Der Duft der Achtziger
Gedanken eines Melancholikers aus einer anderen Zeit. Exklusivausschnitte aus dem Buch „La Triviata“.
Eine Zeitreise in das Jahr 1985. Ein damals zweiundvierzigjähriger Journalist kehrt seiner Branche enttäuscht den Rücken und riskiert freiwillig finanzielle Unsicherheit. Statt Arbeit und Geld hat er nun Zeit, sich und die Menschen in seinem Umfeld zu beobachten und seine Gedanken niederzuschreiben. Ein nachdenklich stimmender und mitten in das eigene Gemüt treffender Zeitzeugenbericht.
Das neue Buch von Rubikon-Autor Dirk C. Fleck trägt den Titel La Triviata — von trivial — und beginnt mit einer Ermahnung des französischen Malers und Schriftstellers Max Jacob (1876 bis 1944). Und diese lautet so:
„Ich weine vor euch. Oh ja! Meine Augen werden sich mit Tränen füllen. Und wenn ihr vorbei gegangen seid, werden meine Tränen nicht aufhören, da ich weiß, zu welchen Schlünden ihr wandert! Ich kenne besser als jeder andere den, der euch beim Umweg auflauert.“
Die hier versammelten 258 nummerierten Gedanken wurden als Waffe benutzt, als Waffe gegen die schleichende Depression, die den Autor „kampfunfähig“ zu machen drohte, nachdem er das erste Mal aus dem Journalismus ausgestiegen war. Zum besseren Verständnis sollte man sich das Vorwort zu Gemüte ziehen:
„Die vorliegenden Aufzeichnungen aus dem Jahre 1985 sind das Resultat einer großen Anstrengung, eines Überlebenskampfes, wenn man so will. Nachdem ich zuvor zwanzig Jahre in diversen Redaktionen gearbeitet hatte und feststellen musste, wie mein Traumberuf langsam, aber stetig vom demokratischen Korrektiv zum Handlanger von Kapitalinteressen mutierte, war ich erstmals kühn genug, den Ausstieg zu wagen.
Ich wollte nicht länger auf ,Maggies Farm‘ arbeiten, wie es Bob Dylan so treffend ausdrückte, ich tauschte finanzielle Sicherheit gegen Unabhängigkeit — in der guten Hoffnung, dass mir als freier Journalist, der zudem über einige Beziehungen verfügte, ein bescheidenes Einkommen beschieden sein würde. Dass mich die Marktlage, in der eine neue Kaste von Verlagsmanagern ihre Häuser inzwischen wie Schraubenfabriken führten, selbst wenn in ihnen an den Stellschrauben der Gesellschaft gedreht wurde, schneller in die Knie zwang als erwartet, war nicht vorauszusehen.
Mein journalistischer Niedergang bis hin zum Verfassen von Trivialromanen für die Regenbogenpresse ist aber nur die eine Seite der Medaille. Um meinen inneren Kompass nicht gänzlich zu verlieren, machte ich es mir zur Pflicht, mich mit täglichen Fingerübungen ,frisch‘ zu halten.
Das Manuskript ist dreiunddreißig Jahre alt. Nachdem der Suhrkamp Verlag einer Veröffentlichung zunächst zugestimmt hatte, um dann doch wieder abzusagen, war für mich klar, dass ich es allenfalls ein paar Freunden anvertrauen würde. Ich selbst habe immer mal wieder darin geblättert und mit den Jahren wuchs die Freude über das Buch, dessen Qualitäten mir zunehmend deutlicher vor Augen traten. Einen entscheidenden Reiz bezieht die Lektüre zweifellos aus der Tatsache, dass sie einer anderen Zeit entstammt.
Der Abstand zum Jahr 1985 ist aus zweierlei Gründen interessant: Zum einen wird klar, auf welch fatale Weise die Dinge fortgeschrieben wurden, von denen hier so häufig die Rede ist. Zum anderen transportiert das Buch den Duft der Achtziger, ein Jahrzehnt, das dem Minimalismus in zu engen Anzügen huldigte und dem wir in Nostalgie verbunden sind. Bei der Überarbeitung des Textes habe ich mich wie auf einer Zeitreise gefühlt und ich hoffe, dass es dem einen oder anderen Leser ähnlich ergeht.
,Es ist schade, dass alles nur Worte sind‘, hat Ingeborg Bachmann einmal gesagt, ,ich wünschte mir einen richtigen Scheiterhaufen.‘ 1985 ist ähnlich zu verstehen.
Dirk C. Fleck, im November 2018
POSTSCRIPTUM: Ein Wort zum Cover dieses Buches, weil sich doch viele fragen werden, welchen Bezug das Motiv zum Inhalt hat. Einen übergeordneten, würde ich sagen. Genauso wie der Untertitel ‚Der Duft der Achtziger‘. Mit beiden, Untertitel wie Cover, kann man unmöglich stimmig auf die unterschiedlichsten hier versammelten zweihundertachtundfünfzig Gedanken eingehen. Man kann allenfalls den Grundtenor herausfiltern.
Das könnte beispielsweise der Begriff Melancholie sein. Ich habe mich allerdings für etwas anderes entschieden, weil mir bei der Digitalisierung des Textes aufgefallen ist, das ich bereits damals, acht Jahre vor meinem Roman ‚GO! – Die Ökodiktatur‘, immer wieder auf die verhängnisvollen Entwicklungen hingewiesen habe, die so grandios ignoriert wurden und werden. Während wir seit Jahrzehnten sehenden Auges auf eine ökologische Katastrophe zusteuern, haben wir uns zu totalüberwachten, manipulierten Claqueuren entwickelt, deren Gier, Ignoranz und Gleichgültigkeit das Desaster erst möglich macht, weswegen uns die Chose demnächst zurecht um die Ohren fliegen wird. Klatsch, klatsch ...“
Die in La Triviata versammelten Gedanken sind von unterschiedlicher Länge und behandeln die unterschiedlichsten Themen. Garniert wird das Ganze durch Kurzgeschichten für die Regenbogenpresse, mit denen Fleck zu überleben versuchte, was jedoch kläglich scheiterte.
Der Autor war einfach nicht in der Lage, so schlecht zu schreiben, wie es verlangt wurde, obwohl ihm das Wasser bis zum Halse stand. Die folgenden Gedanken beziehen sich auf die deutsche Befindlichkeit von 1985. Ihr Grundtenor ist eher düster. Das gilt jedoch nicht für das gesamte Buch, es gibt auch lustige Passagen, denn in der Verzweiflung gewinnt man seltsamerweise einen erfrischenden Abstand zu der Trivialität des Alltags. Vielleicht kennt das der eine oder andere Leser ja auch …
3 — Es ist nur eine Frage der Zeit, wann das faschistische Potenzial in unserer Gesellschaft so angeschwollen ist, dass es aufbricht, um seine historische Mission in orgastischer Weise zu erfüllen. Für uns, die wir den Homo sapiens aufgrund einiger Zeugnisse aus dem Bereich der Kunst gerne anders als ein Krebsgeschwür gesehen hätten, wird es Zeit, sich der Wahrheit zu stellen.
12 — „Pina, wie siehst du deine Zukunft?“ Pina Bausch: „Meine Zukunft ...? I ... I don’t know ... because ... I think there is so big problems in the world, that I’m afraid to ask myself what I wish for myself. I am sure I ... I wish ... I hope ... strength, a lot of strength ...and love, I don’t know ... a lot of strength ...“.
31 — Was unterscheidet den Geistreichen, den Gebildeten, vom Genie? Seine mangelnde Identität, sein fehlender Mut zu leben und zu sterben. Während der Gebildete in feiner Distanz zum Leben bleibt, gibt sich das Genie dem Leben hin. Es kann seine Kunst, diese Arbeit am Rande des Unaussprechlichen, wie Musil sagt, nicht abtrennen.
Für Genies sind die Märkte verschlossen, auf denen sich die Geistreichen tummeln, ein Genie lebt volles Risiko, ohne jegliche Spekulation auf einen zu erzielenden Vorteil. Das ist hart, denn niemand wird aus gesicherten Verhältnissen heraus gerade jene unterstützen, die diese Verhältnisse radikal in Zweifel stellen. Man ist ja froh, wenn man die Quälgeister des eigenen Gewissens loswird. Das Leben ist hart, heißt es, Sie sind den Anforderungen nicht gewachsen, mein Herr ...
40 — Ich bediene mich eines einfachen Tricks, wenn die Schemen des kollektiven Wahns, des Stumpfsinns, der absurden Zeiterscheinungen und der zweifelsfreien Überheblichkeit mich mit Einkreisung bedrohen. Ich entkleide die Menschen ihrer Transportmittel. Ich retuschiere im Geiste ihre Autos weg, in denen sie sodann in seltsamen Posen über den Boden schrammen. Ich streiche ihnen die U-Bahn.
Übrig bleibt ein hundert Meter langer Pulk von Leibern, der durch die Unterwelt geschossen wird. Lustig ist auch das Bild, das Reisegesellschaften abgeben, wenn sie sich ohne den fest gefügten Rahmen eines Flugzeuges in die Lüfte erheben. Auf diese Weise gebe ich den Vögeln die Würde zurück. Ich bin das Kind, das auf den Kaiser zeigt und ruft: Er ist ja nackt! Ich kann uns sogar die Häuser wegnehmen, in denen wir übereinander geschachtelt in Fernseher glotzen, die gar nicht vorhanden sind ...
74 — Ist noch Kampf oder herrscht schon Ewigkeit?
110 — Die genormten und gelackten „Gesichter“ unserer Autos, über die wir so gerne Statuts und Persönlichkeit definieren, lenken doch nur von der Misere unserer eigenen Physiognomien ab. Man kann zu Tode erschrecken, wenn sich plötzlich die Tür eines Jaguars oder Porsches öffnet und seinen Menschen freigibt.
116 — Die Unbewussten gehören immer zur Mehrheit und dieses Wissen reicht aus, damit sie ihrer Arroganz und ihrem Zynismus lustvoll freien Lauf lassen können. Würde man sie auch nur für einen Tag aus dieser fürchterlichen „Solidargemeinschaft“ reißen und sie unter sensible, mitfühlende Menschen stecken, sie würden vor Angst zerbröseln.
123 — Ich bin der Tage überdrüssig, ich bin des deutschen Stumpfsinns überdrüssig. Die Bilder der Außenwelt kleben an mir, ich ertrage sie nicht mehr, diese ewig gleichen Impressionen, aus denen sich die sogenannte Realität zusammensetzt: Ein Mann schlägt den Kofferraumdeckel zu, ein Hund pinkelt dahin und dorthin, ein Flugzeug am Himmel, „und da sag ich, nee, sag ich ...“, ein Bus hält, ein Kind tritt gegen die Litfaßsäule und die anderen kauen lustlos auf dem Stück Zeit herum, das man ihnen zugeworfen hat ... Überdruss. Ich möchte mir die Tage ausziehen wie ein schmutziges Hemd, ich möchte der Mann sein, der seinen Kopf durch den Himmel steckt und verzückt ins Nichts starrt.
137 — Joseph Beuys ist tot. Sie mochten ihn nicht, aber sie werden sich etwas auf ihn zugutehalten.
151 — Seit langer Zeit mal wieder den SPIEGEL gekauft. Und schon hatte ich meinen deutschen Nachmittag. Der Mord an Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Ulrike Meinhof, Holger Meins und den anderen ist im Spiegel der Nation endlich Kultur geworden. Kultur – dieses Wort steht unten links (man beachte die Doppeldeutigkeit von unten und links) auf dem Szenenfoto eines neuen Films mit dem Titel „Stammheim“. Es zeigt ein Rudel Polizisten auf den gebohnerten Gängen des Gefängnistrakts bei der Überwältigung der Gefangenen. Die Szene ist natürlich gestellt. Originalfotos aus der Sicherheitsburg gibt es nicht. Höchstens in den Privatalben der ehemaligen Wächter („Die Ensslin und ich ...“).
158 — Als man mir die ersten Informationen über das Dritte Reich verabreichte, hatte ich bald den Wunsch, für einige Stunden in den deutschen Alltag von 1937 eintauchen zu dürfen. Ich wäre zu gerne einmal unter jenen Menschen gewesen, die die Katastrophe zu verantworten hatten, da sie sie nicht verhindert haben. Ich wollte ihnen in die Augen schauen, um die Schuld heraus zu lesen, die sie gerade auf sich luden.
Ironischerweise lebe ich heute in einer Gesellschaft, die eine sehr viel weitreichendere Schuld anhäuft, als es das Höllenspektakel unter Hitler war. Wir haben die Endlösung parat! Die Geschichte braucht nur noch zu wählen zwischen Atomkrieg, Klimakollaps, Nullnatur, Überbevölkerung, Seuchen und Faschismus. Sie wird sich bald entschieden haben, ich rechne eigentlich stündlich damit. Andere übrigens auch. Weder für die Wissenschaft noch für die Wirtschaft, die Politik oder die Medien ist es ein Geheimnis, dass wir am Ende sind. Der Tanz auf dem Vulkan wird immer heißer. Im Angesicht des Untergangs setzen wir alles auf Gewinn.
Der kleinste Appell an die Vernunft wird gierig im Keim erstickt. Könnte man uns überleben, wären wir für unsere Nachkommen die „Autofahrer“. Dieses Schimpfwort träfe auf uns alle zu und es würde alles über uns aussagen. Die „Autofahrer“ bewegten sich gelangweilt von A nach B und opferten dafür Luft und Boden ... Wie ist der Ausdruck in UNSEREN Augen? Abwesend, in Fett gestrichen. Nur an den Tankstellen blitzt unser verhängnisvoller Fanatismus durch. Von Schuldgefühlen keine Spur, das kann ich bezeugen. Im Gegenteil, unsere Gesichter sind Aushängeschilder der einvernehmlichen Aktion FORTSCHRITT. Meine Tage sind nichts als eine zitternde Erwartung vor dem Knall.
164 — So schnell, wie wir uns in die rauschhafte Zerstörung begeben, kann man sie gar nicht dokumentieren. Jede gesellschaftskritische Arbeit muss also ein Vorgriff auf die Ereignisse sein, einfach um Zeit zu gewinnen ...
175 — Glauben Sie nur nicht, meine Herren Verschworenen, ich hätte etwas einzuwenden gegen die tödliche Strahlung, die uns auf lange Sicht das Geschenk neuer Augen beschert, in die man nicht mehr nach Belieben hinein stechen kann. Glauben Sie nur nicht, ich würde den Verlust meiner Persönlichkeit beklagen, die sich ausschließlich in Ihren Datenbanken entwickelt. Warum sollte ich den Kindern nachweinen, die in den Laboren auf Tod programmiert werden? Die Tiere finde ich hier schon lange nicht mehr, also lasst uns gehen ...
177 — Ich traue ihnen nicht, den geistigen Kleingärtnern, die uns über den Gartenzaun hinweg ansprechen, die charmant plaudernd, lustvoll verführend und virtuos argumentierend ihr gescheitertes Leben als Offenbarung verhökern. Sie wollen einem den Tand ihres Wissens andrehen, wo man doch unbeschwert weitergehen möchte. Am liebsten hetzen sie die Hunde auf einen, wenn es nur nicht dem guten Ruf schade würde.
182 — Es besteht kein Zweifel daran, dass wir trotz aller geistigen Beschränktheit doch immer zu Hause sind, wo denn auch sonst. Wir müssen nur ein Gefühl dafür entwickeln.
213 — In Platons idealen Staatsgesetzen ist der Dichter aus der Gemeinschaft ausgeschlossen. Das klingt brutal, ist aber nur logisch. Freie Geister wollen verändern, wollen infrage stellen, wollen verhindern, dass Unrecht festgeschrieben wird. Dem Staat sind diese Leute gefährlich, denn der Staat kennt nur ein Ziel: zu überdauern. Im Übrigen gibt die Geschichte Platon bis heute recht. In den Diktaturen gelten die Verfechter des freien Wortes als subversive, als staatszersetzende Elemente und in den Demokratien schützt sie nur das Alibi der sogenannten freien Meinung vor Strafverfolgung.
214 — Staat bedeutet immer auch Überwachungsstaat. Fast wünscht man sich in eine Diktatur hinein, um unter Menschen zumindest so etwas wie Solidarität im Widerstand anzutreffen. Im Weichteil Demokratie ist der Bürger nichts als ein willfähriger Dulder legalisierter Schweinereien, die viel subtiler in Szene gesetzt werden, als man es glauben mag.
219 — Es ist vielleicht die letzte Prüfung, der wir uns zu stellen haben: aufrecht zu gehen. Ich verstehe die Niedergeschlagenheit, aus der heraus wir mit verängstigten Augen und mit dem Mute der Verzweiflung unsere Geschichten erzählen. Aber wir sollen lernen, uns zu erheben. Nur so atmen wir uns frei.
232 — Sobald ich unter Menschen gehe und ihre Satzfetzen ins Schlepptau nehme, wird mir klar, dass kein Medium einer ähnlichen Belastung standhalten muss wie die Sprache. Die Sprache ist längst zur geistigen Giftmülldeponie verkommen, in ihr lagert das kulturelle Elend unserer Zeit. Eine Liste mit den hundert gebräuchlichsten Worten würde den Zerfall der Welt besser dokumentieren als jede noch so intelligente Doktorarbeit zum Thema.
254 — Wir waren zu dritt im Abteil, die Frau, der Mann und ich. Die Frau sah mich unentwegt an, ihre Lippen bewegten sich wie zum Gebet. Der Mann öffnete seinen Aktenkoffer auf den Knien und wühlte mit tief hängendem Kopf in seinen Unterlagen. Hinter ihm prangte der dezente Anschlag eines Beerdigungsinstituts. Der Mann hob den Kopf, seine Augen, die mich durch dicke Brillengläser fixierten, bohrten ihren toten Gruß in mich hinein. Ich fand kein Gegengift.
Das Neonlicht umspülte mich wie ätzende Säure; bald war die Verbindung zwischen Gehirn und Gliedern unterbrochen. Meine zur Schau gestellte aufrechte Haltung war das Ergebnis einer ungeheuren Anstrengung. Im Gesicht meines Gegenübers wuchs ein grob gemeißeltes, schräges Grinsen heran. Ich hatte meine Identität verloren, ich kannte weder meinen Namen, noch wusste ich, wohin wir fuhren oder wo ich wohnte. Ich lehnte die Schläfe an die Fensterscheibe, ihr kühler Stempel gab mir Halt. Nicht denken! Hör auf zu denken ...!
Mit geschlossenen Augen lauschte ich dem Fahrgeräusch, in meinem Kopf wirbelten die Bilder einer Stadt auf. Kinder hockten apathisch zwischen gigantischen Scherbenhaufen. Zerrissene Pappkartons wirbelten durch die Straßen. Menschen mit Handwagen zogen stumm aneinander vorbei, sie beachteten die Leichen nicht, die auf den blutverschmierten Gehwegen lagen. Plötzlich liefen die Bewohner auseinander, sie versteckten sich in Hauseingängen, hinter Trümmern oder in der Kanalisation. Kurz darauf schlenderten zwei blonde Männer in schwarzen Uniformen die Straße herunter, sie scherzten miteinander wie auf einem Sonntagsspaziergang.
Vor der unbekleideten Leiche eines jungen Mädchens blieben sie stehen. Während der eine mit der Stiefelspitze gegen ihre Brust stieß, zog der andere seine Pistole und feuerte auf das letzte intakte Fenster in dieser Stadt. Gelangweilt setzten sie ihren Weg fort. Hinter ihnen hoben sich die Gullydeckel ...
Ich riss die Augen auf. DAS IST DIE LÖSUNG! stand auf einem Plakat.
Mein Name ist Dirk Fleck, ich bin ein Kind der Hölle. Hier trägt man den Filter des Vergessens im Gesicht, das ist Pflicht.
Der Mann mit dem Aktenkoffer war verschwunden, die Frau auch. Stattdessen saßen mir nun zwei ältere Herren gegenüber. Sie lasen die gleiche Zeitung. „Kunze ist frei“, sagte der eine und setzte die Sonnenbrille auf.
257 — Wenn es etwas gibt, wofür wir dem Leben dankbar sein müssen, so ist es dessen Ignoranz gegenüber dem penetranten Bemühen, unsere Identität im Leid zu finden. Das Leben erteilt nun mal keine Ruhekissen und so erwächst dem an der Welt Verzweifelnden mitunter der Eindruck, dass Gott sein Feind ist. Man sollte den Beweis des Gegenteils nicht unbedingt im Rinnstein erwarten. Dort pissten allenfalls die Hunde auf einen.
Dirk C. Fleck: „La Triviata — Der Duft der Achtziger“, P.machinery, November 2018.