Demos in der Einkaufsstraße
Im gut betuchten Berliner Bezirk Steglitz-Zehlendorf demonstrieren seit drei Jahren Menschen öffentlichkeitswirksam auf einer Einkaufsstraße.
Sicher werden sich einige fragen: Wo sind eigentlich die Bürgerinnen und Bürger, die in dieser Zeit für den Frieden einstehen und das auch öffentlich zeigen? Für den Standort Berlin ist diese Frage leicht zu beantworten. Denn dort führen Demonstranten seit drei Jahren, jeden Dienstag, eine Schilderaktion auf dem Mittelstreifen der stark frequentierten Schloßstraße durch. Ein Bericht vom 9. Juli 2024.
Wenn Berlin für eines bekannt ist, dann ist es das Nachtleben. Wer diesen Vergnügungen nachgehen will, der landet früher oder später im Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg. Fast schon zentral gelegen, befinden sich in diesem Bezirk unzählige Clubs und Bars.
Wen es dagegen in den Südwesten der Stadt, in den beschaulichen Bezirk Steglitz-Zehlendorf zieht, der hat andere Präferenzen. Sei es nun ein Besuch auf der Pfaueninsel, im Botanischen Garten, ein Spaziergang durch den Grunewald — nicht allzu weit entfernt hat Rudi Dutschke seine letzte Ruhestätte gefunden — oder ein Studium an der Freien Universität Berlin: Im naturreichen Steglitz-Zehlendorf ist es generell etwas ruhiger. Ein Besucher würde diesen Bezirk wohl nicht sofort mit regelmäßigen Demonstrationen in Verbindung bringen.
Eine Demo in der Einkaufsstraße
Wer nun aber, sei es als Besucher, Student oder Bewohner dieses Bezirks, in den letzten drei Jahren an einem Dienstagnachmittag in der Schloßstraße unterwegs war, der sah wahrscheinlich auch die Schilderaktion einiger Demonstranten. Die Schloßstraße im Ortsteil Steglitz ist eine der bekanntesten Einkaufsstraßen in Berlin. Auf 1.700 Metern stehen gleich vier Einkaufszentren. Zwischen ihnen und auf beiden Seiten der Straße liegen noch unzählige Geschäfte. Auf einem Abschnitt von circa 60 Metern stehen nun mehrere Personen 90 Minuten lang und halten den zahlreichen Fußgängern und Autofahrern ihre Schilder entgegen. Seit drei Jahren. Jeden Dienstag.
Angefangen hat das Ganze allerdings mit Demonstrationen gegen die Coronamaßnahmen. Mit weniger Schildern, aber dafür mehr Verkleidungen.
In einen weißen Schutzanzug gehüllt, wie er oft für Malerarbeiten verwendet wird, einer ebenfalls weißen, ausdruckslosen Maske auf Mund und Nase, einem kleinen Schild um den Hals und einer eindringlichen Akustik aus den Lautsprechern, gingen die Demonstranten langsam in Reih und Glied die Straße entlang. So fing das 2020 an. Einige derjenigen, die heute auf der Schloßstraße stehen, beteiligten sich schon bei den eben beschriebenen Aktionen. Diese Aktivitäten werden als „Schwarze Wahrheiten“, manchmal auch als „Weiße Wahrheiten“ bezeichnet. Bei diesen Aktionen handelt es sich um ein Kunstprojekt, das von mehreren Gruppen in Berlin durchgeführt wurde. Die ursprüngliche Idee kam aus der Schweiz. Die Demonstranten, die heute auf der Schloßstraße stehen, bildeten einen Teil
dieser vielfachen Aktionen, haben aber nicht alle Kunstprojekte in Berlin selbst durchgeführt.
Das Kostüm, der langsame Schritt, die bedrohliche Musik und die gemeinsam gesprochenen und auch eingespielten Aussagen wie „Wir sind gehorsam.“ und „Tragt die Maske.“ wirkten laut einem Demonstranten „zombiehaft“. Das stand für die Folgen der Coronamaßnahmen, für die Entfremdung der Menschen, für ihre Entwürdigung.
So gekleidet gingen sie als Teilnehmer der „Schwarzen Wahrheit“ zum Beispiel durch die Altstadt in Spandau und die Wilmersdorfer Straße in Charlottenburg entlang. Außerdem liefen sie in der Akazienstraße in Schöneberg, in der bereits erwähnten Schloßstraße in Steglitz und in der Bergmannstraße in Kreuzberg. Ob der jeweilige Kanalinhaber der verlinkten Videos auch an den Demonstrationen teilnahm, ist nicht bekannt.
Ein Demonstrant erzählte, dass sie in Kreuzberg „keine 50 Meter weit gekommen sind“, denn Gegendemonstranten versperrten ihnen den Weg. Er erzählte außerdem, dass die Polizei die Teilnehmer der „Schwarzen Wahrheit“ anfangs dazu aufforderte, unter den Masken zusätzlich eine FFP2-Maske zu tragen. Die Demonstranten lehnten das ab.
Zwischen Autos und Fußgängern
Es ist Februar 2021, die Demonstranten ändern ihr Vorgehen. Sie legen die Verkleidung ab, dafür tragen sie größere Schilder. Und anstatt zu laufen, verbleiben sie nun länger an einem Ort. Ihre Schilderaktion ist bis heute wöchentlich auf zwei stark frequentierten Straßen zu sehen: auf dem Tempelhofer Damm im Bezirk Tempelhof-Schöneberg und der bereits erwähnten Schloßstraße in Steglitz-Zehlendorf.
Am 9. Juli 2024, es ist ein warmer Sommertag, haben sich um 17 Uhr 11 Demonstranten für die Schilderaktion auf der Einkaufsstraße zusammengefunden. Zwei stehen mit ihren Schildern auf der einen Seite der Schloßstraße zwischen einem Schuhgeschäft und einem Dönerstand. Hinter ihnen ein Polizeiwagen, die Polizisten haben sich verteilt. Die restlichen 9 Mitstreiter haben sich mit ihren Schildern auf den Mittelstreifen der Straße gestellt. Aus einem Lautsprecher erklingen Aussagen von Politikern wie Angela Merkel (CDU), Olaf Scholz (SPD), Christian Lindner (FDP), Friedrich Merz (CDU), Jens Spahn (CDU), Karl Lauterbach (SPD) und weiteren Personen wie dem Arzt und Kritiker der Coronamaßnahmen Gunter Frank.
Das Thema Corona ist immer noch präsent. Doch während die „Schwarze Wahrheit“ für ein Ende der Maßnahmen stand, steht nun in der Schilderaktion die Aufarbeitung der Coronajahre im Vordergrund. Neu hinzu kam der Krieg in der Ukraine, somit auch die Aufrüstung, die NATO und der Ruf nach Frieden.
Die Demonstranten sprechen sich außerdem gegen Überwachungsmaßnahmen und für den Erhalt des Bargelds aus. Weitere Themen sind die Inflation, die EU, von der Leyens Impfstoffdeal mit den Pfizer-SMS, der Pandemievertrag der WHO, die Innenpolitik der Innenministerin Nancy Faeser bezüglich der Delegitimierung des Staates und die Maßnahmen der Klimapolitik. Eine Demonstrantin erzählte, dass sie und ihre Mitstreiter zu Beginn ihrer Schilderaktion auf dem Mittelstreifen der Schloßstraße eine FFP2-Masken tragen mussten, während die Fußgänger auf den Gehwegen darauf verzichten konnten.
Einer der Demonstranten ist 80 Jahre alt, er hat mittlerweile über 300 Schilder gebastelt. Und weil er schon 1968 gegen die Notstandsgesetze in Bonn demonstriert hat, zieht er eine Bilanz. Er betont, dass seine Kommilitonen von damals alle „Karriere gemacht haben, weil sie angepasst waren“. Außerdem sagte er: „Was damals ablief, war schwächer, im Gegensatz zu dem, was heute abgeht. Die Unterdrückung ist heute subtiler.“
Die Zustimmung wächst
Auf die Frage, wie ihre Schilderaktion von den Vorbeigehenden wahrgenommen werde, können die Demonstranten bei vielen Themen über eine steigende Zustimmung berichten. Vor allem bei den Punkten Corona und Klima signalisieren die Autofahrer ihre Zustimmung durch hupen und erheben ihren Daumen. Fußgänger sagen Sätze wie „Gut, dass ihr das macht.“ Die Demonstranten erzählen, dass sie anfangs noch ein Schild hatten, auf dem „Wer zustimmt, hupt“ stand. Doch das mussten sie entfernen, weil, so der Vorwurf der Polizei, sie mit diesem Schild zu einer Ordnungswidrigkeit aufrufen.
Die Demonstranten suchen für ihre Schilderaktionen in der Schloßstraße wie auch auf dem Tempelhofer Damm weiterhin Mitstreiter. Offen in der Einstellung, keine Volksverhetzung, keine Beleidigungen und keine Gewalt. Sie sind nicht an eine Partei gebunden und bei den Themen gibt es keine Einschränkungen.
In einem nahe gelegenen Café ist man den Anblick der Demonstranten gewohnt. Eine Frau sagte in Richtung der anderen Gäste: „Wieso demonstrieren die noch? Corona ist doch vorbei.“
Nachdem eine Rentnerin erzählt hat, dass sie vor längerer Zeit ein Telefonat mit einem Verwandten hatte, der negativ über die Coronaimpfung sprach, sagte sie im Café leise: „Na wer weiß, ob die da draußen nicht doch Recht hatten, mit der Kritik an der Impfung.“
Kritik an den Demos
Wenn die Demonstranten überhaupt Widerspruch erfahren, dann beim Thema Krieg. Auch hier stimmen Passanten den Demonstranten zu, doch ab und an werden sie auch als „Putinversteher“ bezeichnet. Während des Interviews ereignete sich solch eine Beschimpfung. Ein Mann in einem Rollstuhl fuhr an die Demonstranten heran und fragte: „Na, wie viel Geld zahlt euch Putin dafür?“ Außerdem bezeichnete er die Demonstranten als „verrückt“ und „bekloppt“. Danach fuhr er weiter.
Ein Demonstrant erinnert sich an die Schrift einer linken Gruppierung von Gegendemonstranten, auf der wohl (sinngemäß) „Antisemiten jetzt auch auf der Schloßstraße“ stand. Eine Mitstreiterin erwähnt, dass eine ebenfalls linke Gruppe mehrere Gegendemonstrationen organisierte. Dazu gehörte auch eine Frau von der Partei Bündnis90/Die Grünen, der Name fiel der Demonstrantin nicht mehr ein: „Die Grüne hielt jede Woche die gleiche Gegenrede.“ Laut der Demonstrantin nannte die Frau von den Grünen sie und ihre Mitstreiter in dieser Rede unter anderem „Grünstreifenstricher“. Nun ist diese Gruppe seit „ungefähr einem Jahr weg“.
Dafür halten einmal im Monat die Omas gegen Rechts eine Gegendemonstration auf der Schloßstraße ab. So auch am 9. Juli 2024. Weil die Interviews mit den Demonstranten der Schilderaktion länger gedauert haben als geplant, konnten keine Fragen mehr an die Omas gegen Rechts gestellt werden. Um aber beide Seiten zu hören, wurden die Fragen an die Gegendemonstranten per Mail gestellt. Die Fragen wurden nicht beantwortet, sie verzichten auf ein Interview.