bemerkenswerten Urteil: Mit dem Krimkrieg hatte zum ersten Mal in der Geschichte die Macht der Presse einen militärischen Konflikt ausgelöst.
Als Schuldige der jeweiligen Kriegsparteien nennt der Historiker für Russland und Frankreich deren autokratische Herrscher Nikolaus I. und Napoleon III. Aber mit Blick auf sein Heimatland identifiziert Figes tatsächlich die Medien als hauptverantwortliche Kriegstreiber. Der deutsche Historiker Jürgen Osterhammel urteilt in seiner Geschichte des 19. Jahrhunderts exakt genauso.
Zwar gab es auch in der Londoner Regierung kriegswillige Politiker wie den Innenminister Lord Palmerston, der nach dem Regierungssturz als neuer Premierminister den Krieg gegen Russland noch ausweiten wollte, doch habe sich dieser erst im Zusammenspiel mit den Medien durchsetzen können. Der Historiker Manfred Hildermeier schreibt: Palmerston und die britische Regierung „konnten sich auf eine öffentliche Meinung stützen, die ihren antirussischen Ressentiments freien Lauf ließ“.
Dabei handelte es sich nicht nur um niveaulose Revolverblätter, sondern auch um die meinungsbildenden Leitmedien des damaligen Empire. Heute würde man sie wohl Qualitätszeitungen nennen. Neben eigenen Hetzkommentaren boten diese Gazetten auch immer wieder anonymen Scharfmachern ein Podium für deren anti-russische Tiraden.
Über viele Jahre hinweg hatten die Zeitungen eine anti-russische Stimmung aufgebaut, die erschreckende Parallelen zur heutigen Situation in der westlichen Medienlandschaft aufweist. Und selbst nach der Kapitulation Sewastopols hatte die Presse noch nicht genug und blies — letztlich vergeblich — zu einer Ausweitung des Krieges auf andere Teile Russlands.
Doch der Reihe nach.
Unrealistische Ängste vor Russland schüren
Schon seit Ende der 1820er Jahre war in britischen Zeitungen häufiger von der russischen Bedrohung Indiens — der wichtigsten britischen Kolonie — die Rede. Orlando Figes schreibt:
„Aber obwohl fast niemand in offiziellen britischen Kreisen glaubte, dass Russland eine ernste Bedrohung für Indien war, hielt dieser Umstand die russenfeindliche britische Presse nicht davon ab, solche Ängste zu schüren (…).“
Die Zeitungen boten militärischen Falken wie George de Lacy Evans Bühnen, auf denen diese ohne jeden Beweis Schreckensszenarien über russische Invasionen konstruieren durften. Nicht von ungefähr erinnert dies an heutige „Warnungen“ vor einer russischen Invasion im Baltikum, die gern von NATO-affinen Autoren vorgebracht werden. Auch anonyme Pamphletisten durften sich in den Zeitungen ausbreiten. Einer schrieb 1838 von „beispiellosen Aggressionen Russlands in alle Richtungen“.
Anti-russische Lobbyisten, die meist auch den Freihandel befürworteten, warnten vor russischen Zöllen und dem Ausgreifen Russlands auf für die Briten wichtige Häfen und Überlandhandelswege und fanden so Gehör bei Unternehmern. Anspruchsvolle Zeitschriften der intellektuellen Kreise wie die Foreign Quarterly Review oder die British and Foreign Review berichteten so neben den Tageszeitungen ebenfalls immer russlandfeindlicher, wie der Wissenschaftler erklärt.
Vorbild für westliche Russophobie des 20. Jahrhunderts
Manche dieser Schriften erinnern an die Domino-Theorie aus dem Kalten Krieg. Generell prägten viele britische Gedanken des 19. Jahrhunderts die anglo-amerikanische Russophobie des 20. Jahrhunderts, erläutert Figes. Diese Erkenntnis lässt sich wohl mühelos auch auf das 21. Jahrhundert übertragen.
„Das Klischee Russlands, das aus diesen überspannten Schriften hervorging, war das einer brutalen Macht, die von Natur aus aggressiv und expansionistisch, doch auch hinreichend verschlagen und betrügerisch war, um sich mit ‚unsichtbaren Kräften‘ gegen den Westen zu verschwören und andere Gesellschaften zu infiltrieren.“
Und täglich grüßt das Murmeltier. Aggressivität, Landhunger, Verschlagenheit — bis heute sind genau solche Russlandbilder in westlichen Medien dominant. Die Russophobie sei „das ausgeprägteste und hartnäckigste Element der britischen Einstellung zur Außenwelt gewesen“, urteilt Figes weiter — wohlgemerkt über die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts. Irrationale Ängste vor dem Zarenreich gehörten im British Empire zum journalistischen Alltag. Überall in Europa hätten vor allem Fantasien und Ängste die Einschätzung Russlands bestimmt.
Zeitungen fordern Krieg
Gern agierten die englischen Zeitungen im Zusammenspiel mit bestimmten anti-russisch gesinnten Politikern. Der britische Istanbul-Gesandte und spätere Parlamentsabgeordnete David Urquhart hatte russische Diplomatendepeschen veröffentlicht, die er zuvor selbst gefälscht hatte. Diese ließen Russland in schlechtem Licht erscheinen. Die britische Presse habe die Fälschungen jedoch gern als authentisch anerkannt, berichtet der Historiker.
1836 schickte derselbe Urquhart aufständischen Tscherkessen, die in der Kaukasusregion gegen die russische Armee kämpften, ein britisches Schiff voller Waffen. Der Diplomat verletzte damit bewusst den Vertrag von Adrianopel, der es ausländischen Schiffen verbot, an der Ostküste des Schwarzen Meeres anzulegen. Er wollte einen Konflikt zwischen Großbritannien und Russland anzetteln, schreibt Figes.
Urquharts vorgesetzter Botschafter in Istanbul und der britische Außenminister hätten von dem Plan gewusst. Nachdem das englische Schiff namens Vixen gezielt die Konfrontation mit russischen Kreuzern gesucht hatte, wurde es — wie erwartet — von der russischen Marine aufgebracht. Die britische Presse rief empört zu einem Krieg gegen Russland auf.
Muslimische Rebellen gegen Russland bewaffnen und militärische Zwischenfälle im Schwarzen Meer provozieren? Es wirkt, als wären heutige NATO-Strategen beim British Empire in die Lehre gegangen. Parallelen zu den Kriegen in Afghanistan (1979 bis 1989) und Syrien (seit 2011) sowie zur kürzlichen Konfrontation in der Straße von Kertsch sind unverkennbar.
Doch zurück ins 19. Jahrhundert: Noch waren die britischen Zeitungen mit ihren Kriegsrufen nicht erfolgreich, doch das änderte sich Ende 1853.
Presse treibt Regierung in Krimkrieg
Der neunte russisch-türkische Krieg war bereits im Gange, als die russische Kriegsmarine im November 1853 ein osmanisches Flottengeschwader im Hafen der türkischen Schwarzmeerstadt Sinope zerstörte. Laut Figes ein normaler Kriegsakt. Doch die britische Presse verwandelte den Angriff sofort in eine „brutale Freveltat“, ein „Gemetzel“ und übertrieb maßlos bei der Zahl der getöteten Zivilisten. Sie wollte England in den Krieg hineinschreiben.
Die Times polterte: „Wir hielten es für unsere Pflicht, die Sache des Friedens aufrechtzuerhalten und zu verteidigen, solange der Frieden sich mit der Ehre und Würde unseres Landes vereinbaren ließ (…) aber der Kaiser von Russland hat den Seemächten den Fehdehandschuh hingeworfen.“
Im Chronicle war zu lesen: „Wir werden das Schwert ziehen, wenn wir es ziehen müssen, nicht nur um die Unabhängigkeit eines Verbündeten zu schützen, sondern auch um die Ambitionen und Intrigen eines Despoten zu durchkreuzen, dessen unerträgliche Anmaßung ihn zum Feind aller zivilisierten Nationen gemacht hat.“
Auch die regionalen Zeitungen zogen nach. „Die Zeit scheint reif zum Handeln zu sein, wenn wir die bösen Pläne und Bemühungen Russlands vereiteln wollen“, verkündete etwa der Sheffield and Rotherham Independent (6).
„Die Zeitungen grölen dauernd nach Einmischung“
Die britische Regierung dachte Figes zufolge im Dezember 1853 überhaupt nicht daran, sich in diesen Krieg ziehen zu lassen. (7) Auch Queen Viktoria warnte. Doch russophobe Politiker erhöhten in Zusammenarbeit mit den Medien den Druck. Innenminister Lord Palmerston war zurückgetreten und rief nun gemeinsam mit den Journalisten nach Krieg. Außenminister Clarendon schwenkte auf diese Position ein, als er die öffentliche Mehrheitsmeinung wahrnahm.
Premierminister Lord Aberdeen, der die empfindliche Regierungskoalition aus Konservativen und Liberalen zusammenhalten wollte, klagte: „Ein englischer Minister muss die Zeitungen zufriedenstellen. (…) Die Zeitungen grölen dauernd nach Einmischung. Sie sind Schinder, und dazu machen sie auch die Regierung.“
Pazifisten und andere Kriegsgegner wurden von der britischen Presse als „prorussische“ Verräter geschmäht. Dies ging sogar soweit, dass der Morning Advertiser — eine Art Bildzeitung dieser Zeit — die Hinrichtung des gegen den Krieg eingestellten Prinz Albert forderte. Im Namen der Königin sprachen Premierminister Aberdeen und der Unterhausführer John Russell mit den Herausgebern aller großen Blätter. Figes schreibt:
„Doch deren Antworten ließen kein Ende der Kampagne erhoffen: Die Herausgeber selbst hatten die Artikel gebilligt und sie in manchen Fällen sogar eigenhändig geschrieben (…).“
Französische Presse zog mit
Auch in Frankreich forderten Zeitungen den kurz zuvor durch einen Staatsstreich zum Kaiser gewordenen Napoleon III. auf, militärisch gegen Russland vorzugehen. Besonders die katholische Presse tat sich — begründet durch ihre Feindschaft zur russischen Orthodoxie — dabei hervor.
Die Union franc-comtoise schrieb im Januar 1854: „Ein Krieg mit Russland ist bedauerlich, doch notwendig und unvermeidlich.“
In der L’Impartial hieß es im selben Monat: „Falschheit in der Politik und Falschheit in der Religion — das verkörpert Russland. Seine Barbarei, die versucht, unsere Kultur nachzuäffen, weckt unser Misstrauen; sein Despotentum erfüllt uns mit Entsetzen. (…) Die Politik von Nikolaus hat in allen zivilisierten Staaten Europas einen Sturm der Entrüstung aufkommen lassen; dies ist die Politik der Vergewaltigung und Plünderung; es ist Banditentum in riesigem Maßstab.“
Der Spectateur de Dijon rief zum „Heiligen Krieg“ gegen Russland auf. Dort war weiter zu lesen:
„Russland stellt eine besondere Gefahr für alle Katholiken dar (…) Wir wissen, dass man in St. Petersburg davon träumt, dem Westen eine religiöse Autokratie aufzuerlegen. Dort hoffen sie, uns durch die grenzenlose Expansion ihrer Militärmacht zu ihrer Häresie bekehren zu können. Wenn sich Russland auf dem Bosporus festgesetzt hat, wird es Rom und Marseille gleichermaßen schnell erobern“ (8).
Ging es in der britischen Öffentlichkeit laut Figes damals um die Prinzipien von „Freiheit, Zivilisation und Freihandel“ — heute würde man von „Freiheit, Demokratie und Menschenrechten“ sprechen — so warfen die Franzosen eher den Katholizismus und die Angst vor einer russischen Invasion in die propagandistische Waagschale.
Eroberer warnen vor Eroberern
Auch auf der französischen Seite des Ärmelkanals gab es Diplomaten, Militärs und Prediger, die in Pamphleten öffentlich auf den russischen Expansionismus schimpften; was wenige Jahrzehnte nach Napoleon Bonapartes gescheiterten Weltherrschaftsplänen schon eine satirische Note hat. Die Logik dieser Leute störte es auch nicht, dass Frankreich ausgerechnet dem Osmanischen Reich seit 1830 in einem grausamen Krieg Algerien entrissen hatte. Und nun warnte man vor einem russischen Autokraten und lebte doch selbst unter der Herrschaft eines putschenden Diktators — Bonapartes Neffen, Napoleon III.
Mehr Doppelmoral geht nicht? Warten Sie es ab. Die britischen Argumente kommen noch.
Der französische Diplomat Alexandre d’Hauterive schrieb:
„In Zeiten des Friedens strebt Russland danach, nicht nur seine Nachbarn, sondern sämtliche Länder der Welt in einen Zustand der Verwirrung aus Misstrauen, Aufruhr und Zwietracht zu zwingen. (…) Russland bewegt sich nicht direkt auf sein Ziel zu (…), sondern es untergräbt die Grundlagen auf hinterhältigste Art.“
Heute würde man von russischer Propaganda, hybrider Kriegführung und Wahlbeeinflussungskampagnen reden. Klar wird: Diese Propagandafiguren eines allmächtigen hinterlistigen Russlands sind schon sehr alt und existieren so lange, wie westliche Mächte Moskau als ernstzunehmenden Konkurrenten ihrer internationalen Machtansprüche wahrnehmen.
Frankreichs reale Interessen
Tatsächlich hatte Frankreich erhebliche militärisch-politische Interessen am Krimkrieg. Vor allem ging es darum, die eigene strategische Position im Mittelmeer zu sichern. Napoleon III. sah die Gefahr, dass Frankreich seinen Großmachtstatus verlieren könnte, wenn das Meer zwischen England und Russland aufgeteilt würde. Zudem wollte er die innere Unruhe nach seinem Putsch durch einen Krieg nach außen ablenken, wie er offenherzig schrieb. Außerdem hatte er vor, eine anglo-französische Allianz zu begründen, für die er einen gemeinsamen Feind benötigte.
Napoleon III. hatte die Haltung der Öffentlichkeit bei seinen politischen Handlungen stets mit im Blick. Jürgen Osterhammel charakterisiert ihn als „Hasardeur“, der durch prestigeträchtige außenpolitische Manöver seine Popularität im Lande zu steigern versuchte. Und Napoleon III. wusste um die Macht der britischen Presse. Er kalkulierte deren Reaktion in seine internationalen Vorhaben ein.
Orlando Figes schreibt, laut dem Diplomaten Duc de Persigny war der französische Kaiser davon überzeugt, „dass die Entsendung der [französischen] Flotte die britische Russophobie ansprechen, den Beistand der bürgerlichen Presse hervorrufen und die eher vorsichtige Regierung Aberdeen zwingen werde, sich Frankreich anzuschließen.“
England kämpft für „Gerechtigkeit“
Mit Lord Palmerston, der ein Jahr später Premierminister sein würde, gab es in Großbritannien ebenfalls einen Politiker, der die moderne Medienwelt verstanden hatte. Im Gegensatz zum konservativen Regierungschef Aberdeen hegte und pflegte Palmerston die Hauptstadtjournalisten. Er wusste außerdem, schon 160 Jahre vor der Erfindung von Twitter, dass es schlichte und laute Botschaften braucht, um in der Presse auf sich aufmerksam zu machen.
Vor allem gelang es ihm, seine Außenpolitik als gleichbedeutend mit dem imaginierten britischen Nationalcharakter darzustellen: freiheitsliebend, kühn, stolz, ritterlich und streitlustig in der Verteidigung der Schwachen. Im Parlament erklärte Palmerston einmal, es sei Englands wirkliche Politik „Vorkämpfer von Recht und Gerechtigkeit“ zu sein und „das Gewicht seiner moralischen Sanktion dort einzusetzen, (…) wo immer seiner Ansicht nach Unrecht begangen worden ist.“
Wie heute: Westliche Selbstgerechtigkeit und Doppelmoral
Darin kommt exakt jene unerträgliche Doppelmoral westlicher Macht- und Medieneliten zum Vorschein, die bis in die Jetzt-Zeit zu beobachten ist. Aus heutiger Sicht mag es zwar geradezu drollig erscheinen, wenn damals mit Großbritannien und Frankreich die beiden größten Imperial- und Kolonialmächte der Welt vor Expansionismus und militärischer Aggressivität eines anderen Reichs warnten. Doch so befremdlich ist das gar nicht, bedenkt man, dass die USA — das heutige Abbild des British Empire — gegenüber Russland auch weiterhin haargenau so verfahren.
Dabei bedurfte es auch im 19. Jahrhundert schon eines bemerkenswerten Maßes an Naivität oder Selbstbetrug, um zu glauben, dass britische Machteliten, die etwa in Nordamerika rund 150 Jahre lang die einheimischen Indianer vertrieben, versklavt und ermordet hatten und dort und anderswo nie vor Annexionen, Einmischungen und Massakern zurückgeschreckt hatten, sich mit dem Krimkrieg plötzlich aus Gerechtigkeitsgründen an die Seite eines unterdrückten Landes stellten — das Osmanische Reich —, das im Übrigen selbst ein mächtiges Imperium war.
Es genügt ein Blick in die Geschichte der britischen Überseegebiete und Kronkolonien. Von den Falkland-Inseln bis Hongkong, von Gibraltar bis Australien, von Virginia bis Südafrika: Nie hatte die aggressive Außenpolitik des British Empire irgendetwas mit Recht und Gerechtigkeit oder gar mit dem Schutz von Schwächeren zu tun.
Russen kritisierten Doppelstandards schon damals
Die westliche Doppelmoral erkannte der russische Historiker und Publizist Michail Pogodin bereits 1853. In einem Memorandum an den Zaren schrieb er:
„Frankreich nimmt der Türkei Algerien weg, und fast jedes Jahr annektiert England ein weiteres indisches Fürstentum: Nichts davon stört das Machtgleichgewicht; doch wenn Russland die Moldau und die Walachei auch nur vorübergehend besetzt, ist das Gleichgewicht der Kräfte gestört. Frankreich besetzt Rom und bleibt dort mehrere Jahre lang in Friedenszeiten — das ist gar nichts, doch Russland braucht nur an die Besetzung Konstantinopels zu denken, und der Frieden von Europa ist bedroht. Die Engländer erklären den Chinesen den Krieg, die sie anscheinend beleidigt haben — niemand hat das Recht einzugreifen. Russland aber ist verpflichtet, Europa um Erlaubnis zu bitten, wenn es sich mit seinen Nachbarn streitet.“
Auch das russische Zarenreich war ein Imperium, das Angriffskriege gegen Nachbarländer führte, um seine Interessen durchzusetzen, oder mit militärischen Interventionen — etwa in Ungarn 1849 — überkommene Feudalregime am Leben erhielt. Innenpolitisch handelte es sich um eine Diktatur mit Leibeigenschaft, massiven Repressionen und einer extrem konservativen Reichskirche. Der rücksichtslose, schlecht informierte Zar Nikolaus hatte mit seiner diktatorisch-religiösen Verbohrtheit erheblichen Anteil am Zustandekommen des Krimkriegs.
Doch hier geht es um die Heuchelei des Westens: eigene Interessen und Verbrechen zu verschweigen, kleinzureden oder ganz zu leugnen und gleichzeitig Russland moralisch zu verurteilen. Das Prinzip wurde also schon damals von hiesigen Macht- und Medieneliten angewandt — es dient bis heute einzig dazu, die Öffentlichkeit zu täuschen. Diese PR-Manöver waren in Zeiten wachsender öffentlicher Meinungsmacht notwendig geworden, um unredliche Politikziele zu rechtfertigen.
Englische Drohungen und Einmischungen
Tatsächlich ging es den westlichen Mächten nie um Achtung der osmanischen Souveränität oder um den Schutz christlicher Minderheiten dort, sondern immer nur um eigene ökonomische und geopolitische Interessen. Erst 1838 hatte Großbritannien dem Osmanischen Reich durch militärische Drohungen selbst ein Zollabkommen aufgezwungen. Britische Auslandsunternehmer hatten über ihre Zeitungen in England hierzu entsprechenden Druck aufgebaut.
Zudem regierte Stratford Canning, der britische Botschafter in Istanbul, massiv in die türkische Innenpolitik hinein. Er diktierte Gesetzesänderungen und erzwang liberale Reformen. Während der russisch-türkischen Spannungen 1853 drängte er den Sultan zu einer harten Haltung und schließlich zur Kriegserklärung an Russland.
Großbritannien zeigte bei seinen Drohungen und Einmischungen nicht die geringste Achtung vor der türkischen Souveränität. Dies forderten die Briten nur von Russland. Doch um sich an edle Motive zu halten, war das Osmanische Reich viel zu wichtig. Es war nicht nur eine bedeutende Rohstoffquelle, sondern auch ein schnell wachsender Absatzmarkt für die britische Exportindustrie. Die russische Kontrolle über das Donaudelta und im Schwarzen Meer war Großbritannien ebenfalls ein Dorn im Auge, denn sie stellte britische Händler in der Region vor Probleme wie höhere Kosten durch Zölle und Zeitverlust durch Quarantänebestimmungen.
Britische Kriegsziele hinter hehren Worten
So hatten auch die englischen Machteliten hinter ihren Schleier der moralischen Empörung sehr realpolitische Interessen am Krimkrieg. Es ging Großbritannien — das ist heute Konsens unter Historikern — um wirtschaftliche und geopolitische Ziele: die Kontrolle über die türkischen Meerengen, die Sicherung der Überlandhandelswege durch Kleinasien, die deregulierte („freie“) Handelsschifffahrt im Schwarzen Meer, das Privileg der Einmischung in die osmanische Wirtschaft und die Einschränkung des russischen Machtanspruchs in der Region generell. In den englischen Zeitungen war von diesen sehr realpolitischen Interessen wenig zu lesen. Auch das erinnert an heute.
Dass der Krimkrieg für die westlichen Regierungen lange vor 1853 eine absehbare Option war, wird auch dadurch deutlich, dass man schon Jahre zuvor den Kriegshafen Sewastopol auskundschaften ließ. Die Osteuropahistorikerin Kerstin Jobst schreibt, dass britische und französische Gesandte ab dem frühen 19. Jahrhundert auf dem Stützpunkt der russischen Schwarzmeerflotte eifrig Militärspionage betrieben. Das wohl bekannteste Beispiel hierfür ist der britische Agent Laurence Oliphant. Sein Kollege Edward Daniel Clarke plädierte nach seiner Inaugenscheinnahme des Kriegshafens „leidenschaftlich für eine britische Militärexpedition“, erklärt Jobst.
Politische, kommerzielle und militärische Interessen der britischen Machteliten waren schon lange eng miteinander verzahnt. Private Initiativen und Handelskompanien bereiteten den Boden, die Krone zog nach. Diese schickte zur Not ihre Kriegsflotte, etwa um ausländische Märkte für Profitinteressen englischer Kapitalisten zu öffnen, auch wenn das für das Zielland negativ war.
Im Ersten Opiumkrieg mit China (1839 bis 1842) entsandte London beispielsweise eine Flotte, um Peking zu zwingen, die Grenzen für Drogenimporte (!) zu öffnen — nicht gerade edel. Dabei versenkten moderne dampfgetriebene Schlachtschiffe der Navy reihenweise chinesische Dschunken. Für die britische Presse war nichts davon eine „Freveltat“.
Freveltaten des Westens sind keine
Als 1854 schließlich die alliierte Invasion der Krim stattfand, begangen die Invasoren auch hier Kriegsverbrechen. Doch ähnlich wie heute marginalisierten die meisten Zeitungen westliche Freveltaten. Kampagnen produzierten sie nur zu russischen Aktivitäten.
Ein Jahr lang zerschossen britische und französische Artillerie die Hafenstadt Sewastopol ohne jede Rücksicht auf Zivilisten. Unzählige Frauen und Kinder der dort stationierten Matrosenfamilien starben beim Dauerbombardement.
„Hier haben sie auch das letzte Häuschen zu Schanden geschossen“, sagte eine alte Bewohnerin der Stadt in Leo Tolstois „Sewastopoler Erzählungen“. Der russische Schriftsteller, der später Weltruhm erlangte, hatte den Krimkrieg als Offizier miterlebt.
Der französische Militärinspekteur Baron Bondurand schrieb:
„Die Stadt ist buchstäblich zermalmt. Es gibt kein einziges Haus, das unsere Geschosse verfehlt haben. Kein Dach ist noch vorhanden, und fast alle Wände sind zerstört worden.“
Die Stadt lag dermaßen in Trümmern, dass sogar das zerstörte Pompeji im Vergleich dazu in einem guten Zustand sei, urteilte der Schriftsteller Mark Twain bei seinem Besuch in Sewastopol noch zehn Jahre nach dem Krieg.
Vergewaltigungen, Zerstörungswut, Kunstraub
Auch in anderen Orten benahmen sich die Westeuropäer ganz und gar nicht zivilisiert. In Kertsch vergewaltigten britische und französische Soldaten einheimische Frauen — Russinnen, Ukrainerinnen und Krimtatarinnen. Diese Fälle sind keine russische Propaganda, sondern belegt, schreibt Kerstin Jobst. Auch britische Offiziere waren an den Verbrechen beteiligt.
Unter den Augen der Westmächte durften osmanische Soldaten und einheimische Tataren in Kertsch hunderte Russen ermorden und verstümmeln, erläutert Orlando Figes. Der englische General George Brown unternahm tagelang nichts gegen die pogromartigen Ausschreitungen und bezeichnete sie als „legitime Rebellion“ der Krimtataren. Ebenfalls in Kertsch kam es zu massiven Kunstdiebstählen der Franzosen aus dem dortigen Antikemuseum. Die gestohlenen Bestände wurden später im Louvre ausgestellt.
Einzig um ihre Macht zu demonstrieren, zerstörten alliierte Schlachtschiffe die nicht verteidigten Hafenstädte Taganrog und Mariupol am Asow’schen Meer. Die Vertreter der westlichen Kulturnationen hatten keine Hemmungen, in Taganrog unter anderem den gesamten Hafen und die Kuppel der örtlichen Kathedrale zu vernichten. Nach der Aufgabe Sewastopols plünderten Engländer, aber vor allem die Franzosen hemmungslos und durch Offiziere organisiert. Hier war keine höher stehende europäische Zivilisation anzutreffen. Französische Kultur erschöpfte sich im Kunstdiebstahl; britische Ritterlichkeit zeigte sich als vergewaltigende Mordbrennerei.
Ein blutiger Sieg war den Medien nicht genug
Nach dem alliierten Sieg auf der Krim drang die vereinigte britische Kriegspartei aus Medien und politischen Akteuren auf eine Fortführung und Ausweitung des Krieges. Figes schreibt:
„Die russlandfeindliche Presse forderte Palmerston auf, eine Frühjahrskampagne in der Ostsee einzuleiten. Sie verlangte die Zerstörung von Kronstadt, die Blockade von St. Petersburg und die Vertreibung der Russen aus Finnland.“
Der Premierminister stand dem in nichts nach. Palmerston schmiedete sogar weitergehende Pläne, die auch im 20. und 21. Jahrhundert von westlichen Militärstrategen genauso verfolgt wurden (9). Die baltischen Staaten, Polen und das Osmanische Reich sollten zu einer „Zirkumvallationslinie“ aus pro-westlichen Pufferstaaten gegen eine potenzielle russische Ausdehnung werden. Die Völker im Russischen Reich sollten zu einem „Krieg der Nationalitäten“ aufgerufen werden, um das Reich von innen her zu destabilisieren. Im Kaukasus belieferte Großbritannien den muslimischen Imam Schamil mit Geld und Waffen für seinen Kampf gegen Russland.
Entmilitarisierung der Krim
In Frankreich war der Krimkrieg wegen der eigenen 100.000 toten Soldaten jedoch inzwischen extrem unpopulär, was Kaiser Napoleon III. zu Friedensverhandlungen veranlasste, die auch von Österreich unterstützt wurden. Allein konnte das British Empire mit seinen eher geringen Landstreitkräften nicht weiterkämpfen. Entgegen dem Drängen der britischen Falken kam es zum Frieden von Paris.
Der Friedensvertrag beinhaltete unter anderem die Öffnung der türkischen Meerengen und des Donaudeltas für die Handelsschifffahrt. Die Historiker Jane Burbank und Frederick Cooper bezeichnen den Vertrag als „Sieg für die Freihandelsimperien“.
Ebenfalls wurde die Entmilitarisierung des Schwarzen Meeres beschlossen. Damit wurde Russland zwar mehr gedemütigt als etwa Frankreich nach den napoleonischen Niederlagen, wie Figes bemerkt. Nie zuvor sei eine Großmacht bis dahin zur Abrüstung gezwungen worden. Aber trotzdem hatte Großbritannien nicht mal seine zuvor proklamierten Minimalbedingungen erreicht: Palmerston forderte unter anderem die Rückgabe der Krim — an das Osmanische Reich.
Die Namen wechseln, das Szenario bleibt
Und da wären wir wieder im Heute. Rund 160 Jahre nach dem Krimkrieg muss man nur einige Namen und Begriffe austauschen und bemerkt, dass die derzeitige Situation erschreckende Parallelen zur damaligen Zeit besitzt. Bitte ersetzen: Nikolaus I. durch Putin, Großbritannien durch USA, Osmanisches Reich durch Ukraine, Freihandelsvertrag durch Assoziierungsabkommen, Handelswege durch Pipelinerouten, der Vixen-Zwischenfall durch die Konfrontation in der Straße von Kertsch, Londoner Times durch New York Times — nur die Krim bleibt die Krim.
Für Verantwortliche in Politik und Medien besteht theoretisch immer die Möglichkeit, vernünftige Lehren aus der Geschichte zu ziehen. Halten sich die heutigen Akteure jedoch an das blutige historische Drehbuch, droht uns allen weit mehr als ein begrenzter Konflikt um eine Halbinsel. Der Krimkrieg war der erste moderne Krieg der Geschichte. Eine Neuauflage wäre der letzte.
Quellen & Anmerkungen:
(1) Die genaue Zahl der Todesopfer ist unbekannt. Die deutschen Historiker Winfried Baumgart und Manfred Hildermeier gehen von rund 640.000 toten Soldaten aus — Russland: 474.000 Tote, Frankreich: 95.000, Osmanisches Reich: bis zu 45.000, Großbritannien: 20.000. Der britische Historiker Orlando Figes schreibt, es habe mindestens 750.000 tote Soldaten gegeben, von denen wahrscheinlich rund 450.000 Russen waren. In den Massengräbern Sewastopols liegen laut Figes auch freiwillige Kämpfer aus Serbien, Bulgarien und Griechenland. Dazu komme noch eine unbekannte Zahl an toten Zivilisten, vor allem in der belagerten Stadt Sewastopol. Einig sind sich alle Autoren, dass die Mehrzahl der Soldaten nicht durch direkte Kampffolgen sondern durch Krankheiten, Seuchen, Hunger und Kälte starb.
(2) Mit der verzweifelten Verteidigung Sewastopols in den Jahren 1854/55 wurde die erst 70 Jahre zuvor gegründete Hafen- und Garnisonstadt laut der Osteuropahistorikerin Kerstin Jobst bereits zu Zarenzeiten zu einem „wahrhaft russischen Ort“ stilisiert. Sewastopol wurde zur „hochemotionalisierten Verkörperung des Leidens und des Widerstandswillens des russischen Volkes“, schreibt Jobst (406). „Die Erde der Krim galt als mit dem Blut russischer Söhne und Töchter (!) getränkt und damit abermals — nach dem 10. Jahrhundert — getauft.“ Schon der junge Tolstoi, der die Kämpfe in Sewastopol als Soldat miterlebte, schrieb in seinen Sewastopoler Erzählungen: „Lange wird in Rußland diese Epopöe [dieses Epos] von Sewastopol, deren Held das russische Volk war, tiefe Spuren zurücklassen…“ (19).
(3) Um diesen Absatz zu ergänzen: Nach fehlgeschlagenen internationalen Verhandlungen erklärte der osmanische Sultan Abdülmecid I. im September 1853 dem Russischen Reich den Krieg. Er agierte dabei mit westlicher Rückendeckung. Britische und französische Flottenverbände lagen bereits seit dem Sommer vor den Dardanellen. Konfrontiert mit der Landung eines britisch-französischen Expeditionsheeres bei Istanbul und türkischen Gegenangriffen auf russische Truppen, zog der Zar seine Soldaten nach Russland zurück. Österreichische und osmanische Armeen rückten als Besatzungstruppen in die Fürstentümer ein. Doch anstatt den Krieg nun zu beenden, entschieden sich die Alliierten für die Invasion der Krim. Mit dem Aufmarsch eines großen österreichischen Truppenkontingents an der russischen Grenze band das Habsburger Reich große Teile der russischen Armee. Ebenfalls Kriegsschauplätze — aber in geringerem Maß — waren der Kaukasus, die Ostsee und die russische Pazifikküste.
(4) Der einjährige Stellungskrieg um Sewastopol nahm laut Figes den industriellen Schützengrabenkrieg des Ersten Weltkriegs vorweg. Beide Seiten lagen sich in Schützengräben und zumindest auf russischer Seite stark ausgebauten Befestigungen gegenüber. Hart umkämpfte Schützengräben wechselten täglich den Besitzer. Bei einer Schlacht auf den Inkerman-Höhen starben 16.000 Soldaten in nur vier Stunden. Laut Figes eine Todesrate, die sich fast nur mit dem Gemetzel an der Somme im Jahr 1916 vergleichen lässt. Französische und britische Artillerie führten ein Dauerbombardement auf Sewastopol und die russischen Stellungen aus. Die russischen Verteidiger verfügten ebenfalls über eine große Zahl von Geschützen, die sie zum Teil von ihren selbst versenkten Schiffen demontiert und in die Stadt gebracht hatten. Alle Beteiligten sollen insgesamt rund fünf Millionen Bomben und Granaten in diesen Monaten verschossen haben. Auch die traumatischen Folgen des Dauerbeschusses traten damals bereits auf. Ärzte berichteten von psychologischen Symptomen, die denen der „Kriegszitterer“ aus dem Ersten Weltkrieg sehr ähnlich sind.
(5) Der Professor für neue und neueste russische Geschichte, der seit 1999 an der Universität London lehrt, hat im Jahr 2010 ein Buch über den Krimkrieg veröffentlicht. 2011 erschien es unter dem Titel „Krimkrieg. Der letzte Kreuzzug“ auch auf Deutsch. Das genannte Zitat findet sich auf den Seiten 436f.
(6) Alle Zeitungszitate nach Figes: 224.
(7) Figes deutet an, dass das Osmanische Reich genau daran großes Interesse hatte und das Geschwader auch deshalb ins Schwarze Meer geschickt hatte. Die türkischen Minister, denen ein englischer Überlebender von der Schlacht berichtete, reagierten jedenfalls seltsam ungerührt.
(8) Alle Zeitungszitate nach Figes: 234ff.
(9) Der deutsche Geostratege Paul Rohrbach, der im Auswärtigen Amt tätig war, forderte bereits 1914 die Zerlegung Russlands in dessen innerethnische Bestandteile. Russland sei wie eine Orange leicht in seine Einzelteile — wie das Baltikum, die Ukraine oder Georgien — zu zerlegen, erläuterte Rohrbach. Mit dem Diktatfrieden von Brest-Litowsk 1917 konnte das Deutsche Reich diese Zerschlagungspläne kurzzeitig realisieren. Russland musste riesige Westgebiete abtreten, aus denen Berlin einen Gürtel abhängiger Satellitenstaaten erschuf, schreibt der Journalist und Soziologe Jörg Kronauer (Seite 28ff.). Der britische Geograf Halford Mackinder übernahm diesen Gedanken in seiner Heartland-Theorie, wollte diese Pufferstaaten allerdings als störenden Riegel zwischen Deutschland und Russland verstanden wissen. Nach dem Kalten Krieg wurden dessen Ideen von US-Geostrategen wie Zbigniew Brzezinski weiterentwickelt. 2014 schrieb der Historiker Peter März, „dass die Grenzziehungen unserer Gegenwart im östlichen Europa denen, die der Vertrag von Brest-Litowsk gezeichnet hat, erstaunlich nahekommen.“
Literatur:
Jane Burbank, Frederick Cooper: Imperien der Weltgeschichte. Frankfurt am Main 2012.
Orlando Figes: Krimkrieg. Der letzte Kreuzzug. Berlin 2011.
Manfred Hildermeier: Geschichte Russlands. Vom Mittelalter bis zur Oktoberrevolution. München 2013.
Kerstin S. Jobst: Die Perle des Imperiums. Der russische Krim-Diskurs im Zarenreich. Konstanz 2007
Jörg Kronauer: Meinst Du, die Russen wollen Krieg? Russland, der Westen und der zweite Kalte Krieg. Köln 2018.
Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts. München 2011.