Der allgegenwärtige Antisemit
Im Nahostkonflikt wird überall gefordert, wir sollten uns klar auf eine Seite schlagen. Wer sich differenzierter äußert, gerät schnell in den Verdacht, alle Juden zu hassen.
Das neue Kapitel des Nahostkonflikts trifft auf eine deutsche Gesellschaft, die sich in einem Zustand der erschöpften Hypersensibilität befindet. In den aktuellen Zeiten der gesellschaftlichen Spaltung tolerieren die meisten weder eine geteilte Solidarität noch eine Allparteilichkeit in Bezug auf Israelis und Palästinenser. Man muss sich entscheiden, selbstverständlich für die Guten. Meinungen, die von der offiziellen politischen Sprachregelung abweichen, gelten als verpönt. Zum Zweck der Meinungssteuerung wird bewusst stimulierte Empörung als politische Waffe eingesetzt. Allerdings macht diese Zweckentfremdung das ursprüngliche Anliegen nicht glaubwürdiger. Der Antisemitismus-Vorwurf bleibt dabei nicht aus.
Vermisste Solidarität der Künstler
Angesichts der Gräueltaten der Islamischen Widerstandsbewegung, der Hamas, an der israelischen Zivilbevölkerung am 7. Oktober 2023 äußerte der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, in der Wochenzeitung Jüdische Allgemeine (1) seinen Unmut über das Schweigen des deutschen Kultursektors. Er interpretierte das Fehlen einer demonstrativen Parteinahme für Israel seitens der Kulturinstitutionen als einen Mangel an Solidarität. Noch entsetzter zeigte sich Schuster in der Tagesschau (2), als er sich über die Solidarität mit dem palästinensischen Volk in Gaza empörte, die Greta Thunberg und ihre internationale Organisation Fridays for Future am 20. Oktober über soziale Medien bekundeten. Er empfand diese Aktion als eine Art Verbreitung „puren Antisemitismus“ und verlangte eine öffentliche Distanzierung der deutschen Zweigstelle von Fridays for Future, für die er konkrete Vorschläge parat hatte.
Israel hat das Recht, sich zu verteidigen, keine Frage. Die andere Frage, die sich aufdrängt, ist jedoch die: An welchem Punkt geht die israelische Verteidigungsantwort in ein ausuferndes, zügelloses Menschenverbrechen über? In der muslimischen Welt, wie etwa in der Türkei, wird bereits von einem Genozid an der palästinensischen Bevölkerung berichtet, so der Nahost-Experte Daniel Gerlach (3).
Böse Terroristen, gute Terroristen
Es ist bekannt, dass das, was die Politik als „Terror“ oder „terroristisch“ bezeichnet, nicht aufgrund der menschenverachtenden Gräueltaten und deren Auswirkungen allein definiert wird. Das, was Politik und Medien einen Terroristen oder eine terroristische Organisation nennen, ist in Wirklichkeit ein „böser“ Terrorist beziehungsweise eine „böse“ Terror-Organisation. Denn ähnliche oder sogar noch schlimmere Gräueltaten werden auch von Menschen und Organisationen verübt, die offenbar meinen, sie hätten das Recht, unmenschlich zu handeln. Diese sind aber die „guten“ Terroristen.
Im Vordergrund stehen also nicht die Taten selbst, sondern ihre Rechtfertigung. Die terroristischen Handlungen der „guten“ Terroristen werden insofern akzeptiert, als sie über eine tragende Rechtfertigung verfügen. In der internationalen Politik wird dies weniger durch die sachliche Berücksichtigung von Fakten als durch den Meinungsbildungsapparat erreicht. Denn sie, die „guten“ Terroristen, haben sozusagen die Legitimation der herrschenden internationalen Gemeinschaft. Aus dieser Dynamik heraus wurde die Islamische Widerstandsbewegung, die Hamas, im September 1989, rund 21 Monate nach ihrer Gründung, von Israel für illegal erklärt.
Darum geht es hauptsächlich im Appell von beispielsweise dem Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland.
Es geht nicht so sehr um die Solidarität an sich, so will mir scheinen — denn die hat ja die israelische Bevölkerung ohnehin, und zwar unisono! —, sondern um die Legitimation Israels als „die Guten“ im aktuell dualistischen Narrativ der neuen israelisch-palästinensischen militärischen Auseinandersetzung.
Denn, wie David Richard Precht in seinem Podcast richtig sagte (4), kann es wohl in erster Linie darum gehen, einen Freibrief dafür zu erhalten, weit über die eigentliche Verteidigung hinauszugehen und das aus dem 18. vorchristlichen Jahrhundert stammende primitive Talionsprinzip wüst durchzusetzen: Auge um Auge.
Precht wurde vorgeworfen, er habe für die Kommentierung dieses Themenspektrums keine Expertise und wärme dadurch nur „uralte antisemitische Verschwörungstheorien“ auf (5). Seine Aussagen aber bedürfen keiner Zertifizierung, sondern allein des mündigen und mutigen Gebrauchs vom eigenen Verstand. Es scheint ein Mythos der spätmodernen Gegenaufklärung zu bestehen, der besagt, dass nur Experten und Fachleute ihre Meinung äußern dürfen. Auch hier zeigt sich die Fremdsteuerung von Meinungen wohl glücklicherweise einmal mehr als fehlgeschlagen.
Wahrer Antisemitismus
In der veröffentlichten Presse scheint eine Verwirrung viel zu oft vorzukommen. Zurzeit wird die Differenz zwischen Juden und Israelis, zwischen der Regierung Israels und den Bürgerinnen und Bürgern Israels, sei es aus Unvorsichtigkeit oder mit Absicht, flächendeckend nicht beachtet. Stattdessen setzen sich grobe Pauschalisierungen durch, die zu unnötigen Animositäten führen. Es will mir scheinen, dass es einen großen Aufklärungsbedarf gibt, insbesondere bei den Interessenvertretern der Juden und der jüdischen Bevölkerung außerhalb Israels.
Kritik an Israel bedeutet nicht, zumindest nicht zwingend, dass man eine feindliche Haltung gegenüber jüdischen Menschen einnimmt, geschweige denn sie hasst.
Als ich mich in der Vergangenheit gegen Trumps Regierung aussprach, war ich genauso wenig antiamerikanisch wie ich heute antideutsch bin, wenn ich Scholz’ Administration kritisiere. Aus demselben Grund ist kein Mensch automatisch ein Antisemit, wenn dieser Kritik an Israels Politik ausübt, solange sie nicht identitär-rassistisch motiviert ist.
Was versteht man eigentlich unter Antisemitismus? Antisemitismus, wie ich ihn verstehe, ist nichts anderes als die Diskriminierung und Benachteiligung von jüdischen Menschen aufgrund ihrer ethnischen Herkunft oder ihrer religiös geprägten kollektiven Identität. Mit anderen Worten, Antisemitismus ist eine eindeutige Form von identitärem Rassismus, die sich spezifisch gegen Juden richtet. Solange eine Kritik an Israels Regierung und Politik nicht identitär-rassistisch motiviert ist, ist sie in einer Demokratie mit Meinungsäußerungsfreiheit nicht nur zulässig, sondern ausgesprochen wünschenswert.
Falscher Antisemitismus
Es gibt aber ein „neues“ Verständnis von „Antisemitismus“, das Israel-Befürworter seit den 1970er Jahren prägen und propagieren. Die Funktion dieses falschen Antisemitismus besteht darin, jegliche Kritik an Israel im Keim zu ersticken, indem die Ausübung von Kritik an der israelischen Politik und den israelischen Handlungen in einer unsachlichen und unbegründeten Weise direkt mit Judenhass gleichgesetzt wird. Praktisch funktioniert es wie ein Denkverbot. Gerade deshalb ist das Buch "Antisemitismus als politische Waffe" (6) des jüdisch-amerikanischen Politikwissenschaftlers Norman G. Finkelstein heute aktueller denn je. Dort zeigt Finkelstein argumentativ und evidenzbasiert, wie Israel-Befürworter und Interessenvertreter der Juden den Antisemitismus-Vorwurf und die jüdische Geschichte selbst missbrauchen. Ein Déjà-vu- und ein Aha-Leseerlebnis zugleich!
Der Verdacht auf eine unverlogene Menschlichkeit
Vor lautem Missbrauch des Antisemitismus-Vorwurfs über so einen langen Zeitraum wird er je nach Kontext allmählich neu besetzt. Und zwar paradoxerweise positiv! Wenn der Kontext sich eindeutig als nicht identitär-rassistisch erweist, deutet inzwischen der Antisemitismus-Vorwurf vor allem im nahöstlichen Zusammenhang höchstwahrscheinlich auf einen kritischen, mutigen und oft unverlogenen Geist hin, der nach Wahrheit und Gerechtigkeit trachtet und die Würde des Menschen sowie die Menschenrechte heilighält. Es nimmt daher nicht Wunder, dass viele Menschen als „antisemitisch“ bezeichnet werden — wie das jüngst in den Medien bei Precht der Fall war —, die nicht nur die von der Hamas in der Gegenwart wie in der Vergangenheit begangenen Gräueltaten an der israelischen Bevölkerung zur Kenntnis nehmen und entsprechend kritisieren, sondern auch die von den israelischen Siedlern, der israelischen Armee und Polizei sowie der Regierung Israels im Allgemeinen an dem palästinensischen Volk immer wieder über mehr als sieben Jahrzehnte verübten Massaker, Enteignungen, Dorf- und Häuserplünderungen sowie die Entrechtung der Palästinenser.
Dieses Phänomen ist aber trotzdem nicht unbedingt schlecht. Denn es bedeutet, dass die Gerügten in diesem Zusammenhang sowohl Palästinenser als auch Israelis vorurteilsfrei als das sehen, was sie sind: vollwertige Menschen. Menschen, deren Würde als unantastbar gelten muss und deren Grundrechte unabhängig von ihrer ethnischen beziehungsweise kulturellen Zugehörigkeit, ihrer religiösen oder politischen Überzeugungen geachtet werden müssen.
Wenn es antisemitisch ist, das Leid und den Schmerz nicht nur der Israelis, sondern auch der Palästinenserinnen und Palästinenser nicht zu ignorieren und mit aufrichtigem Mitgefühl wahrzunehmen, dann sollte ich Antisemit genannt werden.
Wenn es antisemitisch ist, nicht nur gegen das terroristische Verbrechen am 7. Oktober an der israelischen Bevölkerung zu protestieren, sondern auch gegen das wahllose Blutbad der israelischen Armee an der Zivilbevölkerung in Gaza, dann sollte ich Antisemit genannt werden. Denn wenn diese manipulative Stigmatisierung so willkürlich praktiziert wird, dann kann „Antisemit“ beziehungsweise „antisemitisch“ in diesem Sinne nur eines bedeuten: nämlich menschlich zu sein und Ehrfurcht vor jedem Menschenleben zu haben. Dieser falsche Antisemitismus ist folglich gleichbedeutend mit couragierter und wahrhaftiger Humanität.