Der Dreh- und Angelpunkt
Deutschland ist mehr als eine Spielfigur auf dem Schachbrett der Weltgeschichte — es könnte den Krieg beenden, wenn die Entscheidungsträger dies nur wollten.
Die ungesunde US-amerikanische Dominanz. Die maßlosen Forderungen der Ukraine. Das Eingebundensein in die gemeinschaftliche Außenpolitik der EU. Die Skrupellosigkeit „des Agressors“ Putin ... Begründungen dafür, dass sich Deutschland auf der Weltbühne so und nicht anders verhält, gibt es viele. Aber sind das nicht eher Ausflüchte? Ist Deutschland wirklich so klein und schwach, dass es sich ausschließlich als einen vom Wind der Geschichte Getriebenen verstehen dürfte? Wo bleiben Vernunft, Rückgrat und Eigenständigkeit? Ein Kurzdurchgang durch die letzten Jahrzehnte zeigt: Deutsche Politiker haben viele Chancen auf einen dauerhaften Frieden verstreichen lassen und sich lieber in riskante Manöver im Umgang mit dem großen östlichen Nachbarn gestürzt. Der Nachkriegswahlspruch „Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg“ hat sich längst aufgelöst und ist umgeschrieben worden in: „Gern wieder Krieg und Solidarität mit Faschisten“. Der Autor zeigt, wie Friedenspolitik an vielen Orten der Welt auf dem Rückzug ist und welche verhängnisvolle Rolle Deutschland dabei spielt.
Wie Deutschland helfen könnte den Ukraine-Krieg zu beenden
„… nothing … should happen today in politics which would be contrary to the actually existing solidarity of mankind“ (Hannah Arendt).
Könnte das Eingeständnis historischer politischer Fehler helfen, den Krieg zu beenden und ein Zeichen setzen, um eine zukünftige Friedensordnung zu begründen. Das Beispiel der Haager Friedenskonferenzen, zu denen der russische Zar Nikolaus eingeladen hatte, und an denen alle zivilisierten Nationen der Welt, unter anderem auch Japan und China teilnahmen, zeigt, wie der deutsche Militarismus den Gang der Geschichte entscheidend prägte. Hauptanliegen war nicht das humanitäre Kriegsrecht (ius in bello), sondern die Abschaffung des Krieges (ius ad bellum). Die Konferenzen wollten den Rechtsweg zur Pflicht machen und den Waffengang verbieten.
Zweimal, 1899 und 1907, wurde über die für die friedliche Beilegung internationaler Streitigkeiten notwendige obligatorische Schiedsgerichtsbarkeit abgestimmt. Es galt das Prinzip der Einstimmigkeit. Die USA, Frankreich, Großbritannien, Russland und China stimmten für das Obligatorium. Nur eine kleine Minderheit, angeführt von Deutschland, legte ein Veto ein. Der deutsche Kaiser kommentierte die Konferenzen:
„Ich sch... auf die ganzen Beschlüsse und vertraue nur auf Gott und mein scharfes Schwert.“ Es folgte der Erste Weltkrieg. Hermann Hesse schrieb 1917 im Schweizer Exil: „Gegen einen Frieden, der ... nicht ewig währen konnte, war man überall sehr eingenommen — wenn der ewige Friede nicht zu haben war, so zog man mit Entschiedenheit den ewigen Krieg vor.“ Eine Entschuldigung für das Haager Fiasko ist überfällig; sie könnte einer deutschen Friedensinitiative Gewicht verleihen.
Der deutsche Verfassungsgeber, in Erinnerung an die in Den Haag angestrebten Friedensziele, machte die Unterwerfung unter die Schiedsgerichtsbarkeit in Art. 24 obligatorisch. Dass die Bundesrepublik sich 1949 nicht umgehend der Rechtsprechung des Internationalen Gerichtshofes (IGH) unterwarf, war ein schwerer Fehler. Die Schweiz hatte sich bereits ein Jahr zuvor der Rechtsprechung des IGH unterworfen — ein Wink mit dem Zaunpfahl?
Vielleicht wollte die Bundesregierung beweisen, dass der Pazifismus keine Kriege verhindern kann. Aktuell übt Deutschland auch auf Japan Druck aus, sich militärisch mehr zu engagieren. Der Inselstaat ist dabei, seinen Pazifismus der Nachkriegszeit aufzugeben, eine zentrale Rolle bei der militärischen Verteidigung im indo-pazifischen Raum zu übernehmen und mit der NATO zusammenzuarbeiten. Militärausgaben in Höhe von $320 Milliarden sind geplant. Damit erhielte Japan den drittgrößten Verteidigungshaushalt der Welt, nach den USA und China.
Die Abschaffung des Krieges erscheint zunehmend als eine Unmöglichkeit.
Südkorea erwägt inzwischen, sich nuklear zu bewaffnen. Damit könnte es Nordkorea zwingen, sein Atomwaffenprogramm zu überdenken und zugleich China dazu veranlassen, Druck auf Nordkorea auszuüben, damit es sein Programm zurückfährt. Dieses Ansinnen könnte Chinas Unterstützung bekommen, da die Volksrepublik ein nukleares Wettrüsten in Ostasien auf jeden Fall verhindern will. Alternativ könnten die USA dem Süden wieder Atomwaffen zur Verfügung stellen und mit Seoul ein Abkommen über deren gemeinsame Nutzung schließen, ähnlich dem, das NATO-Flugzeugen erlaubt, im Kriegsfall Atomwaffen zu tragen.
NATO-Erweiterung auf deutsche Initiative
Deutschland hat sich von seiner angeblich pazifistischen Vergangenheit verabschiedet, eine „Zeitenwende“ ausgerufen und seinen Militärhaushalt erhöht. Wenig bekannt ist, dass es der deutsche Verteidigungsminister Volker Rühe war, der auf dem Treffen der NATO-Verteidigungsminister im Oktober 1993 in Travemünde forderte, dass Polen, die Tschechische Republik und Ungarn der NATO beitreten sollten, was die Amerikaner jedoch brüsk zurückwiesen. Erst sechs Jahre später gelang es, die Amerikaner zu bewegen, diese drei Länder in die NATO aufzunehmen. Wie um das deutsche militärische Engagement für die NATO zu unterstreichen, entschied das Bundesverfassungsgericht am 12. Juli 1994, die kollektive Sicherheit, wie sie ursprünglich in der VN-Charta und im Bonner Grundgesetz vorgesehen ist, zu streichen und stattdessen der militärischen Verteidigung gegen mutmaßliche Feinde den Weg zu ebnen.
Die deutschen Versäumnisse, dem Frieden der Welt zu dienen, wie es das Grundgesetz vorsieht, sind zahlreich.
Die erst 2008 erfolgte, mit vielen Vorbehalten bestückte Unterwerfung unter die Rechtsprechung des IGH ist kein Beleg für eine pazifistische Gesinnung und hat das Versäumte nicht nachgeholt. Mit der deutschen Wiedervereinigung wurde zudem die vielleicht letzte Chance verspielt, das Friedensgebot im Grundgesetz umzusetzen. Schon die berühmten Stalin-Noten, zum ersten Mal am 10. März 1952 der Bundesregierung und den drei Westmächten Frankreich, Großbritannien, USA vorgeschlagen, waren nicht als Chance wahrgenommen worden, das Friedensziel der Verfassung Realität werden zu lassen. Es nützte nichts, man wollte kein vereintes Deutschland und keins, das, wie später Österreich, neutral bleiben sollte.
Obwohl die drei Westmächte zu Verhandlungen bereit zu sein schienen, entschied Adenauer dagegen, offenbar ohne sein Kabinett zu konsultieren. Der Vorschlag wurde am 9. April 1952, ein drittes Mal am 24. Mai und zuletzt am 23. August wiederholt. Ist damals wirklich niemand auf die Idee gekommen, dass die Stalin-Noten dem Gesetzgeber auch die Möglichkeit eröffneten, der verfassungsmäßigen Verpflichtung nachzukommen, den Übergang zu echter kollektiver Sicherheit und Abrüstung einzuleiten?
Artikel 24 der Charta der Vereinten Nationen bestimmt, dass die Mitglieder dem Sicherheitsrat „die Hauptverantwortung für die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit“ übertragen, um dessen „schnelles und wirksames Handeln zu gewährleisten“, eine Bestimmung, die offensichtlich nicht umgesetzt wurde. In Übereinstimmung mit dieser Bestimmung hält der französische Kommentar zur Charta der Vereinten Nationen aus dem Jahre 1985 eine echte „Delegation von Befugnissen der Mitgliedstaaten an den Sicherheitsrat“ (SR) für notwendig. Der in diesem Zusammenhang relevante, von französischen Sozialisten geschriebene Verfassungsartikel von 1946 bestimmt zudem: „Frankreich versteht sich unter dem Vorbehalt der Gegenseitigkeit zu den für die Organisation und die Verteidigung des Friedens notwendigen Einschränkungen seiner Souveränität.” Die Bedingung der Gegenseitigkeit bezieht sich wohl hauptsächlich auf Deutschland.
Aufregend ist, wenn man sich überlegt, welche friedenspolitischen Ziele in ein solches Übertragungsgesetz hineingeschrieben werden könnten. Welchen Beitrag können und müssen „Wir, die Völker der Vereinten Nationen“, Bürger- und Graswurzelbewegung leisten, um den Prozess zu fördern und demokratisch zu begleiten? Ein faszinierender Gedanke.
Der 1990 veröffentlichte deutsche Kommentar der Charta der Vereinten Nationen widerspricht, zu einem Zeitpunkt, da eine deutsche Friedensinitiative hätte Erfolg haben können, offenbar vorsätzlich der französischen Auslegung. Der Kommentar des — dem deutschen Art. 24 GG entsprechenden — Art. 24 der Charta, bestreitet die französische Auslegung, „dass die Kompetenz des SR im Bereich der Friedenswahrung auf einer Delegation seitens der Mitglieder beruhe. Jeder Mitgliedstaat habe mit der in Artikel 24 Absatz 1 genannten Kompetenzübertragung ein Stück seiner Souveränität auf den SR zu übertragen.“ Eine „genaue Analyse der Vorschrift“ stütze „eine solche Deutung“ nicht. Es sei daher nicht nötig, ein entsprechendes Gesetz gemäß Art. 24, Abs. 1 GG zu verabschieden.
Das ist natürlich absurd, denn dann würde das Sicherheitssystem der Vereinten Nationen funktionieren und die Staaten hätten bereits auf das in Art. 26 der Charta bestimmte „Minimum“ abgerüstet. Der Völkerrechtler Knut Ipsen bestätigte am 13. April 1999 in einem persönlichen Brief an den Autor indirekt die französische Auslegung:
„Ich bin nicht der Auffassung, dass die Staaten dem Sicherheitsrat bereits die Hauptverantwortung für die Wahrung des Friedens im Sinne einer Hoheitsübertragung überantwortet haben. Etwas Derartiges würde voraussetzen, dass die Staaten insofern eine bis dato bestehende Kompetenz regelrecht aus ihrem Kompetenzbereich herausgelöst und der UNO zugeschoben haben.“
Tatsächlich hatten die SPD, die F.D.P und Teile der CDU in den 80-ger und 90-ger Jahren eine gesetzgeberische Initiative ernsthaft in Erwägung gezogen. Nur die GRÜNEN meinten in einer Korrespondenz im Mai 1985:
„Die ... Übertragung von Souveränitätsrechten auf den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen als friedensstiftendes Element ist bei den GRÜNEN alles andere als Konsens ... [Die] Initiative greift — in der Sprache der ‘Realpolitik’ gesprochen! – der Zeit zu weit voraus.“
Destabilisierung als gefährliche Folge
Die deutsche Ablehnung der gemeinsamen beziehungsweise kollektiven Sicherheit hat Folgen. Zum einen ist das Grundgesetz verletzt und die verfassungsmäßige, auf Frieden ausgerichtete Ordnung der Bundesrepublik massiv in Frage gestellt. Ein Blick über den Tellerrand macht deutlich: Sowohl China und Russland als auch die Ukraine würden ein System der gemeinsamen Sicherheit im Rahmen der Vereinten Nationen bevorzugen.
Im März 2022 hieß es auf der offiziellen Website des ukrainischen Präsidenten unter der Überschrift „Die Ukraine muss ein kollektives Sicherheitsabkommen mit allen ihren Nachbarn unter Beteiligung der führenden Mächte der Welt haben.“ Wolodymyr Selenskyj wörtlich: „Dies wären Garantien nicht nur für die Ukraine ... auch für Russland.“
Selenskyj schien damit Putin zu folgen, der dem Westen häufig vorgeworfen hatte, nicht bereit zu sein, „ein modernes, blockfreies kollektives Sicherheitssystem“ mit Russland schaffen zu wollen.
Die Europäer, allen voran die deutsche Bundesrepublik, sollten sich überlegen, welche Maßnahmen nötig sind, um zu verhindern, dass sich die Beziehungen zwischen China und den USA 2023 verschlechtern, wie einige Analysten vorausgesagt haben. Um zu verhindern, dass der Krieg in der Ukraine sich zu einem größeren, lang andauernden Konflikt entwickelt, der auch China involvieren könnte, sollte die Bundesregierung gesetzgeberische Maßnahmen in Erwägung ziehen, wie sie der französische Kommentar zur Charta nahe legt. In einem Vortrag im November 2022 in Peking warnte der südkoreanische Politikberater Moon Chung-in:
„Wir sehen jetzt in diesem Teil der Welt den Zusammenstoß zweier nicht vereinbarer Gegensätze, nämlich der Amerika-zentrischen kollektiven Verteidigung auf der Grundlage von Allianzen und Chinas Vision eines kollektiven Sicherheitssystems auf der Grundlage der Charta der Vereinten Nationen ... Die westliche Idee, die Welt in liberale und illiberale Staaten zu unterteilen, ist äußerst irreführend und sogar destabilisierend.“
Das wichtigste Merkmal einer zukünftigen, den Frieden sichernden, föderal organisierten Weltrechtsordnung ist ein funktionierendes kollektives Sicherheitssystem.
Leider sind die Europäer, insbesondere Deutschland, nicht bereit, sich darauf einzulassen, und das, obwohl Deutschland nach dem Grundgesetz einen Prozess des Übergangs zu gemeinsamer Sicherheit und Abrüstung einleiten sollte, dem die anderen EU-Länder, deren Verfassungen ähnliche Bestimmungen aufweisen, folgen könnten. Wer einen Dritten Weltkrieg verhindern möchte, sollte dem Beispiel Frankreichs und Japans folgen.
Die grundsätzliche Zustimmung zu Hoheitsbeschränkungen zugunsten eines gemeinsamen globalen Friedens- und Sicherheitssystems bestimmte durchweg das französische Selbstverständnis, wie das Beispiel des Streites um den Beitritt zur Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) Anfang der 1950-ger Jahre deutlich macht. 1954 lehnte die französische Nationalversammlung den Beitritt Frankreichs zur EVG ab. Auch die SPD hatte versucht, die Ratifizierung des EVG-Vertrages zu blockieren und strengte eine Verfassungsklage in Karlsruhe an. Auch später, zwischen 1966 und 2009, stand die französische Verfassungsbestimmung, da sie vor allem auf die Vereinten Nationen abzielte, einer vollständigen Integration in die NATO im Wege.
Offenbar, so scheint es, beruht die amitié franco-allemande auf einem Missverständnis. Präsident Emmanuel Macrons Kritik an der NATO, von der er sagte, sie sei inzwischen „hirntot“, ist dafür Zeugnis. Die Frage ist: Wer oder was hält die Bundesregierung davon ab, in die „für die Organisation und die Verteidigung des Friedens notwendigen Souveränitätsbeschränkungen“ einzuwilligen?