Der diffamierte Friedensfreund
Wer in diesen militanten Zeiten das Unmenschliche des Krieges anklagt, wird von den Massenmedien selbst entmenschlicht.
Die Welt ist komplex. Eine Binsenweisheit. Doch diese Binse genügt, um so manchem schieren Überdruss zu bereiten. Das Komplexe überfordert, und überhaupt bevorzugt der Mensch einfache Lösungen von Problemen, hat er doch auch gern Mitmenschen wie Umwelt unter seiner Kontrolle. Die Jahre des Corona-Wahnsinns bieten dafür idealtypischen Anschauungsunterricht. Wer sich intellektuelle Unabhängigkeit und die eigene Meinung bewahren wollte, sah sich der Ächtung und Ablehnung eifriger medialer und politischer Herdentiere ausgeliefert. Wer sich selbst grundlos verbiegt, der neidet den aufrechten Gang des anderen. Dies ist aber kein Problem der Orthopädie, sondern der intellektuellen und psychischen Gesundheit. Am politischen Handeln klebt indessen unverändert, was der Philosoph Hans Albert schon 1980 als „politische Theologie“ oder „sakramentale Politik“ bezeichnete. Politik präsentiert sich — die Massenmedien sorgen für die Gottesdienstordnung — im sakralen Agieren. Rituale werden aufgeführt, und die politischen und medialen Akteure gleichen Priestern, die sich als Vermittler von vermeintlich menschlicher Sphäre und einer „höheren Ordnung“ begreifen. Die Politik, die Medien und letztlich die Gesellschaft scheinen in den Dauerzustand kollektiven Pubertierens eingetreten. Vom Thema Krieg über das Klima-Thema bis hin zum Gender-Thema unerträgliche Gefühligkeit. Abstruser Gefühlsüberschwang der Weltergriffenheit. Ein kollektiver Rauschzustand. Weltrettung als Ziel. Schließlich sind Ideen über eine Welt zu vermitteln, wie sie künftig sein soll. Eingestreut werden die Verweise, man sei auf dem Wege zur besten aller möglichen Welten.
Ein paar Hindernisse sind mit lohnenswerter Anstrengung noch aus dem links-grünen Heils-Wege zu räumen. Gründlich aufgeräumt gehört ohnehin mit Rassisten, Querdenkern, Klassikern, Philosophen, Literaten, Künstlern, Antisemiten, Friedensfreunden, Anti- und inzwischen auch Feministen, Heterosexuellen, Landwirten wie Gastwirten, Leugnern aller Spielarten, Alt-Liberalen, neuerdings auch Christdemokraten, Homo- und Transphoben, Faschisten, Nazis, Umstrittenen, eint sie doch allesamt das „Rechte“ und das Rechtsextreme.
Abzuräumen sind auch ein paar schädliche und schändliche Dinge und Sachen, die einmal von technischem Fortschritt und Vernunftbegabung zeugten. Weg müssen daher Atomkraftwerke, Tagebaue und Gasleitungen, weg muss zudem eine ernährende Landwirtschaft, weg muss vor allem eine unzerstörte Natur, müssen Naturreservate, die Tieren und Menschen Lebensraum gewähren, beseitigt gehört die individuelle Mobilität, gehört auch das Bargeld, das sich der Kontrolle entzieht.
Die „höhere Ordnung“ verspricht die ersehnte Erlösung. Die Strategie permanenter Verkündigung der immer gleichen Botschaften, bei durchaus wechselnden Inhalten und politischer Farbgebung, hat sich über die Jahrtausende politischen Agierens bewährt. Anscheinend bedarf es auch gegenwärtig kaum politischer Überzeugungsarbeit — immer federführend dabei die Massen- und „Qualitäts“medien —, um selbst gewalttätige und kriegerische Auseinandersetzungen vor dem Hintergrund des Glaubens an eben diese „höhere Ordnung“ zu rechtfertigen.
Der Mensch — „ein mit Vernunft begabtes Wesen“
Wie also steht es um die Vernunft? Denn hieß es nicht seit Kindertagen? — ob es noch so heißt ist unsicher: „Der Mensch ist ein mit Vernunft begabtes Lebewesen.“ Auch den Mathematiker und Philosophen Bertrand Russell (1872 bis 1970) befielen darüber zeitlebens Zweifel, so schrieb er 1950 in seinen Unpopular Essays:
„Ich habe in meinem langen Leben sorgfältig nach Beweisen dafür gesucht, hatte aber noch nicht das Glück, sie zu finden … Im Gegenteil, ich habe gesehen, wie die Welt kontinuierlich immer tiefer in den Wahnsinn stürzt. Ich habe große Nationen gesehen, die einst an der Spitze der Zivilisation standen, nun aber von Predigern bombastischen Unsinns in die Irre geleitet werden.“
Tagesaktuell ist mit Russell festzuhalten: Es ist zu sehen „wie Grausamkeit, Verfolgung und Aberglaube sprunghaft zunehmen“. In die Irre mit ihrem Geschwätz „bombastischen Unsinns“ leitet etwa die sogenannte liberale Politikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann hinsichtlich des Krieges in der Ukraine. Noch am 27. Januar 2022 betont sie nach Informationen von phoenix: „Wir haben verabredet, keine schweren Waffen in diesen Konflikt zu schicken, um diesen Konflikt nicht zu erhöhen.“ Ein vernünftiger Gedanke blitzt auf. Wie anders könnte die rationale Einsicht auch lauten, als festzuhalten, dass die optimale Lösung von Konflikten weder zu Siegern noch zu Besiegten führen sollte?
Blitzgescheite Gedanken sind indessen kaum nachhaltig. Wer in der Politik meint, Frieden stiften zu müssen, verfällt auf altbekannte Handlungsmuster und schickt aktuell schwere Kampftechnik ins Krisengebiet. So besinnt sich die freiheitliche Politikerin auf kriegslüsterne Rhetorik, glaubt offensichtlich, Diplomatie sei ohnehin ausgereizt und überschätzt. Am 20. Mai echauffiert sie sich dann im ZDF-Morgenmagazin: „Man wartet zu lange — das hätte alles schon geliefert werden können.“ Ein paar Wochen später — im September — betont sie im swr2, Tagesgespräch: „Solange die Ukraine um Waffen bittet, sollten wir liefern!“
Weigern sich die politischen Akteure offensichtlich Lehren — aller Beteuerungen zum Trotz — aus dem Ersten und Zweiten Weltkrieg zu ziehen, so unterlassen sie bis heute auch den Blick auf die Hintergründe und Folgen fortgesetzter Kriegsführung.
Gibt es nicht genügend Beispiele, damit Politiker endlich aus der Geschichte lernen? Vietnamkrieg, Koreakrieg, Golfkrieg I und II, Jugoslawienkrieg, der Bürgerkrieg in Ruanda dürften hinreichend schmerzlichsten Lehrstoff liefern.
Eine friedliche Welt bleibt mithin eine Illusion. In diesen Tagen wird sogar fraglich, ob es sich noch länger um eine gewünschte Illusion handelt. Denn wer Frieden wünscht, wie Sahra Wagenknecht etwa, dem kann es schon passieren, in den Augen seiner Kritiker zu einem „menschlich komplett verdorbenen Zellhaufen“ zu verkümmern. Auf Twitter — in einem mittlerweile unsichtbar gemachten Tweet — entblödete sich der sogenannte Comedian, Bastian Bielendorfer, nicht zu hetzen:
„Sahra Wagenknecht ist einfach nur die leere Hülle eines seelisch und menschlich komplett verdorbenen Zellhaufens. Man sollte sie nicht in Talkshows einladen, sondern therapieren. Widerlich.“
Widerlich, in der Tat! Sind die Praktiken der realexistierenden sozialistischen Staaten tatsächlich schon wieder vergessen?
Woher freilich sollte die Generation der Wohlstandskinder, die derzeitigen Klebstoffkinder, davon auch wissen? Geschichte bedeutet ihnen nichts.
Damals gehörte es jedenfalls zum guten Ton den Andersdenkenden, den Klassenfeind als psychisch krank zu brandmarken. Das „Therapieren“ wurde zur nachhaltigen Tradition der Arbeiter- und Bauern-Diktatur. Der Dissident, der Abweichler wurde zu einem psychisch Kranken und verschwand zur Zwangsbehandlung — „Therapie“ genannt — nicht nur in der ehemaligen Sowjetunion in der Psychiatrie.
Die Logik der Nicht-Logik oder: Die Alternativlosigkeit
Das Stiften von Frieden, mittels militärischer Auseinandersetzung, kennt im Ergebnis nur Chaos und Zerstörung. Der „Weltpolizist“ USA verdeutlicht das seit Jahrzehnten. Medien, Politiker und Intellektuelle haben dennoch keine Scheu, die Alternativlosigkeit solchen Handelns hervorzuheben. Die Propagandamaschinerie läuft auf Hochtouren, die Logik der Nicht-Logik. Werte werden beschworen, die längst entkernt und inhaltsleer sind. Menschenwürde und Menschenrechte werden aufs Trapez gehoben, von Demokratie, Chancengleichheit, Wohlstand und Freiheit wird gefaselt. Der ursprünglich emanzipatorische Gedanke ist längst vertrieben oder wenigstens vernebelt. Noch immer feiert so mancher darum den „Arabischen Frühling“ als Revolution gegen erstarrte und verkrustete Diktaturen.
Und abgesehen von den verursachten menschlichen „Kollateralschäden“ — wie menschenverachtend und zynisch darf medial-politische Sprache sein? — erweist sich die gewalttätige amerikanische Einmischung als Wegbereiter eines hochgefährlichen Fundamentalismus. Die allgegenwärtige Propaganda zielt auf die Köpfe der Vielen. Nicht zuletzt erweist sich, neben den Massenmedien, die Unterhaltungsindustrie als williges Werkzeug politischer Predigt. Allzu viele sind es noch immer, die bereit sind, ihr Leben für blanke Fiktionen einzusetzen. „Gott“, „Vaterland“, „Treue“, „Ehre“ heißen noch immer die Ideologeme. Doch keine Ideologie ist offenbar für eine beträchtliche Anzahl der menschlichen Spezies absurd genug, dass sie nicht bis zum sogenannten „bitteren Ende“ kämpfen. Für besten Anschauungsunterricht sorgte zuletzt die Corona-Diktatur. Wo aber liegt die Ursache der Lernstörung?
Lässt sich die gesamte politische Geschichte der Menschheit bis in die Gegenwart hinein trefflicher beschreiben denn als unendliche Kette wahnsinniger Taten? Ein Sprichwort benennt es luzide:
„Wenn die Fahne fliegt, ist der Verstand in der Trompete.“
Wie also ist es bestellt um Verstand und Vernunft? Auf die philosophischen Finessen der Unterscheidung von „Verstand“ und „Vernunft“ sei hier ausdrücklich verzichtet. Das trickreiche Gehirn des Menschen ist offensichtlich gleichsam sein Stolperstein.
Der unvergleichliche und unvergessliche Loriot verdeutlichte es uns: Das Bild an der Wand. Es hängt schief. Eine vermeintlich kleine Korrektur dann nur. Am Ende: das Zimmer ein Trümmerhaufen.
Komplexes ist zumeist nicht unser Ding. War das jedoch vor Urzeiten anders? Denn immerhin: Wir haben ja Vorfahren. Und die überdauerten schließlich. Die Gefährdungen durch wildes Getier, Unwetter, Naturkatastrophen waren durchaus andere Herausforderungen fürs Überleben. Die Entdeckung und Bewahrung des Feuers, die Handhabung von Faustkeil und Speer setzten andere Erfordernisse als die unserer heutigen Welt mit Flugzeugen, Automobilen, Währungen, Computern, Atomkraftwerken.
Doch Gehirnforscher, Anthropologen, Evolutionsbiologen stimmen weitgehend darin überein: Seit dreißig- oder vierzigtausend Jahren hat sich das menschliche Gehirn nicht wirklich nennenswert verändert. Ganz unbestreitbar lebte schließlich auch unser Vorfahre, der Steinzeitmensch, in einer komplexen Welt, denn alles (Natur-)Geschehen ist komplex. Er besaß allerdings den Vorteil, sich nur um die überlebenswichtigen Vorgänge kümmern zu müssen, sein Horizont wie seine Stammesgruppe blieben ihm überschaubar.
Hier hat wohl unser Hang zur vereinfachten Wahrnehmung seinen Ausgang. Es ist unser altes stammesgeschichtliches Erbe. Hierin liegt die Ursache für unsere Bevorzugung monokausaler Erklärungen. Auch der Mythos dürfte hier seinen Anfang nehmen: Auf A folgt B, auf B folgt C und so fort oder: Wenn A dann B, wenn B dann C. Arthur Koestler illustriert in seinem Werk „Der Mensch — Irrläufer der Evolution“:
„Ausgeliefert dem Paradoxon eines Bewußtseins, das aus pränataler Leere auftaucht und in postmortalem Dunkel wieder verschwindet, lief der menschliche Verstand Amok. Er erfand ganze Heere von Geistern der Verstorbenen, von Göttern, Engeln und Teufeln, bis die Atmosphäre mit unsichtbaren Wesen gesättigt war — bestenfalls launenhaften und unberechenbaren, meist aber böswilligen und rachsüchtigen Dämonen. Sie mußten verehrt, umschmeichelt und besänftigt werden — durch ausgeklügelte grausame Rituale, durch Menschenopfer, Heilige Kriege oder Ketzerverbrennungen.“
Doch dieser Wahnsinn ist kein Relikt einer irgendwie finsteren Vergangenheit. Staunen sollte es jedenfalls machen, wenn der Biologe Andreas Kilian herausstellt:
„Es gibt schätzungsweise dreihundertdreißig Religionen mit über einhunderttausend verschiedenen Glaubensgemeinschaften und sogenannten Sekten sowie (circa) fünfhunderttausend Götter.“
Die aktuelle deutsche Politik scheint die Hoffnung zu schüren, irgendwie und irgendwann werde schon alles gut werden. Ein paar Hindernisse sind’s nur eben noch, die es zu beseitigen gilt: Rassisten, Querdenker, Klassiker, Philosophen, Literaten, Künstler, Antisemiten, Friedensfreunde … und eben diese „menschlich komplett verdorbenen Zellhaufen“.
Vielleicht aber wäre es besser — vor allem auch in deutschen Parlamenten, Medienhäusern, Verlagen, Hochschulen wie Universitäten — statt sich dieser Hoffnung hinzugeben, von der Fehlbarkeit unserer Vernunft auszugehen.
Es käme mit den Worten Hans Alberts dann eben nicht darauf an, „irgendwelche Problemlösungen durch Rekurs auf sichere Gründe zu rechtfertigen, sondern sie kritisch zu durchleuchten und nach Verbesserungsmöglichkeiten zu suchen, denn auch unsere besten Lösungen (...) leiden vermutlich an mehr oder weniger großen Schwächen, die aufzudecken und zu beseitigen sich lohnt.“ Sonst bliebe wohl nur das Fazit: Der Mensch — Irrläufer der Evolution … Doch nach dessen Verschwinden, bleibt aber dann niemand mehr, der es zöge.