Der Abschied
Das Erleben des Verbundenseins nimmt uns die Angst und macht Mut, uns erneut zu erheben und aufrecht weiterzugehen.
„Alleine können wir so wenig tun; zusammen können wir so viel machen.“ Die taubblinde US-amerikanische Schriftstellerin und Bürgerrechtlerin Helen Keller wusste, dass wir nur in Gemeinschaft etwas erreichen können. Alleine und isoliert sind unsere Möglichkeiten begrenzt. Wenn wir uns aber zusammenschließen, wird das schlimmste Unglück erträglich und die größte Gefahr zu einer Gelegenheit, sie zu überwinden.
Anfang des Jahres, nach langer Krankheit, verstarb mein Lebenspartner. Ich habe ihn bis zum Schluss zu Hause begleitet. Nachdem ich mich dieser Aufgabe zunächst nicht gewachsen fühlte, war ich dankbar dafür, die letzten Wochen und Monate so intensiv an seiner Seite sein zu können. Es hat mich tief bewegt, dabei zu sein, wenn ein Leben erlischt. Der Körper wird unbeweglich, nach und nach versagen die Organe ihren Dienst. Wir können nicht mehr essen, nicht mehr trinken, nicht mehr sprechen und letztendlich nicht mehr atmen.
Ich habe es gespürt, als der Moment kam, in dem es vorbeigeht. So oft hatte ich ihn in meiner Vorstellung durchlebt. Bin ich bereit? Ist er bereit? Eine Freundin ist mit dabei, und die Katze. Ich folge jedem seiner Atemzüge. Welcher wird der letzte sein? Immer grösser sind die Pausen. Dann ist es vorbei. Das Herz steht still. Das Herz, das exakt am 22. Tag der embryonalen Existenz beginnt zu schlagen und das ebenso unvermittelt wieder aufhört, so, als sei die Anzahl der Herztöne in einem Leben gezählt.
Ausgeflogen
Es ist später Vormittag. Ich informiere die Geschwister, Nachbarn, Freunde und bin damit beschäftigt, einen Arzt zu finden, der den Totenschein ausstellt. Als er endlich kommt, ist das Haus voller Menschen. Jemand hat Kaffee gekocht. Essen steht auf dem Tisch. Er liegt im Nebenraum. Still. Schön. In Frieden. Ich habe Kerzen angezündet.
Manche bringen Dinge, eine Muschel, einen Zweig, eine Feder, die Blume des Lebens. Wie ein zarter Vogel liegt er zwischen den Kissen, unter der dicken Decke aus Schafsfell, die ihn die letzten Monate gewärmt hat. Jetzt ist die Seele ausgeflogen. Der Vogel hat das Nest verlassen.
Doch er soll wissen, dass er hier sein Zuhause hat. Die Seele soll sich nicht erschrecken. Ich will wachen am ersten Abend, in der ersten Nacht, zusammen mit denen, die ihm nahestehen. Ein Wogen zieht durch das Haus, eine Welle von Freundschaft und Liebe. Kein Schrecken ist da, keine Verzweiflung, keine Angst. Jemand hat diese Welt aus Raum und Zeit verlassen. Es war seine Stunde. Wer könnte sich dem widersetzen? Wer wollte den Tod aus der Familie des Lebens ausschließen, das Tor, durch das alles treten muss, was neu geboren werden will?
Am nächsten Morgen begleite ich seinen Körper aus dem Haus. Als er an seinem Atelier vorbeigetragen wird, ist es wie ein letzter Gruß, ein letztes Verbeugen vor der Arbeit eines Lebens, das dem Metall gewidmet war, der harten Materie. Dann ist er fort. Es gibt so viel zu tun! Das Grab, die Skulptur, die es bewacht, die Zeremonie in der kleinen Kirche gegenüber, die Musik, die Worte, die Blumen. Keine Hymnen und kein Priester, stattdessen Brassens und Gainsbourg. Kein Heiliger wird zu Grabe getragen, sondern ein Mensch mit seinen Stärken und seinen Schwächen.
Viele sind gekommen, ihm das letzte Geleit zu geben. Der Trauerzug zum Dorffriedhof ist lang. Die Javanaise begleitet den Sarg in die Tiefe, Olivenzweige und Erde folgen ihm, Erde, von der er sich wünschte, dass sie ihn einst tröstlich empfängt. Mutter Erde. Sie wird sich seines Körpers annehmen, wird ihn umhüllen und ihn schließlich verwandeln in einen Stoff, aus dem neues Leben entstehen wird. Auch in der materiellen Welt geht nichts verloren. Alles verändert sich.
Im Haus wartet die Stärkung. Es wird nicht lange dauern, bis die ersten Weinflaschen geöffnet und die ersten Lieder gesungen werden. Trauer und Freude, Licht und Schatten – sie liegen so nah beieinander. Dort, wo wir Hochzeit gefeiert hatten, umarmen sich Anfang und Ende. Der Kreis schließt sich. Das Gegensätzliche ergänzt sich und verbindet sich zu einem Ganzen. So ist auch dieses Fest eine Art der Vermählung, bei der wir lernen können, auf neue Art miteinander zu kommunizieren.
Es ist, was es ist
In der französischen Sprache „macht“ man seine Trauer: faire son deuil. Sie geschieht nicht von allein. Die Zeit heilt nicht alle Wunden. Wir sind es, die dafür Sorge zu tragen haben. Die Traurigkeit will durchlebt werden. Sie will nicht weggestoßen werden, sondern in das Leben integriert, will erhört werden, gesehen, erfahren. Sie will ihren Geschmack offenbaren, will gekostet werden wie eine Frucht, die es neu zu entdecken und zu verdauen gilt, bis sie sich schließlich auflöst.
Ich will mich meiner Trauer stellen. Ich nicht vor ihr fliehen. Ich werde Leere empfinden, Bedauern, Leid. Ich werde mich in der Dunkelheit fürchten und Mangel erleben, werde mich allein fühlen, nicht dazugehörig, wenn die Welt um mich herum nur aus Paaren zu bestehen scheint. Doch es wird vorbeigehen. Der Tunnel wird einmal durchquert sein, wenn ich mich nicht gegen die Erfahrung wehre und mich nicht an ihr festhalte.
Es ist, was es ist. So spricht die Liebe. Sie fragt nicht nach dem Warum. Die Liebe gibt sich hin. Sie klammert nicht. Sie lässt die Seele aufsteigen und hält sie nicht mit ihrer Trauer zurück. Die Liebe ist offen. Sie will nichts besitzen und alles geben. Liebe ist nicht exklusiv. Sie schließt alles mit ein. Der Tod ist kein Hindernis für sie. Die Liebe lässt den geliebten Menschen gehen, denn sie weiß, dass sie unsterblich ist und dass nichts sie zertrennen kann.
Die Trennung ist eine Illusion. Die Verbindung ist Realität. Sie ist die Wirklichkeit eines Universums, in dem alles miteinander verbunden ist. Wer sich dieser Offensichtlichkeit nicht verschließt, kann die Trauer als Erfahrung annehmen, denn er bewegt sich auf dem Urgrund des Lebendigen. Er fühlt sich eins mit der Energie, aus der heraus alles entsteht, und er weiß, dass das materielle Leben nur die Spitze eines Eisbergs ist, ein winziger Teil dessen, was existiert.
Im Fluss
In der Zeit danach kommt mancher Vogel wundersam nah an mich heran. Ich kommuniziere mit allem, was meinen Weg kreuzt: Tiere, Pflanzen, Wolken. Wer das tut, ist niemals allein. Guten Morgen, meine Schöne. Gut, dass du da bist. Die Dankbarkeit umhüllt mich wie ein weiches, wärmendes Gewand: Danke für die Zeit mit diesem Menschen. Danke, den Weg bis zum Schluss gegangen zu sein. Danke für die Aufmerksamkeit und die Liebe, die ich bekommen habe. Danke für die, die jetzt da sind und an meiner Seite stehen.
Die Menschen um mich herum tun mir gut. Wie Balsam sind die alten Geschichten, die gemeinsamen Erinnerungen. Ich tauche ein in sein Universum, in dem er Metall mit der gleichen Leichtigkeit in Form gebracht hat wie andere einen Kuchenteig. Ich schlucke Staub, reiße mir die Hände auf und verfluche ihn dafür, seine Ateliers nicht selbst geordnet zu haben. Der Tod macht ihn nicht makelloser und unser gemeinsames Leben nicht zu einem Ideal.
Im Grunde wurde mir nichts genommen. Die Form ist nicht mehr sichtbar, doch der Inhalt ergießt sich über mein ganzes Leben. Ja: Der Verlust ist da. Wo er stand, ist Leere. Seine Abwesenheit ist durch nichts zu ersetzen, wie jedes Lebewesen war er einzigartig. Doch der Mangel soll nicht im Zentrum stehen. Ich entscheide es so. Ich habe die Wahl, von welchem Standpunkt aus ich auf die Dinge schaue und was ich fokussiere.
Ich sehe die Fülle. Das Leben nimmt nicht, das Leben gibt. Um es zu erkennen, reicht es, in die Natur hinauszugehen. Hier regiert nicht der Mangel, hier spricht alles die Sprache einer üppigen Großzügigkeit, die die Blätter an einem Baum und die Blumen auf der Wiese nicht zählt.
Ich spüre die Sonne auf meiner Haut. Es geht auf den Frühling zu. So lasse ich mich an die Hand nehmen von dem Leben um mich herum. Ich weiß nicht, welche Häfen ich ansteuern werde. Entscheidend ist, im Fluss zu sein.
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