Der drohende Kindesentzug
Jugendämter spielen in der gegenwärtigen Situation eine sehr ambivalente Rolle.
Die Arbeit von Jugendämtern steht — spätestens seit Beginn der Impfpflicht bei Masern — in der öffentlichen Diskussion. Viele Eltern fürchten sich vor Eingriffen in ihre elterliche Selbstbestimmung bis hin zur Kindsentnahme durch das Jugendamt. Ob und inwieweit diese Ängste berechtigt sind, hängt laut der Jugendamtsmitarbeiterin Sabine sehr stark von der jeweiligen Behörde und vom einzelnen Mitarbeiter ab. Sie kann die Horrormeldungen aus der Praxis ihrer Behörde sowie zwei weiterer Ämter, deren Strukturen sie gut kennt, persönlich nicht bestätigen, will aber nicht ausschließen, dass es anderenorts zu Übergriffen kommt. Die Diplom-Sozialpädagogin ist selbst Mutter von zwei inzwischen erwachsenen Kindern. Die Angestellte im öffentlichen Dienst ist in einem fränkischen Jugendamt im Pflegekinder-Fachdienst tätig. Da sie sich aktuell in einer dienstrechtlichen Auseinandersetzung mit ihrem Arbeitgeber befindet, fand das Interview anonym statt.
Andrea Drescher: Sie sind nicht mehr im Dienst?
Sabine: Ich bin seit September 2020 krankgeschrieben. Es war mir nicht mehr möglich, meiner Arbeit nachzugehen.
Warum?
Ich war äußerst kritisch, was die Maßnahmen gegenüber Kindern betrifft, lehnte zum Beispiel die Maskenpflicht für Kinder in der Schule oder wo auch immer ab.
Und das war alles?
Für Pflegekinder sind wir als Jugendamt zuständig, und da gab es unfassbare Situationen. Ich hatte ein weinendes Kind vor mir sitzen, das völlig verzweifelt war, weil die Lehrerin ihm gesagt hatte, „Wenn du die Maske nicht richtig trägst, tötest du Menschen.“ Ich war der Auffassung, dass wir uns als Jugendamt auf die Hinterbeine stellen müssen, damit dieser Wahnsinn aufhört. Gerade wir als Jugendamt dürfen Kindeswohlgefährdung in dieser Form nicht hinnehmen. Die Maßnahmen in Kindergarten und Schule gefährden Kinder. Derartige Aussagen gefährden Kinder. Aber ich stand mit dieser Haltung in meiner Behörde sehr alleine da. Und das war leider nicht alles, die Vorwürfe gegen mich wurden richtig hässlich.
Was hat man Ihnen denn vorgeworfen?
Angeblich habe ich Pflegefamilien gefährdet, weil Kinder bei mir keine Maske tragen mussten und ich den Abstand zu den Kindern nicht eingehalten habe. Da ich als systemkritisch galt, hätte es passieren können, dass während eines Termins mit Pflegeeltern ein Vorgesetzter ins Zimmer kommt und sieht, dass wir keinen Abstand et cetera einhalten. Rein theoretisch hätte man den Pflegeeltern und mir vorwerfen können, dass wir gegen das Infektionsschutzgesetz verstoßen und die Pflegeeltern Probleme mit dem Jugendamt bekommen. Ob aufgrund des Verhaltens dann ein Kindeswohlgefährdungsverfahren daraus geworden wäre, weiß ich nicht. Man ging mich persönlich an, ich wurde auf einmal als Nazi, rechts und alles Mögliche beschimpft. Ich hielt das einfach nicht mehr aus. Einerseits die persönlichen Angriffe, andererseits ständig sehen zu müssen, wie schlecht es den Kindern geht.
Und warum hat man Sie krankgeschrieben?
Es nennt sich Anpassungsstörung. Jetzt nach einem Jahr läuft es auf eine Kündigung hinaus, aber in dieser Behörde, der das Wohl der Kinder kein Anliegen ist, will und kann ich nicht arbeiten. Aktuell laufen Gespräche, bei denen es auch um meine Maskenbefreiung geht. Allein deshalb bin ich den Verantwortlichen ein Dorn im Auge. Eine Abmahnung habe ich dank eines Kollegen bereits erhalten.
Wie kam es denn dazu?
Ich lief ohne Maske auf dem Gang, er kam mir entgegen und sprang wie panisch zur Seite, tat so, als ob ich der wandelnde Tod sei, der ihn bedrohe. Ich fand das erschreckend, er wohl auch. So sehr, dass er sofort zu meinem Vorgesetzten ging und sich über mich beschwerte. Ohne mich zu befragen, bekam ich eine Abmahnung dafür, dass ich den Betriebsfrieden störe und mich nicht korrekt verhalte. Mal sehen, wie das jetzt weitergeht. Es tut mir aber wirklich leid, Kindern nicht mehr helfen zu können.
Man hört immer wieder, dass Jugendämter den Eltern ihre Kinder wegnehmen. Was ist da dran?
Früher war das eine meiner Hauptaufgaben. Im Pflegekinder-Dienst passiert es auch, aber seltener. Pflegeeltern werden von uns vorher auf Herz und Nieren überprüft und bekommen erst dann ein Pflegekind, wenn alles passt. Es gibt natürlich auch Gefährdungsfälle und Meldungen in Pflegefamilien, aber viel seltener als beim ASD; im „Amt für soziale Dienste“, in dem ich vorher gearbeitet habe, sind solche Meldungen an der Tagesordnung. Dort kommt es dann zu Inobhutnahmen. Als zertifizierte Acht-A-Schutzfachkraft gehörte das zu meiner Verantwortung. Aber ich habe das immer erst nach sehr sorgfältiger Abwägung aller Faktoren entschieden, also immer nur dann, wenn es wirklich um Kindeswohlgefährdung ging.
Wo liegen aus Ihrer Erfahrung die Hauptgründe dafür, dass eine Inobhutnahme notwendig wird?
In der Regel herrschen bei den Familien sehr prekäre Verhältnisse, das geht bis zur Verwahrlosung und körperlicher Gewalt. Sexuelle Gewalt kommt auch vor, war aber eher selten. Hauptgründe sind Verwahrlosung und die Erziehungsunfähigkeit der Eltern, die damit einhergeht.
Man hört ja immer wieder Horrorgeschichten, dass Jugendämter unberechtigt in Familien eingreifen, auch von verschwundenen Kindern ist die Rede. Steckt aus Ihrer Sicht etwas dahinter?
Ich habe von solchen Fällen gehört, kann sie aus meiner langjährigen Erfahrung aus drei Jugendämtern nicht bestätigen. Ich sage aber nicht, dass es das nicht gibt. Bei uns laufen Gefährdungsverfahren nach klaren Regelungen: Die Meldung geht zunächst bei mir oder einem meiner Kollegen ein, ohne dass unsere Vorgesetzten zunächst davon erfahren. Ich muss dokumentieren, warum ich ein Kind aus der Familie nehme oder nicht beziehungsweise warum ich einen entsprechenden Antrag bei Gericht stelle oder nicht. Das überprüft dann der Vorgesetzte und unterschreibt erst dann, wenn ich alle Vorgaben erfüllt habe. Damit wird sichergestellt, dass ich vor Gericht keine Probleme bekomme. Dann wird entschieden, ob ein Kind in Obhut genommen und in eine Inobhutnahme-Stelle gegeben wird. Dort bleiben die Kinder, bis geklärt ist, ob sie zurück nach Hause, in eine Pflegefamilie oder eine Wohngruppe kommen.
Also gibt es aus Ihrer Erfahrung keine unberechtigten Entnahmen?
Nein. Es kommt sehr wohl vor, dass Kinder auch zu Unrecht in Obhut genommen werden. Ein Rechtsprofessor, bei dem ich meine „Acht-A-Schutzfachkraft“-Ausbildung gemacht habe, hat mal sehr bezeichnend gesagt, Kinderschutz ist mittlerweile Mitarbeiterschutz geworden.
Wieso denn das?
2005 gab es eine enorme Verschärfung, was die Kindeswohlgefährdung angeht, nachdem einige Fälle sehr prominent durch die Medien gingen. Das Vorgehen zur Prüfung von Kindeswohlgefährdung wurde vereinheitlicht, die Verantwortung komplett auf die Jugendämter übertragen. Schuld war ja laut Medien immer das Jugendamt, weil das hätte man vor Ort doch sehen müssen … Diese Verantwortung wurde mit der Gesetzesänderung institutionalisiert. Wer nicht durch Dokumentation nachweisen kann, dass die Entscheidung, Kinder nicht aus der Familie zu nehmen, absolut nachvollziehbar ist, bekommt Probleme. Das hat den Mitarbeitern in den Ämtern natürlich Angst gemacht. Man kann ja nicht in den Kopf eines Menschen schauen. Also nehmen sie in unklaren Situationen Kinder schneller in Obhut, weil sie Angst vor Fehlentscheidungen haben.
Das passiert natürlich eher den jungen, unerfahrenen Mitarbeitern, dass sie Gefahr in Verzug sehen, wo keine ist. Am nächsten Arbeitstag wird dann bei Gericht entschieden, wenn die Inobhutnahme nicht gerechtfertigt ist, und die Kinder kommen nach Hause. Aber dann ist das Drama schon passiert, für Kinder ist das eine schreckliche Erfahrung. Aber das sind Fehleinschätzungen, keine Boshaftigkeit oder System, auch wenn da ganz irre Sachen im Netz kursieren. So etwas gab es bei uns nicht. Auch seitens der Gerichte kann es Fehleinschätzungen geben, manchmal wird gegen unsere Empfehlung nach Gutachten entschieden, obwohl wir die Familien oft schon viele Jahre kennen und es besser wissen. Damit sind die Jugendämter und wir Mitarbeiter aber aus der Verantwortung.
Warum hört man dann immer wieder von solchen Horrorgeschichten?
Noch mal: Ich spreche nur für die Ämter, an denen ich tätig war, und aus meiner Erfahrung. Was ich immer wieder sehe, ist Folgendes: Eltern, denen die Kinder weggenommen werden, fühlen sich immer zu 100 Prozent zu Unrecht behandelt. Selbst Eltern, die ihre Kinder verprügeln, die sie grün und blau schlagen, lieben ihre Kinder auf ihre Art. Sie wissen nur nicht, wie sie sich verhalten sollen. Sie sagen „Ich liebe doch mein Kind, was mischt sich da dieser blöde Staat ein!“ und wollen ihre Kinder wieder zurück. Manche Eltern, die ihre Kinder nicht ausreichend ernähren, glauben, sie machen alles richtig. Selbst wenn ein Arzt sagt: „Ihr Kind ist massiv untergewichtig“, kommt als Reaktion: „Ja, ich war auch schlank als Kind“.
Diesen Menschen fehlt jegliche Problemeinsicht, und dann erzählen sie ihre Sicht, ihre Geschichte. Wer will denn schon vor Familie und Freunden als unfähige Mutter oder Vater dastehen? Sie schützen sich selbst, indem sie erzählen „Eigentlich bin ich eine ganz tolle Mama, ein ganz toller Papa, und das böse Jugendamt hat mir jetzt die Kinder weggenommen, weil ich die angeblich nicht versorge, aber ich bin die beste Mutter oder der beste Vater auf der Welt“. Sie glauben das selbst, auch wenn sie ihre Kinder körperlich oder emotional vernachlässigt haben.
Kann es nicht auch in Pflegefamilien zur emotionalen Vernachlässigung kommen?
Natürlich. Bei aller Sorgfalt, ausschließen kann man nichts.
Wie läuft denn das Verfahren? Wie wird man Pflegefamilie?
Die Bewerber werden genau überprüft und müssen erweiterte Führungszeugnisse einreichen. Die Überprüfungen bei uns finden immer mit zwei Kollegen statt. Einer stellt die Fragen, der andere beobachtet, wobei diese Rollen wechseln. Es gibt Einzelgespräche, also mit nur einem Bewerber, dann Gespräche mit beiden Pflegeeltern. Die müssen sich wirklich „nackig“ bei uns machen. Alles wird abgefragt, aber inwieweit die Antworten ehrlich sind, weiß natürlich keiner. Bei uns gab es sechs bis zehn Termine mit den Paaren zur Überprüfung, und viele wurden abgelehnt. Aber es kann trotzdem immer etwas schiefgehen. Wir betreuen die Familien natürlich weiter, jedoch wir erhalten nur die Einblicke, die uns die Familien gewähren.
Wie schätzen Sie die Gefahr ein, dass Kinder wegen Nichteinhaltung von Verordnungen vom Jugendamt in Obhut genommen werden? Was ist, wenn die Testpflicht in Schulen abgelehnt wird und die Kinder daheimbleiben? Was ist mit Eltern, die die Masernimpfung ablehnen, können Jugendämter dann eingreifen? Davor haben ja viele Menschen Angst.
Die Angst ist nicht unberechtigt. Aber man kann keine generelle Aussage machen. Es kommt nicht nur auf das Jugendamt, sondern auf den einzelnen Mitarbeiter an. Ist es Kindeswohlgefährdung oder nicht, wenn Kinder maskenlos und ohne Test leben sollen? Nur wenn der jeweilige Sozialarbeiter entscheidet, dass es sich um eine Gefahr handeln könnte, wird der Prozess, den ich vorhin geschildert habe, in Gang gesetzt. Bei der Testpflicht weiß bei uns in der Region noch keiner wirklich, wie man damit umgehen soll. Man ist sehr vorsichtig, wird wohl erst mal mit der Einleitung von Bußgeldverfahren anfangen, weil es sich ja um eine Schulpflichtverletzung handelt. Dann hängt es natürlich auch davon ab, ob eine Familie schon mal auffällig war, es also schon eine Akte beim Jugendamt gibt. Theoretisch ist alles möglich. Ich bin froh, dass ich keine jüngeren Kinder habe, die Schulpflicht macht das alles sehr schwierig. Aber meines Wissens ist es für die Ämter immer noch neu, es gibt derzeit keine konkreten Ideen oder gar klare Anweisungen.
Was kann bei der Impfung auf die Eltern zukommen?
Wenn keine Impfunfähigkeitsbescheinigung eines niedergelassenen Arztes vorliegt, ist es im schlimmsten Fall theoretisch möglich, dass das Jugendamt für den Bereich Gesundheitsfürsorge beim Gericht einen Antrag auf Teilsorgerechtsentzug stellt und die Impfung veranlasst.
Was würden Sie Eltern raten, die jetzt mit der Masern-Impfpflicht konfrontiert sind, aber nicht impfen lassen wollen? Was können diese tun, um den Teilsorgerechtsentzug zu verhindern?
Wenn sich das Jugendamt bei Eltern meldet, empfehle ich, vernünftig mit den Mitarbeitern zu reden und alles zu vermeiden, was für Behördenmitarbeiter als „Schwurbelei“ gelten kann. Man kann Kooperationsbereitschaft demonstrieren und zum Beispiel mit persönlichen Impfschäden in der Familie argumentieren. Man kann hervorheben, nicht grundsätzlich gegen Impfungen zu sein, überhaupt nicht — und dann versuchen, auf der emotionalen Ebene mit den Kollegen zu reden: „Ich habe da einfach Angst bei dieser Mehrfach-Impfung“ oder „Mein Kind hat schon ganz heftig auf die erste Impfung reagiert, das müssen Sie verstehen, ich will mein Kind doch nur schützen, und ich habe weniger Angst vor Masern als vor der Impfung und ihren Folgen“.
Wichtig ist, eine positive Beziehung zu schaffen und nicht aggressiv zu werden. „Ich habe Angst, mir geht es da nicht gut mit“ ist viel besser als “Das sehe ich überhaupt nicht ein! Ist meine Recht!“. Das erzeugt nur sofortigen Widerstand beim Gegenüber. Und als Interne kann ich sagen, Eltern, die renitent sind, die ihre Meinung vertreten, die sich so in dieser Form für ihre Kinder einsetzen, werden ganz argwöhnisch von den Mitarbeitern beäugt. Da verlieren die Mitarbeiter leider ihre Professionalität und stecken die Familie in eine Schublade. Daher kooperativ sein und Verständnis für die Situation schaffen. Man darf sich alles denken, sollte es aber in der Situation nicht sagen.
Gibt es weitere Tipps?
Also Kindergarten und Schule sollten Positives über die Familie zu berichten wissen. Das Jugendamt wendet sich zuerst an diese Institutionen und bittet um eine pädagogische Einschätzung der Kooperationsfähigkeit der Eltern. Wenn Kindergarten oder Schule gut über die Familie berichten, ist das schon sehr hilfreich. Bei einem Hausbesuch ist es beispielsweise gut, wenn die Wohnung ordentlich aussieht — auch wenn da jeder leider eine andere Vorstellung hat. Das ganze Äußere sollte gut wirken.
Auf keinen Fall darf man Diskussionen mit dem Partner vor dem Jugendamt ausfechten. Einen Streit, eine Eheproblematik oder gar Streitereien über die Impfentscheidung vor den Mitarbeitern muss man unbedingt vermeiden. Mit Kooperationsbereitschaft, Freundlichkeit und offen gezeigter persönlicher Sorge kann man hoffentlich viele meiner Kollegen erreichen. Denn den allermeisten, die ich kenne, geht es definitiv um den Schutz der Kinder. Da bin ich mir sicher.
Danke für die Hinweise. Hoffen wir, dass Sie recht haben. Und viel Glück bei Ihrem Kündigungsverfahren!