Der Büttel der USA
Statt für eigene Interessen einzustehen, lässt sich Europa auf selbstzerstörerische Weise für das geopolitische Vorhaben der USA einspannen, das eurasische Herzland zu erobern.
In kriegslüsternen Zeiten wird Zögerlichkeit bei Waffenlieferungen augenblicklich gerügt. Auf die Frage, warum Deutschland keine Kampfpanzer an die Ukraine liefere, antwortet der deutsche Bundeskanzler Scholz, Deutschland unternehme nichts ohne Absprache mit den USA. Die von ihm ausgegebene Linie: keine deutschen Alleingänge. Der von ihm angegebene Grund für seine Zurückhaltung, man wolle nicht unversehens zur Kriegspartei werden, klingt maßvoll, trägt aber im Kern unüberhörbar den Unterton botmäßiger Bereitschaft: Wenn die USA liefern, dann liefern wir auch. In den Startlöchern für eine solche Entwicklung stehen die Außenministerin Annalena Baerbock und ihre grünen Parteigänger, ebenso Personen wie die Abgeordnete Marie-Agnes Strack-Zimmermann, FDP-Vorsitzende des Verteidigungsausschusses des Bundestages, ganz zu schweigen von den Scharfmachern aus den Reihen der Opposition und im Rahmen der Europäischen Union. Alle diese Befürworter schwerer Waffen für die Ukraine wollen die Waffen lieber heute als morgen liefern — „koste es, was es wolle“, wie Annalena Baerbock ukrainische Forderungen voller Verständnis zitiert, laut Interview in der FAZ vom 15. September 2022. Ähnliches hat man ja auch schon aus den baltischen Ländern oder aus Polen gehört. Von Bereitschaft zu Friedens- oder zumindest Waffenstillstandsverhandlungen hört man dagegen wenig, von Wolodymyr Selenskyj schon gar nicht. Er erklärt, man werde „bis zum Sieg“ kämpfen; gemeint ist die „Rückeroberung“ der Krim und der abgespaltenen Provinzen Donezk und Lugansk.
Die Realität dieser offensichtlichen US-Hörigkeit der Unterstützer der Kiewer Ukraine, die auf Ansagen aus Washington wartet, veranlasst mich, einen Text zu dem gegenwärtigen Stellvertreterkrieg zwischen Russland und dem „kollektiven Westen“ in Erinnerung zu rufen, den ich bereits 2015 veröffentlicht habe, also nach den Ereignissen auf dem Maidan 2014 und weit vor der Ausweitung des innerukrainischen Krieges.
Dieser Text, „Warum die EU sich gegen Russland, aber nicht gegen die USA schützt“, ist bis auf die Tatsache, dass aus dem bisherigen Russland-Bashing inzwischen ein harter Stellvertreterkrieg hervorgegangen ist, im Kern nicht nur brandaktuell; er kann auch helfen, einige wesentliche Aspekte zum Charakter dieses Krieges besser zu verstehen und auch mögliche Alternativen aus dem Vergessen zu befreien. Ich möchte ihn deshalb ohne Veränderungen hier noch einmal in die öffentliche Wahrnehmung bringen.
Warum schützt die EU sich gegen Russland, aber nicht gegen die USA?
Die Tatsachen sind unübersehbar: Europa, genauer die Europäische Union, schützt sich gegen Russland, aber nicht gegen die USA. In der Unterstützung der aktuellen Kiewer Politik, im Sanktionskrieg gegen Russland, in der Aufrüstung der NATO zu erneuter „Abschreckungsfähigkeit“ lässt sich die EU, darin insbesondere Deutschland, ungeachtet einzelner kritischer Stimmen, zur Speerspitze US-geführter Angriffe gegen Russland machen. Kritiken an einer Funktionalisierung Europas, der EU, Deutschlands durch Washington, die eine eigenständigere Politik der Europäer einklagen, enden in Freundschaftsbesuchen der deutschen Kanzlerin im Weißen Haus, verhallen in der spärlichen Bundestagsopposition — oder bilden eine Art neuer außerparlamentarischer Opposition im Internet. Diese nimmt die Politik der Bundesregierung hart aufs Korn, hat es allerdings schwer, sich gegenüber einem banalen antiamerikanischen, tendenziell nationalistischen Populismus zu konturieren.
Die ganze Szene der gegenwärtigen politischen Aktivitäten soll hier nicht aufgeblättert werden. Sie darf in ihren Erscheinungsformen als mehr oder weniger bekannt vorausgesetzt werden. Vielmehr soll hier der Versuch gemacht werden, den politischen und mentalen Befindlichkeiten auf die Spur zu kommen, die dieser aktuell zu beobachtenden Realität des „Russland-Bashings“ unterliegen. Das hilft möglicherweise, sich in diesem Gestrüpp zu orientieren.
Scheinbar zusammenhanglose Fragen stellen sich zunächst, wenn man der oben gestellten Frage nachgeht, bevor sich der Vorhang zu lüften beginnt: Wieso muss eine gestandene Demokratin wie Frau Krone-Schmalz in einer Talkshow zu Russland erst versichern, sie wüsste den Beitrag der Amerikaner zur Befreiung Deutschlands vom Faschismus zu würdigen, bevor sie ihre Kritik an der Russlandpolitik der Bundesregierung vorbringen kann? Wie ernst zu nehmen war ein Bundeskanzler Gerhard Schröder in der Ablehnung der Irak-Politik der USA, wenn er gleichzeitig die militärische Infrastruktur Deutschlands für den US-Aufmarsch zur Verfügung stellte?
Wie glaubhaft sind die Differenzen zwischen Bundeskanzlerin Angela Merkel und Außenminister Frank-Walter Steinmeier in der Ukraine-Russland-Politik, wenn er seine Aufgabe ausdrücklich darin sieht, einer dem Krieg ablehnend gegenüberstehenden Bevölkerung die Notwendigkeit „globaler Verantwortung“ zu vermitteln? Was hat man schließlich von dem ideologischen Kreuzzug gegen Russland seitens führender Grüner wie Marieluise Beck, Rebecca Harms, Ralf Fücks und der von den Grünen geführten Böll-Stiftung zu halten? Gibt es ein Gemeinsames hinter diesen Facetten der aktuellen Russophobie?
Der ideologische Kreuzzug der Grünen ...
Ja, gibt es ganz sicher. Die Wandlung der Grünen von einer eher linksgerichteten Opposition zur Speerspitze der antirussischen Propaganda kann dabei den interessantesten Zugang zur Klärung dieser Frage öffnen. Ist doch diese Wandlung keineswegs so aus der Spur, wie es zunächst scheint. Gehen die heute führenden Grünen doch aus den Teilen der neuen deutschen Linken der 70er- und 80er-Jahre des vorigen Jahrhunderts hervor, die die Sowjetunion seinerzeit als „sozialimperialistisch“ kritisierten. An führender Stelle stand dabei auch Ralf Fücks, damals Mitglied des Kommunistischen Bunds Westdeutschland (KBW), später Chef der Böll-Stiftung — inzwischen ist er nicht mehr im Vorstand —, die sich im Russland-Bashing der letzten Jahre, gesteigert im Verlauf des Ukrainekonfliktes, eine klare Frontstellung im allgemeinen Chor der Russlandkritiker erobert hat.
Die in der sowjetkritischen neuen Linken der alten BRD verbreitete Kritik des „Sozialimperialismus“ darf man gut und gern als die ideologische Zuspitzung historischer Kritiken am russischen Imperialismus verstehen, die alle anderen Kritiken sozusagen auf theoretischem Niveau einfängt und mitklingen lässt. Sie verband den Vorwurf des Imperialismus — an sich schon die schärfste Form der Kritik an der höchsten und damit zum Extrem aufgelaufenen Form des Kapitalismus — mit der weitergehenden Kritik, dass die Gesellschaft, die sich sozialistisch nannte, diesen Imperialismus im Namen des Sozialismus auf die Spitze getrieben habe.
Der „Sozialimperialismus“ erschien damit als gesteigerte Weiterentwicklung des Imperialismus, die unter der falschen Flagge des Sozialismus den Völkern aufgedrückt werde. Der Sprung aus dieser Theorie zu einer Sicht, in welcher der, sagen wir ursprüngliche kapitalistische Imperialismus die weniger gefährliche Variante des Imperialismus ist und in welcher die Auflösung der Sowjetunion als Befreiung und Fortschritt begriffen wird, ist nur noch ein kleiner — gerade so weit, wie die noch kurze Geschichte der Grünen lang ist.
… als Ausdruck allgemeiner Russophobie
Aber hinter der sozialimperialistischen Phobie, jetzt als Warnung vor russischen „Aggressionen“, russischem „Revanchismus“ und „Revisionismus“ unter Putin politisch aktualisiert, tritt natürlich die ganze Geschichte der europäisch-russischen Beziehungen hervor. Es ist die Geschichte ständiger Grenzüberschreitungen und gegenseitiger Durchdringung wie auch ebenso ständiger und über lange Phasen wirkender radikaler Abgrenzungen, ja Abschottungen.
Es gibt keine natürliche Grenze zwischen dem, was Europa genannt wird, und dem eurasischen Kernland, keine geografische, keine ethnische und auch keine kulturelle.
Geografisch gesehen ist Europa ein natürlicher Teil Eurasiens, ist Eurasien eine ebenso natürliche Fortsetzung Europas bis an den Pazifik, nur eingeschränkt durch die chinesisch-mongolischen Grenzgebirge nach Süden. Der Ural, vom europäischen Schulwissen immer wieder als Grenze zwischen Europa und Asien benannt, hatte in der Geschichte nie eine tatsächliche Trennungsfunktion, war in der Zeit der Bolgaren, also etwa vom 6. bis zum 12. Jahrhundert, sogar Rückgrat eines Siedlungsgebietes, das ihn vom Westen, Süden und Osten umschloss. Die eurasischen Reitervölker strömten in den offenen Westen, die europäischen Siedler in den offenen Osten. Diese nicht immer aggressive, oft aber auch sehr blutige Überlagerung kennzeichnet die russisch-europäischen Beziehungen durch die frühen Jahrhunderte eurasischer Geschichte: Das sind die Völkerwanderung im 3., 4. und 5., der Mongolensturm im 13. und 14., die Ostkolonisation im 11. und 12. Jahrhundert.
So grenzenlos die frühen Völkerbewegungen einschließlich des Mongolensturms abliefen, so scharf setzten demgegenüber in den Jahrhunderten danach die Abgrenzungen entlang religiöser Räume ein. Schon das Aufkommen des Islam ab dem 6. Jahrhundert ließ abgegrenzte Räume in Eurasien entstehen.
Der muslimische Herrschaftsraum, der sich in Konkurrenz zur römisch-christlichen Kirche vom östlichen Mittelmeerraum her entwickelte, zog Grenzen von Süden im eurasischen Raum. Das von Christen bewohnte nördliche Land spaltete sich durch das Schisma der christlichen Kirche von 1054 in ein östliches — byzantinisches — und ein westliches — katholisches — Abendland.
Mit der Eroberung und Zerstörung Konstantinopels — Byzanz — durch das dritte Kreuzfahrerheer 1204 ging der Impuls des vorher schon geschwächten byzantinischen Christentums auf die Kiewer Rus über. Damit war die Spaltung des eurasischen Raums in ein westliches Europa und ein östliches Zentraleurasien/Russland eingeleitet. Die Zerschlagung Kiews durch die Mongolen 1241 und der anschließende Übergang des orthodoxen Metropoliten nach Moskau vollendeten diesen Prozess. Von da an gingen der Westen, Europa, und zum anderen das eurasische Herzland, Russland, unterschiedliche, sich extrem voneinander abgrenzende Wege.
Unterschiedliche Wege der Kolonisation
Diese historische Gabelung der eurasischen Entwicklung kann nicht oft und nicht deutlich genug immer wieder ins Gedächtnis gerufen werden, denn von da an kapselte sich ein katholisches Europa, das im Weiteren vom Katholizismus zur Reformation und zur Aufklärung fortschritt, vom Osten ab — im Osten setzte unter den Moskauer Fürsten der Prozess des „Sammelns der russischen Erde“ ein. Er führte unter Iwan III. zur brutalen Unterwerfung des nach Westen offenen Nowgorod, zu dessen Einbindung in das entstehende Moskauer Reich und unter Iwan IV. dann zur Abschließung Moskaus nach Westen bei gleichzeitiger Öffnung nach Osten.
Für beide Seiten öffnete sich damit eine Zeit fulminanter Expansion — allerdings mit jeweils umgekehrten Vorzeichen: die östlich-abendländische, das heißt russische Kolonisation führte nach Osten in die territoriale Tiefe des eurasischen Raumes und unterwarf sich diesen fast vollständig in einem Prozess der schrittweisen territorialen Ausdehnung. Die einverleibten Gebiete verschmolzen in diesem Prozess zu einem integrierten territorial zusammenhängenden Organismus, dem russischen Vielvölkerstaat. Die westlich-abendländische, also europäische Kolonisation führte über die Meere zur Eroberung der gesamten Welt, aber, anders als die russische, ohne einen zusammenhängenden Organismus zu bilden, sondern vielfach gegliedert nach Konkurrenzen der europäischen Nationalstaaten und ohne direkte Integration der Kolonien in die kolonisierenden Mutterländer.
Das einzige Gebiet, das von der europäischen Kolonisation der Welt nicht erreicht wurde, war das von den Russen besetzte Eurasien. Lediglich von den östlichen und den südlichen Rändern des eurasischen Kontinentes, von China, von Indien, von Afghanistan, vom südlichen Kaukasus und vom Balkan her, berührte die europäische Kolonisation den innereurasischen Raum. China und selbst das verschlossene Japan wurden dabei von der europäischen Kolonisation noch „erschlossen“; Russland jedoch, das Herzland Eurasiens, blieb für die europäischen Kolonisten bis heute ein blinder Fleck. Nicht ohne Schaudern spricht ein Zbigniew Brzezinski daher vom „schwarzen Loch“ Russland.
Russland — der ewige Konkurrent
Was sich so über 1.000 Jahre entwickelt hat, ist eine Aufteilung der Welt in einen von Europa aus kolonisierten Globus, fortgesetzt in der Weltherrschaft der USA, bei der kein Fleckchen dieses Globus unberührt und unausgebeutet blieb — außer eben dem eurasischen Herzland, also außer Russland in seinen Entwicklungsstufen Moskowien, Russland, Sowjetunion.
Alle Versuche europäischer Kolonisatoren, sich auch diesen Raum untertan zu machen, sind gescheitert — angefangen bei den Versuchen des Deutschritterordens im 13. Jahrhundert, weiter bei denen Polen-Litauens im 16., Schwedens im 17., Napoleons im 18., Englands und Frankreichs im 19. Jahrhundert, der deutschen Wehrmacht im Ersten Weltkrieg, Hitlers im Zweiten Weltkrieg — und jetzt den USA, die sich versucht sehen, einen neuen Anlauf zu unternehmen, bisher aber vor einem damit verbundenen dritten Weltkrieg zurückscheuen.
Russland ist seit dieser Teilung der Welt in eine eurasische innere Kolonisation und eine von Europa ausgehende globale äußere Kolonisation für die Europäer bis hin zu ihren Nachfahren in den USA der unkontrollierte Raum des Globus schlechthin.
Im Unterschied zu Afrika allerdings, um die Besonderheit der eurasischen Situation deutlich zu machen, ist Russland nicht einfach die große Unbekannte, nicht einfach unerforschter Dschungel oder dergleichen, sondern die organisierte Gegenkraft, der globale Konkurrent schlechthin, eine Reizzone für europäische, englische, heute euroamerikanische Weltherrschaftsansprüche, eine Projektionsfläche für Ängste vor allem, was stark, fremd und unberechenbar ist. Problemlos haben darin auch die historischen Erfahrungen mit Hunnen, Mongolen, Ungarn, Türken und anderen „Asiaten“ sowie sämtliche anderen Feindbilder ihren Platz. Man vergegenwärtige sich nur die diversen Nazi-Karikaturen, die den „ewigen Juden“ und russischen „Untermenschen“ als bis an die Zähne bewaffneten asiatisch-mongolischen Reiter darstellten.
Andererseits hat die neuere Geschichte Tendenzen hervorgebracht, in denen sich dieses abschließende, nicht zu kontrollierende, nicht einschätzbare orthodoxe Russland, gestützt auf seine eurasische Territorialmacht, in den europäischen Geschichtsraum eingemischt und damit das Monopol der europäischen Kolonialmächte auf Beherrschung der Welt herausgefordert hat. Diese Entwicklung beginnt mit Peter I., der Russland zur modernen Militärmacht europäischen Zuschnitts ausbaute; sie setzt sich mit Katharina II. fort, die den Kaukasus unterwarf, dann mit Alexander II., der mit dem antirevolutionären Dreikaiserbündnis von 1815 tief in die westeuropäische Entwicklung einzugreifen versuchte.
Höhepunkt dieser Entwicklung wurde mit der Sowjetunion erreicht, in deren Gestalt Russland nach dem Zweiten Weltkrieg in den osteuropäischen Raum bis nach Berlin expandierte. In dieser Bewegung, in der Russlands innere Kolonisierung in eine internationale politische Bewegung überging, die am Ende die Hälfte der Welt umfasste, wurde Russland schließlich zum „Reich des Bösen“ und Opponenten der USA im „Kalten Krieg“.
In dieser Zweiteilung der Welt in eine vom Westen nicht kontrollierbare russisch-eurasische Kolonialmacht und einen europäisch-amerikanischen Anspruch auf koloniale Kontrolle der Welt liegt eine, möglicherweise die Antwort auf die Frage, warum Deutschland, die EU, Europa sich vor Russland schützen und nicht vor den USA, und das selbst da, wo die USA offensichtlich europäischen Interessen schaden, sogar Europa existenziell gefährden, wenn sie wie jetzt im Ukrainekonflikt kriegerische Auseinandersetzungen auf europäischem Boden provozieren, zumindest als Kollateralschaden ihres Versuches, Russland einzudämmen, in Kauf nehmen.
Der US-amerikanische Expansionismus ist Europas eigenes Kind, ist Geist von europäischem Geist, ist Methode von europäischer Methode, ist aus der expansiven europäischen Kultur hervorgegangen. Amerikanismus ist ins Extrem getriebener europäischer Expansionismus. Sich ihm gegenüber abzugrenzen ist gleichbedeutend damit, sich von Teilen der eigenen Geschichte und der eigenen Mentalität abzugrenzen.
Russland bleibt demgegenüber „das Andere“, bleibt der globale Konkurrent, der sich der Kontrolle durch die europäisch-amerikanische Weltmacht bis heute entzieht, dessen Motive man nicht durchschaut, dessen Kultur anderen Regeln folgt. Das geht bis in die sozialen Strukturen und bis in das Verständnis vom Sinn des Lebens. Das ist eine durch die Jahrhunderte erhaltene Gemeinschaftskultur in Russland, die durch den Sowjetismus noch einmal staatlich überhöht wurde, das ist eine individualistische Erfolgsethik der Europäer, die in den USA noch einmal ins Extrem getrieben wurde.
Zugespitzt formuliert und selbstverständlich nicht für jeden einzelnen Menschen in gleicher Weise gültig: In Russland liegt der höchste Wert in sozialer Anerkennung, in der europäischen Kultur im individuellen Erfolg, im Amerikanischen wird der individuelle Erfolg noch einmal zum geschäftlichen gesteigert, zum Geld.
Der Gegensatz zwischen diesen beiden Kulturräumen ist weder aus der Welt zu diskutieren, noch unter Bomben zu begraben. Den Europäern wird wohl nichts anderes übrig bleiben, als zu erkennen, dass mit der aktuellen Konfrontation zwischen USA und Russland eine historische Zäsur erreicht ist, in der es nicht mehr darum gehen kann, sich auf die eine oder die andere Seite zu schlagen, also entweder mit Russland zusammen einen geschlossen eurasischen Kolonialraum zu bilden oder den Versuch zu machen, den euroamerikanischen Kolonialraum auch auf das bisher noch nicht eroberte, bisher für den Westen tabu gewesene Herzland Eurasien auszudehnen.
Stattdessen könnte Europa, konkret die EU, wenigstens Deutschland, vom Zeitalter der Expansion in das der Kooperation sich miteinander organisierender souveräner Regionen übergehen.
Schluss mit der seit Jahren über mehrere Stufen — Erweiterung, Nachbarschaft, Assoziierung — betriebenen Erweiterungseskalation, hieße das. Keine neue Runde, die auch Weißrussland, Georgien, Moldawien und den Kaukasus noch zu europäischen Einflusszonen zu machen versucht — aber auch keine europäisch- oder deutsch-russische Achse.
Aus einer kühlen, analytischen Sicht ist dieser Übergang in eine offene, kooperative Organisation des eurasischen Raums unvermeidlich. Europa könnte darin eine wichtige Rolle spielen, dies aber nur dann, wenn es sich nicht nur gegen das Gespenst erneuerter russischer Expansion wendet, sondern ebenso gegen die von seinen amerikanischen Partnern heute ausgehende Versuchung, den noch nicht vom Westen kontrollierten eurasischen Herzraum doch noch westlicher Kontrolle zu unterwerfen. Viel, wenn nicht alles, wird davon abhängen, ob Europa diesen historischen Schritt in Richtung einer eigenen, selbstkritischen neuen Rolle im Weltgeschehen wagt.