Der Apartheidstaat
Rassismus hat in Israel jetzt Gesetzesrang.
Endlich ist es raus, das Nationalstaatsgesetz, und ich möchte ausnahmsweise Benjamin Netanjahu schulterklopfend bei seinem Spitznamen „Bibi“ rufen, fühle ich doch erstmals in unserem gemeinsamen Leben eine Übereinstimmung: Israel ist nicht das Land all seiner Staatsbürger, sondern der Staat seiner jüdischen Bürger.
Das war doch längst überfällig, dass das mal offiziell zu Papier gebracht wird! Jetzt haben wir es endlich juristisch zementiert und schwarz auf weiß, und zum Glück ist es nicht nur auf Hebräisch nachzulesen, der nun mehr einzigen Amtssprache des jüdischen Staates mit seinen über 20 Prozent nicht-jüdischen Bürgern, sondern auch auf Deutsch, Englisch und in allen anderen Sprachen, in denen sich alle um uns herum plötzlich echauffieren. Was mich dabei am meisten verwundert ist, dass alle sich so sehr wundern! Ja worüber wundern sie sich denn so, die Analysten und Journalisten, die Historiker, Aktivisten und Politiker?
Ach so, nein, Politiker nicht, von denen hört man plötzlich gar nichts, jedenfalls hört man nichts von bedeutenden Politikern, die immer an der Seite Israels stehen, deren Freundschaft zu Israel unverbrüchlich ist und die ihre historische Verantwortung gar so ernst nehmen. Geradezu ohrenbetäubend laut ist ihr stoisches Schweigen zu dem neuen israelischen Gesetz, über das sich die immer schon Aufrechten lautstark entrüsten.
Und doch muss ich nachfragen: Was genau ist denn auf einmal so verwunderlich? Dass endlich gesetzlich festgehalten wird, was seit Jahrzehnten in Israel Praxis ist?! Dass endlich benannt wird, was jeder längst wissen kann — nein, wissen muss, wenn sie/er sich ein bisschen intensiver mit Israels Geschichte auseinandersetzt?! Ja aber Freunde, das war doch schon alles längst bekannt!
Ganz ehrlich, ich bin richtig dankbar für die juristische Manifestation dieses staatlichen Rassismus, bedeutet sie doch, dass meine Mitstreiterinnen und ich weder seit Jahren völlig durchgeknallt sind, noch dass ich aller Welt erklären muss, wie es sich mittlerweile in meinem bedauernswerten Land mit der Demokratie und der Gerechtigkeit verhält.
Außer vielleicht den PolitikerInnen... denen muss man vielleicht doch noch was erklären, wenn sie bei der Offensichtlichkeit des staatlich sanktionierten Rassismus momentan wohl lieber den Kopf in den Sand stecken und darauf hoffen, dass der Wirbel in ein paar Wochen vergangen sein wird, so wie die viel zu heißen Sommertage. Schlechte Nachrichten, Freunde: Mag sein, dass sich die Wogen legen, aber dieser Rassismus ist so sehr Wirklichkeit geworden wie der Klimawandel. Schade eigentlich.
Es genügt, sich mit Israels jüngster Geschichte zu befassen, sagen wir mal, was so die letzten zehn Jahre los war: Zunahme rassistischer Gesetze, deutlich mehr Landnahme durch ausschließlich jüdische Siedlungen, mehr Druck, Behinderung, Militärgewalt, Einschränkungen, Festnahmen, Ressourcenraub, Willkür und gezielte Tötungen der palästinensischen Bevölkerung.
Ach ja, aber das war ja „nur“ in den Besetzten Gebieten so, oder zumindest hat man darüber ab und zu mal was gehört. Innerhalb Israels ging es der palästinensischen Bevölkerung und allen anderen Nicht-Juden vergleichsweise gut. Das bisschen Rassismus, die paar Dutzend Gesetze und Verordnungen, die sie nicht ganz so gleich machten wie die anderen gleichen Israelis, das könnte man fast schon vernachlässigen angesichts der Grausamkeiten, die die Menschen 3. Klasse aus Ost-Jerusalem erleiden müssen, also die mit ihrem ständig gefährdeten Aufenthaltsrecht, oder die 4. Klasse unter Besatzung mit allen oben beschriebenen Schikanen, oder gar die Leute 5. Klasse in Gaza, denen man die Menschlichkeit eigentlich schon abgesprochen hat.
Aber nein, lasst uns ehrlich sein: Israel war immer schon dafür gedacht, ausschließlich für Juden da zu sein.
Da muss man nur Tom Segev lesen, einen der vielen sogenannten „Neuen Historiker“, die nach Öffnung der israelischen Archive eine vollkommen neue, den Gründungsmythen widersprechende Geschichtsschreibung begannen und mit Entsetzen feststellen, dass schon „Die ersten Israelis“, wie Segev sein Standardwerk von 1986 betitelt, nichts anderes vor hatten, als das ganze Land vom Mittelmeer bis zum Jordan jüdisch zu bevölkern.
Allen voran hatte Ben Gurion nachweislich nichts anderes im Sinn, als die arabische Bevölkerung los zu werden – dafür wird er heute noch in Israel als bedeutendster Staatsmann hoch geehrt (in Deutschland übrigens auch; im Berliner Regierungsviertel hat man eine Straße nach ihm benannt). Damals schon nahmen israelische zivile und militärische Führungskräfte – Ben Gurion allen voran und mit von eigenen Leuten bescheinigter mangelnder Empathie – jede Form von Vertreibung billigend in Kauf, um sich Dörfer, Ländereien und nicht zuletzt das gesamte Vermögen der Vertriebenen anzueignen (1).
In seinem jüngsten Artikel in Haaretz vom 27. Juli 2018 wundert sich auch Shlomo Sand, deutsche Übersetzung hier, ein weiterer „New Historian“, über die Empörung, die das jüngst verabschiedete Nationalstaatsgesetz allseits hervorruft.
„Fragen sich die Leute, die heute gegen das Gesetz protestieren, eigentlich nicht, wie das Zionistische Projekt ohne ethnozentrierte Politik überhaupt hätte entstehen können, die man gemeinhin als rassistisch bezeichnet?“
Er geht dabei auf ganze hundert Jahre zurück, als man noch lange vor der Staatsgründung rein jüdische Kibuzzim (landwirtschaftliche Genossenschaften), rein jüdische Moshavim (Niederlassungen, Dörfer) und irgendwann auch nur noch rein jüdische Arbeiter erlaubte.
Nun ja, wird manch einer jetzt argumentieren, das waren andere Zeiten, da wurden Juden aus Europa vertrieben, es dämmerte schon der Nationalsozialismus – und überhaupt hatten damals alle die Idee von einem Nationalstaat. Hätte das den Juden etwa nicht zugestanden werden sollen?
Wie dumm nur, dass da schon andere waren, zahlenmäßig sogar viel, viel mehr, die dieses Land schon längst begrünt hatten, schon längst Orangenhaine bewirtschafteten, noch lange bevor die süßen Früchte „Jaffa“ hießen, in hunderten von Dörfern und in Städten wie Hebron oder Jerusalem friedlich mit ihren jüdischen Nachbarn lebten.
Diese waren allerdings jüdische Araber, die arabisch sprachen, sich arabisch kleideten, arabisch kochten und entweder schon seit Generationen dort lebten oder irgendwann im 19. Jahrhundert – wie die Familie meiner Mutter – dorthin aus arabischen Ländern eingewandert waren. Auch sie wurden bald schon von den besseren, den europäischen Juden diskriminiert. Aber das ist eine andere Geschichte.
Zurück zu Shlomo Sand: Er erinnert daran, dass alle Bemühungen um „jüdisches Land“ bis 1948 relativ wenig brachten, gerade mal 10 Prozent der Landfläche. Doch dann kam der 1947 bis 49er Krieg, in Israel als „Unabhängigkeitskrieg“ bezeichnet, für die Palästinenser die „Nakba“ (Katastrophe), der die für Juden glückliche Wende brachte: 750.000 PalästinenserInnen wurden vertrieben, Hunderte getötet, über 430 Dörfer geschliffen.
Schnell wurde das „Gesetz für Eigentum Abwesender“ geschaffen, das heute noch in Kraft ist – und das natürlich nicht für abwesende Juden gilt. Wer aber als Araber sein Eigentum verlassen hat („verlassen“ – was für ein Euphemismus!), der hat nie wieder Anspruch darauf. Mit Gewalt wurden Rückkehrer in den ersten Jahren zurückgetrieben, und wenn man sie nicht erwischte, wurden sie als Infiltranten bezeichnet und verfolgt.
Der Jüdische Nationalfonds (JNF), der anfangs Land für Juden kaufte, besaß zu Beginn des Krieges rund 90.000 Hektar; 1950 hatte er sich bereits 350.000 Hektar einverleibt, das nach seinen Statuten nur an Juden weitergegeben werden durfte, was auch so bleib, als der Staat Israel das Land des JNF übernahm.
Warum nur will mir dazu kein besseres Wort als „Rassismus“ einfallen?! Ha! Ich weiß es! Weil ich ja dann sofort selbst als Rassistin bezeichnet werde, und zwar als eine der schlimmsten Sorte: Als Antisemitin!
Als selbsthassende Jüdin, weil ich die Dinge, die in meinem Land so grauenhaft schief gelaufen sind, immer wieder benennen muss, bis man mir endlich zuhört und glaubt. Auch hier muss ich meinen Widersachern wieder auf die Schultern klopfen und zugestehen: Die machen es schon gut, Chapeau!
Da gibt es Leute, die nennen sich zum Beispiel „Feliks“, und die schaffen es, dass bei Wikipedia jeder die „richtigen“ Informationen bekommt, der sich mal so ganz neutral über mich erkundigen will. Als wir uns dran machten, die fehlenden Informationen zu ergänzen und die falschen zu korrigieren, da war der Artikel binnen kürzester Zeit wieder geändert, und wir waren – schwups – als Kommentatoren für Wikipedia gesperrt. Gut gemacht, Feliks!
Kann das Zufall sein? Mitnichten. In ihrer Internet-TV-Serie „Geschichten aus Wikihausen“ beschäftigen sich Dirk Pohlmann und Markus Fiedler mit „Feliks“ und zeigen auf, wie gezielt Israel-kritische Menschen diskreditiert und durch teils perfide kleine Äußerungen des Antisemitismus bezichtigt werden. An dieser Stelle ist mir nicht mehr nach witzeln zumute. Bis vor wenigen Jahren war ich mit der Aufarbeitung meiner persönlichen Holocaust-Vergangenheit beschäftigt, mit einem im KZ ermordeten Großvater und einem überlebenden Vater, der es vorzog zu schweigen. Aber auch das ist eine andere Geschichte.
Noch einmal zu Shlomo Sand: Er konstatiert, dass trotz aller Bemühungen, den Norden Israels, also Galiläa, zu „judaisieren“, die dort lebende arabische Bevölkerung nach wie vor die Mehrheit stellt und sich das auch nicht so bald ändern wird. Es ist nicht undenkbar, dass die sich irgendwann abspalten will, wenn Israel ganz offiziell der Staat für seine Juden und nicht für seine Einwohner wird. „Wird sich die Bevölkerung dort mit den Brosamen zufrieden geben, die ihnen hingeworfen werden, um sie ruhig zu stellen?“, fragt Sand. Es ist zu bezweifeln.
Er endet in seinem Artikel mit der Vorstellung eines erneuten, eigentlich nicht auszudenkenden Krieges. Ich weigere mich, bei diesem Gedanken mitzugehen. Nein, ein weiterer, ein noch viel schlimmerer Krieg darf nicht sein. Vielleicht ist es doch ein gutes Zeichen, dass sich gerade 40 ehemalige israelische Botschafter zu Wort gemeldet haben und sich solidarisch mit ihren christlichen, muslimischen und drusischen Kollegen zeigen. Dass sie wie Daniel Barenboim öffentlich sagen, dass sie sich schämen für den staatlich sanktionierten Rassismus.
Ganz anders die israelische Kultusministerin Miri Regev: In einem Haaretz-Interview wird sie gefragt, warum es im neuen Nationalgesetz im Gegensatz zu der Unabhängigkeitserklärung von 1948 das Wort „Gleichheit“ nicht mehr gebe. Ihre Antwort lautet:
„Es gibt nationale Rechte nur für eine Nation und das ist die jüdische Nation. Schließlich ist dieses Land ein jüdisches Land und wir müssen uns deswegen nicht schämen.“
Danke auch Dir, Miri Regev, dass Du es mir so leicht machst! Danke, dass ich jetzt Originalzitate verwenden darf, um deutlich zu machen, warum es gute Gründe gibt, sich heutzutage für unser Land zu schämen. Wann endlich darf ich mich bei meinen deutschen Politikern bedanken, wenn sie endlich begreifen, dass man israelische Politik zur Räson bringen darf, ja muss, wenn man sich wirklich als Freunde versteht? Oder wird demnächst staatlich sanktionierter Rassismus in den Kanon der viel beschworenen „westlichen Wertegemeinschaft“ aufgenommen?
Noch ist Zeit, aber nicht mehr viel. Das Kriegsgerassel ist unüberhörbar, die Kriegsrhetorik unmissverständlich – wenn man verstehen will. Ich hoffe, ich kann mich bald bei denen bedanken, die da nicht mehr mitmachen wollen.
Quellen und Anmerkungen:
(1) Tom Segev: Die ersten Israelis, Pantheon Verlag 2010