Der Demolierer
Was hat Donald Trump mit der NATO vor?
Die USA können nicht mehr Stabilisator und Schutzmacht Europas sein. Der frühere Garant von Freiheit und Demokratie ist selber demokratisch aus der Fassung. Der aktuelle US-Präsident reiht sich nahtlos in die Reihen seiner Vorgänger ein — mit einem Unterschied freilich: dass er seiner Nation die heuchlerische Maske des Horts von Freiheit, Demokratie und Menschenrechten vom Gesicht genommen hat und der Welt die wahre Fratze eines Staates zeigt, der vor allem eines ist, nämlich rücksichtslos und egoistisch auf seine Interessen bedacht, bis ins Mark militaristisch und jederzeit exzessiv gewaltbereit.
„Zweifellos erfolgt jedoch der wichtigste Schritt in Richtung einer antihegemonialen Koalition vor dem Ende des Kalten Krieges: die Gründung der Europäischen Union und die Schaffung einer gemeinsamen europäischen Währung. ... Der Euro könnte eindeutig eine wichtige Herausforderung für die Hegemonie des Dollars im globalen Finanzwesen darstellen“ — Samuel P. Huntington (1).
Nachdem Donald Trump den Nato-Gipfel in Brüssel Mitte Juli dieses Jahres unter Absingen schmutziger Lieder verlassen hatte, zog einer der fanatischsten Protagonisten des transatlantischen Bündnisses in der bundesrepublikanischen Medienlandschaft, der Ressortleiter Außenpolitik der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, FAZ, Klaus-Dieter Frankenberger am 12. Juli 2018 unter dem Rubrum „Trumps Hass“ eine wahrhaft ernüchternde Bilanz jenes präsidialen Auftritts, als er resümierte:
„Alle, die vorhersagten, er werde wie eine Furie durch die Welt fahren und Amerikas Allianzen nicht zu würdigen wissen, haben recht behalten. Die Nato hält Trump für einen Inkassobetrieb. Das ändert nichts an Amerikas bleibender Bedeutung für Europa. Aber transatlantische Feldgottesdienste werden nicht mehr gefeiert.“
Mit seiner Einschätzung steht der Ressortleiter Außenpolitik der FAZ keineswegs isoliert, sondern pars pro toto. Seit dem Amtsantritt des aktuellen US-Präsidenten tritt der Wahrnehmungs- und Bedeutungswandel im Verhältnis zwischen dem „alten Europa“ — wie der vormalige US-Kriegsminister Donald Rumsfeld während des Angriffskrieges im Zweistromland 2003 noch selbstgerecht gehöhnt hatte — und der Hegemonialmacht jenseits des Atlantiks immer deutlicher zutage. Selbst im Angesicht des von der „einzigen Supermacht“ verübten eklatanten Völkerrechtsverbrechens gegen den Irak und seine Menschen hatte das transatlantische Frontblatt der Bundesrepublik Deutschland, das Hamburger Wochenblatt Die Zeit, dazumal am 6. Februar 2003 wortwörtlich vom „Glück, ein Vasall zu sein“ schwadroniert und diesbezüglich konstatiert:
„Gegen das Großmachtstreben der USA hilft nur eins: Mitmachen.“
Und selbst als zwei Jahre später das verheerende Desaster in Mesopotamien der Weltöffentlichkeit unübersehbar vor Augen lag, hatte dieselbe „Edelfeder“, offenbar vom Bellizismus umnachtet, unbeirrbar nachfolgende Eloge auf die von unbändigem Kriegsfuror getriebene Supermacht am 23. Juni 2005 abgesondert:
„Aber es ist nun einmal so, dass die heute mächtigste und interessanteste außenpolitische Philosophie mit moralischem Anspruch in Bushs Vereinigten Staaten vertreten wird, als Projekt der globalen Verbreitung von Freiheit und Menschenrechten.“
Es ist unbestreitbar das Verdienst des gegenwärtig im Oval Office am Potomac amtierenden Präsidenten, dass nunmehr in Europa — und anderswo — Ernüchterung und Realitätssinn zurückgekehrt sind, ganz getreu der fundamentalen Erkenntnis des englischen Außen- und Premierministers Lord Palmerston, der einst konstatiert hatte:
„Wir haben keine ewige Verbündeten noch permanente Feinde. Unsere Interessen sind ewig und beständig, und diese Interessen zu verfolgen ist unsere Pflicht“ (2).
Exakt dieser Maxime folgt offensichtlich auch Donald Trump, wenn er sein „America First“ in die Welt hinauskrakeelt und zugleich die bisherigen europäischen Alliierten der USA fortan unter die Kategorie „Feind“ (3) subsumiert, nachdem er in einem Interview mit dem US-Sender CBS zu Protokoll gegeben hat:
„Ich denke, die Europäische Union ist ein Feind“ (4).
Neben der Europäischen Union insgesamt hatte der US-Präsident speziell auch Deutschland als deren ökonomische Führungsmacht im Visier, als er bei einem Treffen mit der EU-Spitze in Brüssel im Mai letzten Jahres wortwörtlich zu Protokoll gab:
„Die Deutschen sind böse, sehr böse“.
Intuitiv ließen sich derartige Äußerungen schlicht und einfach als Ausdruck der — gelinde ausgedrückt — schillernden Persönlichkeitsstruktur des US-Präsidenten abtun, den der renommierte Kommentator Robert B. Reich folgendermaßen charakterisiert hat: Er ist „a selfish, thin-skinned, petulant, lying, narcissistic, boastful, megalomaniac“, „ein egoistischer, dünnhäutiger, launischer, lügnerischer, narzisstischer, prahlender Größenwahnsinniger“ (5).
Aus ebendieser persönlichkeitsfokussierten, subjektivistischen Perzeption heraus kritisiert die mediale Zunft den US-Präsidenten nicht erst seit Amtsantritt, sondern bereits während seiner bizarren Wahlkampfeskapaden. Exemplarisch lässt sich diese Entwicklung wiederum an der schon genannten Zeit illustrieren, die jahrzehntelang über jedweden Zweifel an US-Loyalität erhaben gewesen war.
Bereits am 16. Februar 2017 wurde dort unter dem Rubrum „Ami goes home“ emotionslos das „Ende einer Freundschaft“ konstatiert. Die Ursache für den transatlantischen Bruch war in einem „amerikanischen Präsidenten“ zu sehen, der die „größte Gefahr für den Westen“ konstituierte, weil er sowohl die „Sicherheit“ als auch den „Wohlstand des Westens“ untergrub, indem er „Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Freihandel“ angriff.
Durch diesen Mann, „der die Welt der Transatlantiker auf den Kopf gestellt hat“, stellt sich „für den Transatlantizismus … die Existenzfrage“. Im gleichen Kontext wurde darüber hinaus gar über eine „Atom-Macht Europa“ räsoniert, an der Deutschland sich finanziell beteiligen sollte.
Kaum ein halbes Jahr später titelte dieselbe Hamburger Redaktion: „Im Westen was Neues“, und beglückte die erstaunte Leserschaft am 19. Oktober mit der nachgerade revolutionären Erkenntnis, dass es nunmehr „höchste Zeit [sei], über eine neue Außenpolitik nach dem Atlantizismus nachzudenken“. Lieber spät als nie, bleibt hierzu anzumerken. Als Initiator für die neu eingeleiteten Denkprozesse fungiert wiederum der aktuelle Amtsinhaber im Weißen Haus, denn „[d]a sitzt ein Nationalist und bekennender Feind multilateraler Politik, der mit autoritären Führern sympathisiert und die EU unterminiert, indem er den Brexit unterstützt.“
Erschwerend kommt noch hinzu, dass Trump die heiligste Kuh im Stall der deutschen Sicherheitspolitik, die Nato nämlich, zeitweilig für „obsolete“ (6) erklärt und damit einhergehend penetrant die in Artikel 5 des Nato-Vertrages fixierte Beistandsverpflichtung infragegestellt hatte. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, wenn angesichts dessen selbst die eingefleischtesten Nato-Lautsprecher nun gerade dem Mann im Oval Office, der mit seinen politischen Volten die „transatlantische Partnerschaft unterminiert“ und damit zugleich als Abdecker jenes überkommenen Militärbündnisses fungiert, zu Protokoll geben, dass man Donald Trump „fast dankbar sein“ könnte, dass er die „fundamentale Krise“ in den transatlantischen Beziehungen unübersehbar zum Vorschein gebracht hat. Nicht minder spektakulär muten die Konklusionen der Zeit-Journalisten zur politischen Lageanalyse an:
„So oder so können oder wollen die USA nicht mehr Stabilisator und Schutzmacht Europas sein; der frühere Garant von Freiheit und Demokratie ist selber demokratisch aus der Fassung, und man muss beten, dass er sich irgendwann wieder einkriegt. … Damit entfallen die beiden Pfeiler des deutschen Atlantizismus. Die USA sind, erstens, kein Garant der Demokratie mehr, sie sind genauso gefährdet wie jede andere westliche Nation; und die USA haben zweitens jedweden moralischen, militärischen und politischen Führungsanspruch verwirkt.“
Obwohl dieser Einschätzung uneingeschränkt zuzustimmen ist, krankt sie doch daran, dass sie auf einer zumindest unzulänglichen Prämisse basiert. Nicht die zugegebenermaßen idiosynkratische Persönlichkeitsstruktur und die erratischen Handlungsweisen des Individuums Donald Trumps sind es, die ein derartiges Urteil zu fundieren vermögen, sondern vielmehr die tiefer liegenden Begründungen hierfür in der Entstehungsgeschichte, den habituellen Gewaltstrukturen — „[d]ie Vereinigten Staaten befinden sich seit Anbeginn beinahe permanent im Krieg“ —, den Traditionen der Außenpolitik und Außenwirtschaftspolitik der „einzigen Supermacht“ sowie den ihre Politik determinierenden geopolitischen und geoökonomischen Rahmenbedingungen wie in der Zeit am 1. März 2018 zu lesen.
Unter dieser Perspektive fügt der aktuelle US-Präsident sich nahtlos in die Reihen seiner Vorgänger ein — mit einem Unterschied freilich: dass er seiner Nation die heuchlerische Maske des Horts von Freiheit, Demokratie und Menschenrechten vom Gesicht genommen hat und der Welt die wahre Fratze eines Staates zeigt, der vor allem eines ist, nämlich rücksichtslos und egoistisch auf seine Interessen bedacht, bis ins Mark militaristisch und jederzeit exzessiv gewaltbereit und nicht zuletzt rechtsnihilistisch bis in den Bereich des Protofaschismus‘. Inwiefern auch letzteres auf den amtierenden US-Präsidenten zutrifft, zeigt das in der Zeit am 24. März 2018 veröffentlichte Interview mit dem letzten noch lebenden Chefankläger der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse, Benjamin Ferencz, der auf die Frage seines Interviewers, ob Trump ihn an den SS-Befehlshaber Otto Ohlendorf erinnere, entgegnete: „Natürlich. Natürlich!“
In der Tat verdient Donald Trump Dank. Dank dafür, dass er die USA — und sich selber — ehrlich gemacht hat. Als Kronzeugen könnte er keinen geringeren als den mittlerweile verstorbenen Samuel P. Huntington heranziehen, dereinst höchst reputierter Harvard-Professor sowie jahrzehntelanger Berater von Pentagon und diversen amerikanischen Administrationen, der nach dem Ende des Kalten Krieges die berühmt-berüchtigte These vom „Clash of Civilizations“, Kampf der Kulturen, formuliert und damit die Legitimationsgrundlage für die dann folgenden jahrzehntelangen Globalisierungskriege geliefert hatte. Huntington hatte bereits vor knapp zwanzig Jahren geschrieben:
„Auf einer Harvard-Konferenz 1997 berichteten Wissenschaftler, daß die Eliten, die mindestens zwei Drittel der Weltbevölkerung — nämlich Chinesen, Russen, Inder, Araber, Muslime, und Afrikaner — repräsentierten, die Vereinigten Staaten als einzige und größte äußere Bedrohung ihrer Gesellschaften betrachteten. Nicht als militärische Bedrohung nähmen sie Amerika wahr, sondern als Gefahr für ihre Integrität, Autonomie, Prosperität und Handlungsfreiheit. Sie sähen die Vereinigten Staaten als aufdringlich, interventionistisch, ausbeuterisch, unilateralistisch, hegemonistisch, heuchlerisch, sich der Doppelmoral bedienend sowie eine Politik verfolgend, die sich unter dem Etikett des ‚Finanzimperialismus‘ und ‚intellektuellen Kolonialismus‘ fassen ließe.“
Huntington hatte indes die seiner Erkenntnis nach innerhalb der politischen Eliten in den USA vorherrschende Idee von den Vereinigten Staaten als eines „wohlwollenden Hegemonen“, der die übrige Welt über die universelle Gültigkeit amerikanischer Prinzipien, Praktiken und Institutionen belehrte und dabei als „Lonely Superpower“ unilateral und autonom zu agieren das Recht besaß, mit äußerster Vehemenz kritisiert. Diese Kritik gipfelte in seinem Vorwurf:
„Während die Vereinigten Staaten verschiedene Länder regelmäßig als ‚Schurkenstaaten‘ brandmarken, entwickelten sie sich in den Augen vieler Länder selbst zur Schurken-Supermacht (rogue superpower).“
Im selben Atemzug hatte er zudem eine wahrhaft bemerkenswerte „Schwarze Liste“ von Machenschaften der USA im internationalen System geliefert:
„In den letzten paar Jahren versuchten oder schienen die Vereinigten Staaten mehr oder weniger unilateral unter anderem folgendes zu versuchen:
* andere Länder unter Druck zu setzen, amerikanische Werte und Praktiken auf dem Feld der Menschenrechte und der Demokratie zu übernehmen;
* andere Länder davon abzuhalten, militärische Fähigkeiten zu erwerben, die der amerikanischen Überlegenheit auf dem Gebiet der konventionellen Streitkräfte entgegenwirken;
* amerikanisches Recht exterritorial gegenüber anderen Gesellschaftssystemen durchzusetzen;
* Länder entsprechend ihrer Einhaltung amerikanischer Standards bezüglich Menschenrechten, Drogenpolitik, Terrorismusbekämpfung, Proliferation von Nuklearwaffen und Raketentechnologie und seit neuestem der Religionsfreiheit zu klassifizieren;
* Sanktionen gegenüber Ländern zu verhängen, welche die amerikanischen Standards hinsichtlich der vorstehenden Probleme nicht erfüllen;
* amerikanischen Handelsinteressen unter dem Vorwand des Freihandels und offener Märkte Vorschub zu leisten;
* die Politik von Weltbank und Internationalem Währungsfond im Sinne ebenselber Handelsinteressen zu beeinflussen;
* andere Länder zu zwingen, eine Wirtschafts- und Sozialpolitik zu übernehmen, die amerikanischen Wirtschaftsinteressen zugute kommt;
* amerikanische Rüstungsverkäufe im Ausland zu fördern und zugleich vergleichbare Verkäufe seitens anderer Länder zu verhindern;
* den Generalsekretär der Vereinten Nationen aus dem Amt zu drängen und die Bestellung seines Nachfolgers zu diktieren;
* im Zuge der NATO-Osterweiterung Polen, Ungarn sowie Tschechien, aber kein weiteres Land ins Bündnis aufzunehmen;
* militärisch gegen Irak vorzugehen und in der Folge scharfe Wirtschaftssanktionen gegen das Regime aufrechtzuerhalten; und schließlich
* bestimmte Länder als ‚Schurkenstaaten‘ zu klassifizieren und sie von internationalen Institutionen auszuschließen, weil sie sich weigerten, vor amerikanischen Wünschen den Kotau zu machen.”
Von unwesentlichen Details abgesehen liest sich Huntingtons Auflistung wie eine Blaupause für die Außenpolitik des gegenwärtigen US-Präsidenten und illustriert damit zugleich, dass Donald Trump mutatis mutandis lediglich die Kontinuität tradierter US-amerikanischer Außen- und Sicherheitspolitik bewahrt, wie sich ohne weiteres anhand der aktuellen Konfliktszenarien mit dem Iran, der Türkei, der Volksrepublik China und nicht zuletzt der Europäischen Union belegen lässt. Darüber hinaus hat „[a]uch die Trump-Administration … keinerlei Zweifel daran gelassen, dass sie die militärische Überlegenheit der USA aufrechterhalten will.“, laut Verfasser der SWP-Studie 6, Peter Rudolf, im Mai 2018.
Was an der Trump’schen Politik hervorsticht, sind allenfalls seine — für einen Immobilienhai freilich nicht übermäßig überraschenden — ökonomiefixierten und -getriebenen Aktionsmuster. Geradezu prototypisch manifestiert sich laut Fabian Böller sowie der Autor in International — Die Zeitschrift für Internationale Politik Nr. II/2017 die „strikt an materialistischer Nutzenkalkulation orientierte Außenpolitikdoktrin“ Trumps gerade in der — im übrigen alles andere als neuen — Kontroverse zwischen der atlantischen Hegemonialmacht und ihren europäischen Alliierten um das sogenannte Burden Sharing, also die Lastenteilung, innerhalb der Nato (7).
Was in diesem Kontext freilich höchstgradig irritiert, ist keineswegs das rotzfreche bis tolldreiste Auftreten des US-Präsidenten, sondern das bis zur Selbstverleugnung speichelleckerische Verhalten der europäischen Vasallentruppe, die anstatt unter Verweis auf die im wahrsten Sinne irrsinnigen Dimensionen der US-amerikanischen Rüstungsausgaben (8) die ohnehin schon jeglichem vernünftigen Maß entrückte Supermacht zur Mäßigung aufzurufen, in atemberaubender Geschwindigkeit den Kotau vor dem selbst auferlegten 2-Prozent-Fetisch vollzog.
Quelle: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 159, 12. Juli 2018, S. 2
Zumindest um zweierlei ist es der Trump-Administration in diesem Kontext zu tun: Erstens um die Interessen der heimischen Rüstungsindustrie, denn die europäischen Vasallen kaufen im Gegensatz zu den goldenen Zeiten des Kalten Krieges schon längst kaum mehr auf dem US-Rüstungsmarkt ein, sondern haben ihre Rüstungsproduktion vornehmlich auf eigene Füße gestellt — aus Sicht des „zum Politiker avancierte[n] Immobilienmogul[s]“ Trump, dem es nicht allein darum geht, Amerika wieder groß zu machen, sondern vor allem auch darum, Amerika wieder reich zu machen“, handelt es sich bei der Nato längst schon um ein alles andere als einträgliches Geschäft. Weshalb er sich mit seinem abwegigen Lamento, dass die Bündnisgenossen, insbesondere die deutschen, den USA große Summen für die Verteidigung Europas schuldeten (sic!), auch konsequenterweise als Inkassoeintreiber geriert, der dafür sorgt, dass die europäischen Geizhälse gefälligst wieder bei Lockheed Martin, Boeing, Raytheon, Northrop Grumman, General Dynamics und anderen auf Einkaufstour gehen.
Zum anderen sehen sich die USA nicht erst seit der Ära Trump mit dem Aufstreben der Volksrepublik China zur potentiell globalen Supermacht des 21. Jahrhunderts konfrontiert, die es selbstredend aus Sicht der bisherigen „Lonely Superpower“ — Einsamen Supermacht — einzudämmen gilt. Was sich freilich schon zu Zeiten von Trumps Amtsvorgänger als nicht ganz einfach darstellte, denn, so schrieb Herfried Münkler am 14. Juni 2018 in der Zeit:
„[w]enn eine gleichzeitige und gleich starke Machtprojektion in den atlantischen und den pazifischen Raum die USA überforderte, so Obamas Kalkül, dann müssten die Europäer die Verantwortung für ihren Raum und dessen Peripherie übernehmen, und die USA würden sich bei Aufrechterhaltung einer zurückgenommenen Rolle des Hüters der globalen Ordnung im Wesentlichen auf den pazifischen Raum konzentrieren.“
Obamas Amtsnachfolger setzt dessen Politik des „Retrenchment“, das heißt der Verringerung der eigenen äußeren Interventionskosten für die Aufrechterhaltung eigener Hegemonialambitionen qua Nutzung der Potentiale der Bündnispartner in immer stärkerem Maße, nachdrücklich fort. Die unabdingbare Voraussetzung für eine derartige Aufgabenteilung lautet natürlich: unerschütterliche Gefolgschaft der „tributpflichtigen Vasallen“ (42) im US-amerikanischen Nato-Protektorat, vergleiche hierzu Zbigniew Brzeziński „Die einzige Weltmacht. Amerikas Strategie der Vorherrschaft“.
Dieser Schuss scheint freilich gewaltig nach hinten loszugehen, denn „Erpressung zerstört den Kern eines Bündnisses. Trumps öffentliche Vorführung seiner Partner ließe jede Mehrausgabe für Verteidigung wie eine erzwungene Tributzahlung erscheinen“, schrieb Jörg Lau am 19. Juli 2018 in der Zeit.
Und weiter: Indem „der Führer der freien Welt mit dem Vorschlaghammer durch Europa zieht“, indem er die „Grundlagen [zerstört und] die Bedingungen [verändert], unter denen westliche Außenpolitik in einer post-westlichen Welt betrieben werden muss“, und dergestalt eine rücksichtslose „Politik der Demontage des Westens“ betreibt, könnte der US-Präsident unter den Europäern eine „Geschlossenheit“ erzwingen, „die sonst kaum möglich wäre“, wie es Münkler am 14. Juni 2018 formulierte.
Ganz ähnlich sieht dies Deutschlands vormaliger Außenminister und jetziger Bundespräsident, Frank-Walter Steinmeier, der im Interview mit der Zeit am 7. Juni 2018 zur Zukunft der transatlantischen Beziehungen anmerkt:
„Wenn eine amerikanische Regierung die Autorität des internationalen Rechts und der Vereinten Nationen relativiert und die internationale Gemeinschaft eher als eine Arena ansieht, in der jeder sich nach Stärke und Interesse das holt, was er bekommen kann, ist das Grund genug für ein neues europäisches Selbstbewusstsein. Aber dazu gehört auch, dass wir wissen: Während und auch nach Trump wird das transatlantische Pendel nicht wieder in die für Jahrzehnte geltende Normallage zurückfallen. Das muss nicht dauerhaftes Desinteresse an Europa bedeuten, und militärische Investitionen in den Schutz Europas wird es weiter geben, aber Europa wird nicht wieder Kern der amerikanischen Sicherheitspolitik werden!
Daraus sind zwei Schlüsse zu ziehen, die beide unbequem sind: Erstens — und nicht, weil Trump es sagt! — müssen sich die Europäer verständigen, was sie für die gemeinsame Sicherheit aufbringen wollen und was das für effizientere Strukturen in der militärischen Zusammenarbeit in Europa bedeutet. Nicht minder herausfordernd ist der zweite Punkt: Es braucht eine Verständigung, wie man langfristig das Verhältnis zu den heute schwierigen Partnern — wie Russland — gestaltet. Beide Debatten dürfen sich die Europäer nicht ersparen, und in beiden brauchen wir Ergebnisse, die nicht mit beiden Füßen in den Wolken stehen.“
Deutlich weniger diplomatisch formuliert Deutschlands einstmaliges transatlantisches Frontblatt aus Hamburg diesbezüglich Klartext:
„Um auf die Höhe der Zeit zu kommen, müssten die Transatlantiker aufhören, Europa ausschließlich als natürlichen Juniorpartner Amerikas zu denken.“
Zugleich wird es „[f]ür die Deutschen … also darum gehen, die EU im Zweifelsfall gegen [sic!] Amerikaner und Briten zusammenzuhalten — die beiden transatlantischen Führungsmächte.“ Und weiter: „… europäische Integration, Multilateralilsmus, Einsatz für Menschenrechte und Rechtsstaat, regelbasierte Globalisierung — all das muss ein in Europa eingefügtes Deutschland künftig auch ohne, vielleicht sogar gegen [sic!] die US-Regierung vorantreiben.“ Denn: „In dieser Lage wäre es abenteuerlich, wenn Deutschland und Europa darauf hoffen würden, es könne eine Wiederauflage des Atlantizismus geben.“
Diese Botschaft scheint auch an der Spitze des Bundesministeriums der Verteidigung angekommen zu sein, wo Amtsinhaberin Ursula von der Leyen zu Protokoll gab:
„Es musste erst den Brexit und die Wahl in den USA geben, damit wir Europäer endlich unsere inneren Blockaden aufbrechen und uns zur Verteidigungsunion zusammenschließen. … Europa kann nicht nur Softpower sein, es muss auch Hardpower sein. … wir sind jetzt auf dem Weg, uns so zu organisieren, dass die neue europäische Verteidigungsunion Strukturen aufbaut und ernst genommen wird.“
Nun denn, „der Worte sind genug gewechselt, laßt mich auch endlich Taten sehn!“, erschallt der Ruf in Johann Wolfgang von Goethes Faust. Soll heißen: „Es ist Zeit für die Europäer, sich auf eine Welt ohne Allianzen einzustellen. Nicht nur ein Stück weit.“ Dies wiederum bedeutet im Klartext — Trump sei’s gedankt! —, die immer noch heiligste Kuh im Stall der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik zu schlachten und die Nato dorthin zu entsorgen, wohin sie schon lange gehört: auf den Schutthaufen der Geschichte.
Quellen und Anmerkungen:
( ) Huntington, Samuel P.: The Lonely Superpower, in: Foreign Affairs, vol. 78, no. 2, 1999, p. 45.
(2) Palmerston, Henry John Temple: Remarks in the House of Commons, March 1, 1848; http://www.quotationspage.com/quote/41290.html.
(3) Žižek, Slavoj: Danke, Donald Trump. Erst im Moment der Gefahr offenbart sich das Potenzial der europäischen Idee, in: Die Zeit, Nr. 35, 9. August 2018, S. 38; Anonym: Trump bezeichnet die Europäische Union als „Feind“, in: Die WELT, 15. Juli 2018; https://www.welt.de/politik/ausland/article179384070/Donald-Trump-bezeichnet-die-Europaeische-Union-als-Feind.html sowie Anonym (aar/dpa): EU-Kommission sieht sich weiter als Freund der USA, in: SpiegelOnline, 16. Juli 2018, 04:09 Uhr; http://www.spiegel.de/politik/ausland/donald-trump-nennt-eu-gegner-eu-kommission-sieht-sich-weiter-als-freund-a-1218601.html.
(4) Glor, Jeff (Interviewer): Trump on Putin meeting: "I go in with low expectations", CBS NEWS / July 15, 2018, 6:00 AM; https://www.cbsnews.com/news/trump-russia-low-expectations-putin-meeting/.
(5) Reich, Robert B.: How To Stop Trump, Saturday, April 28, 2018; http://robertreich.org/post/173400442680.
(6) Vgl. Biskup, Daniel (Interviewer): Donald Trump: I’ll do a deal with Britain, in: The Times, January 15 2017; http://www.thetimes.co.uk/edition/news/i-ll-do-a-deal-with-britain-6hl2hl73l sowie Anonym (afp): Deutschland: Trump nennt Nato "obsolet"; http://www.zeit.de/news/2017-01/15/deutschland-trump-nennt-nato-obsolet-15230606.
(7) Siehe hierzu Cimbala, Stephen J./Forster, Peter Kent: The US NATO and military burden sharing: post-Cold War accomplishments and future prospects, in: Defense & Security Analysis, Vol. 33, No. 2/2017, p. 115–130; https://doi.org/10.1080/14751798.2017.1302575; Sinjen, Svenja: Die Lastenteilung in der NATO: Deutsche Führung bleibt gefragt, in: Mölling, Christian/Schwarzer, Daniela (Hrsg.): Außenpolitische Herausforderungen für die nächste Bundesregierung Stärken, Schwächen, Chancen und Risiken, DGAP kompakt, Nr. 6, Berlin, Sommer 2017, S. 22–24; https://dgap.org/sites/default/files/article_downloads/6_btw_nato_sinjen.pdf;
(8) Tian, Nan/Fleurant, Aude/Kuimova, Alexandra/Wezeman, Pieter D./Wezeman, Siemon T.: Trends in World Military Expenditure, 2017, SIPRI Fact Sheet, Solna, May 2018; https://www.sipri.org/sites/default/files/2018-05/sipri_fs_1805_milex_2017.pdf sowie Anonym (ZEIT ONLINE, dpa, AFP, dsc): Rüstungsausgaben steigen weltweit. Es wird so stark aufgerüstet wie seit dem Kalten Krieg nicht mehr. Spitzenreiter sind die USA. Auch China und Saudi-Arabien investieren kräftig in Waffen und Militär, in: ZEIT ONLINE, 2. Mai 2018, 3:16 Uhr; https://www.zeit.de/politik/ausland/2018-05/sipri-bericht-ruestungsausgaben-steigen-weltweit.