Der deutsche Michel
Während unsere europäischen Nachbarn auf den Straßen rebellieren, verharren die Deutschen auf ihrer behaglichen Couch.
Aufmüpfigkeit liegt dem Deutschen nicht sonderlich. Schon Lenin spöttelte über das äußerst dürftige Revolutionspotenzial der Deutschen, als er sagte, diese würden keinen Bahnhof einnehmen, ehe sie sich ein Bahnsteigticket besorgt hätten. Diese deutsche „Widerstands-Fatigue“ tritt während des Corona-Faschismus wieder unübersehbar zutage. Während in den umliegenden Ländern schon die Hütte brennt, macht der Deutsche es sich darin noch gemütlich. Obrigkeitshörigkeit wie auch der stark ausgeprägte Hang, tatenlos zu theoretisieren, sind die Zutaten, aus denen die deutsche Protest-Trägheit gemacht ist. Dennoch schimmert Hoffnung am Horizont.
In Italien, Österreich, Polen, Tschechien und den Niederlanden erheben sich gegenwärtig sehr viele Menschen gegen die Corona-Maßnahmen und haben damit bereits Regierungskrisen, Rücktritte und Öffnungen bewirkt. Im Gegensatz dazu ist es in Deutschland nach den beiden Berliner Groß-Demonstrationen des vergangenen Jahres und der beeindruckenden Bustour der vier unermüdlichen „Anti-Corona-Ritter“ Bodo Schiffmann, Samuel Eckert, Wolfgang Greulich und Ralf Ludwig doch ziemlich, um nicht zu sagen erschreckend, still geworden. Woran liegt das? Wie lässt sich diese Passivität, diese Indolenz der Deutschen im Vergleich zum entschlossenen Aufbegehren unserer europäischen Nachbarn erklären?
Die tatenarmen Deutschen
Der Versuch, diese Frage zu beantworten, führt unweigerlich zum Nationalcharakter der Deutschen, die unter anderem als schwerblütig gelten. Diese Schwerblütigkeit meint nun keineswegs die Unfähigkeit zu Euphorie, Enthusiasmus und zur Ausbildung von Ideen, wie die deutsche Romantik und der deutsche Idealismus eindrucksvoll zeigen. Vielmehr ist damit ein grüblerisch-träges Wesen gemeint, die Neigung, Dinge langatmig aus allen möglichen Perspektiven zu betrachten und sich in endlosen Debatten zu ergehen. Das Betrachten, Bedenken und Bereden der Dinge sind des Deutschen Sache, beherztes Handeln und Agieren weniger.
„Denn, ihr Deutschen, auch ihr seid / tatenarm und gedankenvoll“, heißt es in Friedrich Hölderlins Gedicht „An die Deutschen“, und Friedrich Nietzsche hielt in seiner Aphorismensammlung „Morgenröte“ fest: „Ein Deutscher ist großer Dinge fähig, aber es ist unwahrscheinlich, dass er sie tut.“
So wie alle Wesenszüge, die den sogenannten Volkscharakter konstituieren, hat auch diese mentale Eigenart historische Wurzeln. Auch wenn es aus heutiger Sicht exotisch klingt, genealogisch betrachtet sind die Deutschen nun einmal das Volk der Dichter und Denker, das einen ausgeprägten Hang zur Transzendenz, zum Metaphysischen aufweist. Daher war es auch zwei „Disziplinen“, die über unsere Welt, über die Vita activa hinausgehen, vorbehalten, zur Paradedisziplin beziehungsweise -kunst der Deutschen zu werden: die Philosophie und die Musik. Für Thomas Mann („Deutschland und die Deutschen“) ist diese „Unweltlichkeit“, dieses „abstrakte“ und „mystische“ Verhältnis des Deutschen zur Welt ein Teil der deutschen „Innerlichkeit“, die er als „vielleicht berühmteste Eigenschaft der Deutschen“ bezeichnete.
Der deutsche Gehorsamskult
Zu dieser gedankenversunkenen Schwerblütigkeit beziehungsweise „Diesseitsverweigerung“ gesellt sich eine weitere Spezialität der Deutschen, die einer Widerständigkeit entgegensteht: ihr leidenschaftlicher Wille zum Gehorsam.
„,Der Mensch muss Etwas haben, dem er unbedingt gehorchen kann‘ — das ist eine deutsche Empfindung, eine deutsche Folgerichtigkeit (…) Sich unterwerfen, folgen, öffentlich oder in der Verborgenheit, — das ist deutsche Tugend“ (1).
Wie Nietzsche hervorhebt, ist dieser deutsche Wille zum unbedingten Gehorsam dadurch gekennzeichnet, dass ausschließlich Personen und nicht Begriffen gehorcht wird. Schon Luther habe gesagt:
„... es müsse ein Wesen geben, dem der Mensch unbedingt vertrauen könne, — es war sein Gottesbeweis, er wollte (…), dass man nicht einem Begriff, sondern einer Person unbedingt gehorche (…) das ist eben der Kultus des Deutschen, je weniger ihm gerade vom Kultus in der Religion übrig geblieben ist. Griechen und Römer empfanden anders und würden über ein solches ,es muss ein Wesen geben‘ — gespottet haben: es gehörte zu ihrer südländischen Freiheit des Gefühls, sich des ,unbedingten Vertrauens‘ zu erwehren und im letzten Verschluss des Herzens eine kleine Skepsis gegen Alles und Jedes, sei es Gott oder Mensch oder Begriff, zurückzubehalten“ (2).
Folgt man diesen Ausführungen Nietzsches, die Führerkult und Nibelungentreue implizieren, so würde dies bedeuten, dass Merkel nichts weniger als das Surrogat des Allmächtigen, des Höchsten repräsentiert.
Die kitschige Mentalität des Homo bundesrepublikanensis
Mit diesem typisch deutschen Gehorsamskult aufs Engste verknüpft ist ein Phänomen, das, obschon auch andernorts bekannt, in Deutschland besonders stark ausgeformt und verbreitet ist: der Kitsch. Denn dieser Ausdruck bezieht sich keineswegs nur auf ein geschmackloses Werk. Es gibt auch:
„eine kitschige Einstellung. Kitschiges Verhalten. Das Bedürfnis nach Kitsch des Kitschmenschen: es ist das Bedürfnis, sich im Spiegel der beschönigenden Lüge zu betrachten und sich mit gerührter Befriedigung darin zu erkennen“ (3).
Besser lässt sich der Homo bundesrepublikanensis, der eben vorrangig ein braver und gehorsamer Kitschmensch ist, nicht beschreiben. Seit Jahrzehnten wird ihm erzählt, wie wunderbar es Deutschland generell und insbesondere in ökonomischer Hinsicht gehe — was über einen längeren Zeitraum hinweg ja auch tatsächlich der Fall gewesen sein mag, jedenfalls im Vergleich zu anderen Staaten der westlichen Welt.
Hinzu kommt die unvermeidliche moralische Überlegenheit beziehungsweise Vorbildlichkeit der Deutschen, die ja schließlich sowohl im Bereich der Umwelt- und Energiepolitik als auch beim Thema Migration für alle Welt deutlich zu erkennen ist. So hat sich in der Vorstellung des deutschen Michels das unverrückbare Bild eines trauten, harmonischen Heims festgesetzt, in dem viele Jahre — eine gefühlte Ewigkeit — der Übervater Kohl fürsorglich waltete und nun seit geraumer Zeit Mutti Merkel mit ebenso viel, wenn nicht gar noch mehr Liebe, Wohlwollen und Kompetenz die Dinge für ihre Kinderlein regelt. Und natürlich beneiden uns alle anderen Länder um dieses behagliche, so glänzend dastehende und daher allseits bewunderte Zuhause — „Wir leben heute in dem besten Deutschland, das es jemals gegeben hat“, so Frank-Walter Steinmeier.
In Verbindung mit dem treuherzigen deutschen Gehorsam wirkt dieser Kitsch bei der Masse der Deutschen wie ein höchst effektiver Kitt, der ihre Köpfe hermetisch vor der realen Welt verschließt.
Auch die allergröbsten Widersprüche und die aberwitzigsten Absurditäten in Bezug auf das Coronavirus sowie das gesamte verbrecherische und menschenverachtende Drumherum vermögen es nicht, diese seit Generationen implementierte Idylle, in Sonderheit das Mutti-Merkel-Mem, auch nur anzukratzen.
Daher kann die passionierte Flunschzieherin der Bevölkerung zur besten Sendezeit vollkommen bedenkenlos Sätze, wie: „Im großen Ganzen ist nichts schiefgelaufen“, um die Ohren hauen, wobei völlig unerheblich ist, ob sie sich hier auf die offizielle Corona-Pandemie bezieht oder aber ein Freudscher Versprecher vorliegt und sie die Corona-Plandemie als Vorstufe zum „Great Reset“ meint.
Eine vergleichbare Kitsch-Affinität beziehungsweise Verkitschung der Bevölkerung ist in unseren Nachbarländern nicht festzustellen, was sich mit der erwähnten Singularität und außergewöhnlichen Intensität des deutschen Gehorsams begründen lässt. Folgt man der These des großen österreichischen Romanciers Hermann Broch, dass der Kitsch mit der von Empfindsamkeit und Gefühlsüberschwang geprägten Romantik des 19. Jahrhunderts verknüpft ist, dann ergibt sich eine weitere historische Erklärung, denn schließlich war die Romantik — um es mit den Worten Rüdiger Safranskis auszudrücken — „eine deutsche Affäre“ (4, 5).
Die deutsche „Fragmentitis“
Schließlich lässt sich noch ein vierter Faktor ausmachen, der im Zusammenspiel mit den anderen genannten — Schwerblütigkeit, quasi-religiöser Gehorsamskult und Kitschmentalität — seinen Beitrag zur Schlaffheit der Deutschen in Sachen Widerstand gegen das Corona-Regime leistet:
Die in allerhöchstem Maße denunziationsbegabten, diffamierungsfreudigen und neidgeplagten Deutschen leben seit jeher nicht miteinander, sondern vornehmlich gegeneinander und leiden zudem auch noch unter chronischer „Fragmentitis“ und „Distanzitis“.
Mit anderen Worten: A kann nicht mit B, und C kann weder mit D noch mit E etwas anfangen, führende Köpfe der Berliner Bauernproteste distanzieren sich von den Querdenkern, und innerhalb der Querdenker-Gruppierung kann der nicht mit dem und dieser nicht mit jenem, bestimmte Rechtsintellektuelle wiederum belächeln die Querdenker und gehen zu ihnen auf Distanz, weil sie ihnen zu bunt, zu links oder was auch sonst immer sind … Im Kindergarten würde die Kindergärtnerin bei solchen Gegebenheiten ausrufen:
„Kommt wir bauen jetzt mal eine riesige Sandburg! Das schaffen wir aber nur, wenn wir jetzt alle lieb miteinander sind und zusammenarbeiten, nur dann kriegen wir so eine supertolle Burg auch hin!“
Bedauerlicherweise geht es derzeit aber nicht um eine supercoole Sandburg, sondern nur um die Frage Freiheit oder Versklavung, Leben oder Tod.
Ein Hoffnungsschimmer
Trotz all dieser revolutionsaversen Wesenszüge des Deutschen besteht dennoch kein Anlass, den Kopf in den Sand zu stecken. Im Gegenteil: US-Wissenschaftler gehen aufgrund von Computermodellierungen davon aus, dass der kritische Punkt, ab dem eine Minderheitenmeinung zur Mehrheitsmeinung wird, bei zehn Prozent liegt (6).
Die Politikwissenschaftlerin und Harvard-Professorin Erica Chenoweth gelangte nach einer Untersuchung von Aufständen und Protesten zwischen 1900 und 2006 gar zu dem Ergebnis, dass bereits 3,5 Prozent der Bevölkerung ausreichen, um Regierungen zu stürzen beziehungsweise sie zu einem Wechsel der Politik zu zwingen (7).
Die entschiedenen Gegner der Corona-Maßnahmen machen in Deutschland zweifelsfrei mehr als 3,5 Prozent der Bevölkerung aus, inzwischen vermutlich auch mehr als zehn Prozent, und daher darf man durchaus darauf hoffen, dass diese kritische Masse unser Land vor einer maoistisch-stalinistischen Merkel-Söder Diktatur bewahren wird.
Sie müsste sich allerdings geschlossen für einige Zeit vom bequemen Sofa erheben und aktiv werden und dabei — so wie bisher — gewaltfrei bleiben. Denn die besagte Harvard-Studie ergab auch, dass die Mobilisierung, das Aktivwerden der Kritiker eine unabdingbare Voraussetzung für den Erfolg solcher Bewegungen ist und dass Gewaltfreiheit es den Protestierenden sehr viel leichter macht, weitere Bevölkerungsteile für sich zu gewinnen (8).
Quellen und Anmerkungen:
(1) Friedrich Nietzsche: Morgenröte, Idyllen aus Messina, Die fröhliche Wissenschaft, München, Deutscher Taschenbuch Verlag, 9. Auflage 2015, Seite 187 folgende.
(2) Ebenda, Seite 188.
(3) Milan Kundera: Die Kunst des Romans, München, Hanser, 2007, Seite 162.
(4) Ebenda.
(5) Rüdiger Safranski: Romantik. Eine deutsche Affäre, Frankfurt am Main, Fischer, 3. Auflage 2010.
(6) https://www.heise.de/tp/news/Gibt-es-einen-kritischen-Punkt-ab-dem-eine-Minderheitsmeinung-zur-Mehrheitsmeinung-wird-2014500.html
(7) https://news.harvard.edu/gazette/story/2019/02/why-nonviolent-resistance-beats-violent-force-in-effecting-social-political-change/
(8) Ebenda.