Der Corona-Frieden
Trotz aller anti-russischen Propaganda verfängt der Russland-Haß in der Bevölkerung nicht wie gewünscht.
Ende Januar begann unter Beteiligung von 17 weiteren NATO-Mitgliedsstaaten das größte US-Manöver seit dem Ende des Kalten Krieges – so war es zumindest geplant. Ziel war und ist es, die Verlegefähigkeit der NATO-Truppen an die russische Grenze zu testen und zu optimieren, also dem Russen zu zeigen, wer das Sagen hat in Europa. Zur Enttäuschung der Verantwortlichen kann sich eine überwältigende Mehrheit der Deutschen jedoch für einen Krieg mit Russland noch immer nicht erwärmen. Die Kalten Krieger sind am Ende ihrer Überzeugungskraft angelangt.
Defender 2020 soll(te) inklusive Rückverlegung bis in den Spätsommer andauern. Der Höhepunkt des Manövers soll(te) pünktlich zum 75. Jahrestag des Sieges über den Faschismus, der unzweifelhaft im Wesentlichen der Sowjetunion zu verdanken ist, stattfinden – an den Grenzen der Russischen Föderation. Ein größeres Sensibilitätsdefizit ist kaum vorstellbar, will man das Manöver noch mit Wohlwollen betrachten. Bei realistischer Betrachtung hingegen bleibt festzuhalten, dass es sich um eine kalte Provokation unter maßgeblicher Beteiligung Deutschlands gegen Russland handelt(e). Das Feindbild Russland muss schließlich gepflegt werden, komme was wolle. Oder doch nicht?
Die Kalten Krieger der NATO haben sich verschätzt, was ihre propagandistische Überzeugungskraft anbetrifft.
Seit über 10 Jahren wird in EU- und NATO-Brüssel sowie den USA und im politischen Berlin gegen Russland gehetzt. Die Vorstellung, dass auch Russland, China, Iran etc eigene – mit dem Westen nicht harmonisierbare – Interessen haben könnten und auch noch die Dreistigkeit besitzen, diese zu artikulieren bzw. zu materialisieren, statt sich der pax americana (US-geführte Weltordnung) zu unterwerfen, übersteigt sämtliche westlichen Vorstellungskräfte und Akzeptanzen.
Also werden die Instrumente gezeigt – eine im Mittelalter gerne verwendete Redewendung für die Androhung von Folter:
Massive Aufrüstungsprogramme, NATO-Osterweiterung, fortgesetzte friedliche und nichtfriedliche Regime Change-Politik, Handels- und Wirtschaftskrieg – inklusive unilateraler und somit illegaler Sanktionen – sowie Informations- und Propagandakrieg. Kurzum: Also alles, was der Instrumentenkasten unterhalb der Schwelle einer realen militärischen Auseinandersetzung so hergibt – zumindest bislang.
Russland seinerseits antwortet ebenfalls mit mittlerweile ausgeklügelten soft power Maßnahmen, die dem des Westens in nichts nachstehen, was den Westen umso fassungsloser macht. Es ist selbstverständlich in den Augen des „Guten Westens“, dass westliche Medien in Russland berichten dürfen, geht es doch um die Freiheit (wessen Freiheit eigentlich?). Es ist aber eine Anmaßung, dass russische Medien im Westen operieren und da bei sogar eine hohe gesellschaftliche Aufmerksamkeit generieren, was so manche transatlantisch orientierten Journalistinnen zur Verzweiflung treibt.
Zum guten Ton westlicher Medien gehört es, den JournalistInnen der russischen Medien die Professionalität abzusprechen und stets darauf hinzuweisen, dass diese Medien „Kreml-finanziert“ seien. Diese Kritik mag zutreffend sein. Die Frage ist nur, ob westliche öffentlich-rechtliche und Konzernmedien bzw. deren Redaktionen sich in der journalistischen Praxis tatsächlich ausschließlich der Wahrhaftigkeit und Objektivität verpflichtet sehen oder ob nicht ein gehöriges Maß Ideologie deren Berichterstattung lenkt. Allein in meiner Dissertationsschrift zur westlichen Berichterstattung hinsichtlich des Krieges im ehemaligen Jugoslawien konnte ich massenhafte ideologische Argumentationsmuster und platteste Propaganda nachweisen.
Trotz aller anti-russischen Propaganda verfängt diese in der Bevölkerung nicht wie gewünscht.
Plötzlich tauchen, wie aus dem Nichts, irgendwelche Jugendliche mit der Lichtgestalt Greta Thunberg unter dem Label „FridaysforFuture“ auf und protestieren zu Recht sehr vehement gegen die Untätigkeit ihrer Regierungen hinsichtlich der anstehenden Klimakatastrophe. Nein, nicht der Russe wird von der Jugend als Gefahr betrachtet, sondern die Klimakatastrophe und die untätigen Regierungen, die eher im Dienst des Kapitals, denn der Gesellschaften stehen.
Trotzdem wird an dem anti-russischen Narrativ festgehalten. Man lässt sich doch nicht von ein paar Millionen Halbwüchsigen die Butter vom Brot nehmen. Defender 2020 findet statt – ungeachtet weiterer CO2-Emissionen, basta!
Und außerdem ist der Russe die größere Gefahr im Vergleich zur Klimakatastrophe, so die unumstößliche Überzeugung der transatlantischen Vor- und Nichtdenker.
Dann plötzlich taucht eine Pandemie, Namens „Corona“ auf – ausgerechnet ausgehend aus dem Land, dass sich als neuer – zweiter - Feind der westlichen Zivilisation profiliert: China.
Diese Pandemie zwingt den gesamten Globus in die Knie. Massive wirtschaftliche Einbußen, die Offenlegung der unzureichenden, weil im neoliberalen Wahn weitgehend privatisierten Gesundheitssysteme, der Zusammenbruch der globalisierten Lieferketten und Absatzmärkte, drohende Massenarbeitslosigkeit sowie Pleiten bei Kleinunternehmen und Selbstständigen etc.
Und schlussendlich die vorzeitige Beendigung des Großmanövers Defender 2020.
Was soll der Russe nur davon halten, dass die NATO-Staaten „nur wegen einer Pandemie“ schon zum Rückzug blasen, so wohl die Sorge in den Stuben der NATO-Generäle und Schreibtischstrategen.
Und weil das so ist, ist Defender 2020 bis heute (Stand 21. März 2020) noch nicht offiziell für beendet erklärt. Ich habe zwischenzeitlich zweimal beim Verteidigungsausschuss eine Obleuteunterrichtung zwecks Stand der Beendigung Defender 2020 erbeten. Bislang ist das Verteidigungsministerium dem Bundestag und der Öffentlichkeit eine Erklärung schuldig geblieben. Man gewinnt den Eindruck, das BMVg will Defender 2020 so lautlos wie möglich beenden.
Warum? Der Russe kann nicht der Grund sein – der weiß um das vorzeitige Ende des Manövers vermutlich ziemlich genau. Die Öffentlichkeit in Deutschland und im Westen soll vielmehr nichts mitbekommen. Denn, man müsste eingestehen, der Russe ist weniger gefährlich, als das Corona-Virus. Denn eigentlich ist für die westliche Zivilisation nichts gefährlicher als der Russe – perspektivisch vielleicht noch der Chinese, auch ohne Corona.
Und die ganze Misere wird davon getoppt, dass auch die Umfrageergebnisse die westliche Propaganda als wenig effektiv erscheinen lassen. Eine Meinungsumfrage des European Council on Foreign Relations aus dem Jahre 2019 kommt zu folgenden Ergebnissen:
- 70% Befragten in Deutschland wollen, dass Deutschland im Falle eines Konfliktes zwischen den USA und Russland eine neutrale Position einnimmt.
- 12% wollen an der Seite der USA stehen und 7% sogar an der Seite Russlands.
- Aber es kommt noch schlimmer für die Propagandisten und Transatlantiker in Deutschland.
- Eine Meinungsumfrage des US-amerikanischen PEW Research Centers aus dem Jahre 2018 kommt zu folgenden Ergebnissen:
- 49% der Befragten in Deutschland sehen in USA eine große Bedrohung für Deutschland. Hingegen sehen vergleichsweise nur 30% der Befragten in Russland eine große Bedrohung für Deutschland, obschon die antirussische Propaganda allgegenwärtig ist.
Ganz offensichtlich sind die Menschen in Deutschland klüger als die Mehrheit der politischen Klasse und der politischen Entscheider.
Da ich davon ausgehe, dass Defender-Manöver nicht aufgegeben werden, sondern wie angekündigt jährlich in Europa und im westlichen Pazifik mit jährlich wechselndem Schwerpunkt stattfinden sollen, bleibt der gesellschaftliche Widerstand gegen diese unnötigen Sandkastenspielchen von hoher Bedeutung.