Demoplakat und Meditationskissen
Spiritualität kann die Basis sein, um uns für eine bessere Welt zu engagieren.
Wir brauchen eine Spiritualität, die keine Weltflucht-Hilfe ist, und ein Engagement für die Welt, das nicht nur die eigenen blinden Flecken nach außen projiziert. Dieser Beitrag möchte zeigen, dass Mystik und Verantwortung für das Ganze eng zusammengehören, ja, einander bedingen. Das Erleben der Einheit, wie es uns etwa durch meditative Übungen möglich ist, motiviert uns, stets das Ganze und das Wohl aller Lebewesen im Auge zu behalten. Gleichzeitig bewahrt uns spirituelle Selbsterfahrung vor dem Hochmut und der Verbissenheit mancher politischer „Weltverbesserer“.
In der spirituellen Szene ist die Auffassung weit verbreitet, dass es auf dem geistigen Weg um eine Beschäftigung mit dem eigenen Innenleben geht – ganz im Gegensatz zum politischen Aktionismus. Ich habe sogar einen wichtigen Zen-Lehrer unserer Zeit sagen hören, man solle bloß aufhören, die Welt ändern zu wollen. Das sei noch immer schief gegangen, schon deshalb, weil alle Vorstellungen von einer besseren Welt nur unsere Ego-Projektionen seien, die das Eigentliche im Hier und Jetzt verfehlen. Noch radikaler vertreten manche Buddhisten die Auffassung, dass unsere gesamte Weltwahrnehmung ebenso Illusion sei wie die Vorstellung eines autonomen Selbst.
Konträr dazu steht die Kritik der Rationalisten oder Aktivisten, Spiritualität – insbesondere mystische Spiritualität – sei Weltflucht, ein Ausweichen vor der Verantwortung gesellschaftlicher Veränderung. Dieses Image hängt gewiss damit zusammen, dass spirituelle Suche zu allen Zeiten und in allen Kulturen sehr häufig zu mönchischer Askese und Rückzug in abgelegene Klöster oder sogar Einsiedeleien geführt hat.
Gemeinsames Feld religiöser Erfahrungen
Mystik ist ein schwammiger, fast schon inflationär verwendeter Begriff. Nach meinem Verständnis umfasst sie ein Feld religiöser Erfahrungen, das allen großen Religionen gemeinsam ist; sie bildet die geheimnisvolle und faszinierende Mitte zwischen ihnen. In dieser Mitte, wo sich zum Beispiel Yoga, Zen, Chassidim, christliche Mystik und Sufismus berühren, gibt es unabhängig von der jeweiligen religiösen Herkunft und durch die Jahrtausende hindurch bis in die Gegenwart viele Gemeinsamkeiten. Deshalb ist es gerechtfertigt, von der Mystik zu sprechen beziehungsweise von typisch mystischen Erfahrungen.
Einige dieser Übereinstimmungen will ich kurz nennen. In der mystischen Erfahrung gibt es nur eine Wirklichkeit, kein Diesseits und Jenseits, nicht Himmel-Erde-Hölle, nicht Licht oder Dunkel, Göttliches oder Weltliches. Das Göttliche wird als allgegenwärtiger Geist verstanden, verkörpert in allen Menschen, Tieren, Pflanzen und Dingen, von den kleinsten Energiebündeln in einem Atom bis zu den fernsten Galaxien, also in der alles verbindenden Energie. Der Mensch wird nicht als eine in sich abgeschlossene Einheit gesehen, als „Illusion des Ego“, sondern als untrennbarer Teil der einen, ganzen Wirklichkeit, also auch des Göttlichen.
Bei dieser Charakterisierung ist allerdings zu bedenken, dass Mystik in aller Regel keine Lehre vertritt und sich nicht systematisch darstellt. Vielmehr geht es in den meisten Äußerungen von Mystik um den Versuch, letzte Erfahrungen in Worte zu fassen.
Mystik und Welt
Das Weltbild der großen Religionen war und ist oft dreigeteilt oder ein zumindest zweigeteilt: Diesseits und Jenseits. Da Erfahrungen in der „diesseitigen“ Welt in aller Regel Leid-besetzt sind, gab und gibt es immer wieder Tendenzen zum Rückzug aus der Welt, zumindest die Sehnsucht nach einem Jenseits (Paradies, Nirwana und Ähnliches), das frei von Leiden ist.
Die jeweiligen mystischen Strömungen setzten immer wieder ihr Verständnis von der einen ungeteilten Wirklichkeit dagegen. Wer nur eine Welt kennt, kann und will nicht aus der Welt fliehen – selbst wenn er oder sie sich auf Zeit aus dem weltlichen Getriebe zurückzieht. So haben mystisch-spirituelle Lehrer ihre Schüler stets auf die Welt, ja in den Alltag verwiesen als den entscheidenden Raum der Bewährung ihrer mystischen Erfahrung.
„Erleuchtung“ wird meist nicht als Entrückung aus der Welt erlebt, sondern als Einweisung in die Welt, wie sie wirklich ist, als Erwachen für die Welt.
Ein weiterer Impuls zur Präsenz in der Welt kommt aus der typisch mystischen Transzendierung des Egos. Wenn das Ich-Bewusstsein, das wir uns wie den Kamm einer Welle vorstellen können, sich hin zum Ozean des Seins öffnet oder geöffnet wird, macht dies seine Wahrnehmung des Ganzen weiter, umfassend.
Zur Mystik gehört in der Regel tiefes Mitgefühl mit allen Leidenden. Daraus entsteht heute mehr denn je in der Geschichte der Menschheit ein Impuls zur Beseitigung der Ursachen von Leid, also Weltverantwortung. Im Christentum wird das durch eine moderne Interpretation des Gleichnisses vom Barmherzigen Samariter ausgedrückt. Es genüge nicht, den einen von Räubern Überfallenen zu versorgen, sondern darüber hinaus müsse man sich um die Resozialisierung der Räuber bemühen, damit sie nicht weitere Opfer fordern. Im Buddhismus entstand im 20. Jahrhundert der Engagierte Buddhismus, zu dem beispielsweise die Bewegung des vietnamesischen spirituellen Meisters Thich Nhat Hanh gehört.
Den Horizont erweitern
Ich verstehe im Folgenden »Welt« nicht als »Umwelt«, sondern als „Mitwelt“, als das Ganze der Schöpfung beziehungsweise der Wirklichkeit. Und mit Verantwortung meine ich nicht Verantwortung vor einer richtenden Instanz, sei es Gott oder das eigene Gewissen. Vielmehr soll Verantwortung alle Aspekte des eigenen Antwort-Gebens auf die wahrgenommene Realität umfassen – sowohl ihre Schönheit als auch ihre Störung, Glück wie Leid.
Verantwortung übernehmen heißt auch Fürsorge empfinden und leisten, zum Beispiel für einen anderen Menschen, ja die ganze Schöpfung. Solches Verantworten kann man in zunehmend weiter werdenden Horizonten verstehen, beginnend mit dem Individuum als dem kleinsten Kreis von Welt.
Aus einer recht verstandenen Selbst-Liebe entsteht so Verantwortung für die Gesundheit und Reifung dieser kleinen Welt von Körper, Geist und Seele. Der nächste, weitere Horizont von Weltverantwortung umschließt meine Angehörigen, die „Sippe“. „Und unsern kranken Nachbarn auch“, lässt Matthias Claudius uns singen und weitet damit unseren Wahrnehmungs- und Verantwortungshorizont ganz sanft über die eigene Familie zum Nachbarhaus, zum Arbeitsplatz, in den ganzen Wohnort, das Heimatland, das Nachbarland.
Für diese Horizonterweiterung gibt es kein vertretbares Anhalten, bis alle Menschen auf diesem Globus als unsere Nachbarn auf dem kleinen Planeten Erde erkannt und so in unsere Verantwortung einbezogen sind. Tatsächlich werden ja heute erstaunlich viele Menschen in unserer Gesellschaft auch von fernsten Wetter- oder Hungerkatastrophen, von Erdbeben- oder Kriegsopfern in aller Welt angerührt und zu einer solidarischen Spende motiviert. Dies ist nichts Geringes oder Selbstverständliches, sondern in der Evolution des menschlichen Bewusstseins ein qualitativer Sprung, der Beginn eines globalen Bewusstseins!
Caritas und Systemkritik
Diese Ausweitung des Verantwortungshorizontes zeigt sich auch darin, dass viele Menschen sich nicht nur karitativ engagieren, sondern auch gesellschaftliche Bedingungen verändern wollen, indem sie in verschiedenen Organisationen mitarbeiten – in Initiativen, Verbänden, Nicht-Regierungsorganisationen, Parteien und Protestbewegungen bis hin zu den alten und jungen Globalisierungskritikern wie attac. Sie fühlen sich sogar für derart globale Themen wie Welthandel, Weltfinanzen und eine gerechte Weltwirtschaftsordnung verantwortlich.
Eine weitere epochale Erweiterung unseres ethischen Horizontes ist weltweit im Gange. Dabei geht es um die Einbeziehung von Tieren und Pflanzen in unsere Verantwortung, ja auch der globalen Lebensbedingungen wie Gewässer, Böden, Klima bis hinauf zur Ozonschicht. Tierschutz, die Sorge um die Erhaltung der Artenvielfalt oder der Klimaschutz führen allmählich zu internationalen Vereinbarungen, zu Gesetzen, bis hin zur UN-Verfassung. Besonders deutlich formuliert sind sie in der Erd-Charta, die aus einer weltweiten Basisbewegung heraus entstanden ist. Diese Ökologisierung unserer Weltverantwortung geht gewiss noch viel zu langsam und wird von enger und kurzfristiger Interessenpolitik behindert. Aber sie hat begonnen.
Eine letzte anstehende Erweiterung unseres Welt-Horizontes betrifft die zukünftigen Lebewesen. Wenn es heißt, unsere Lebensweise sei nicht nachhaltig, meint man: Sie ist nicht zukunftsfähig, sie verdirbt die zukünftigen Lebensbedingungen sogar für uns heute Lebende, für unsere Kinder und Enkel, erst recht für spätere Generationen. Auch hierbei geht es nicht mehr nur noch um uns Menschen, sondern um die Zukunft allen Lebens auf diesem Planeten.
Ich gebe zu, dass das alles jedoch eine äußerst anstrengende, die meisten von uns überfordernde Horizonterweiterung ist. Zudem ist diese globale Verantwortung nicht nur eine Sache der nationalen und internationalen Politik, sondern hat mit unserem alltäglichen Handeln zu tun. Denn was wir kaufen, wie wir unsere Mobilität gestalten, wie viel und welche Energie wir verbrauchen, wie wir unseren Urlaub planen (ob mit oder ohne Flugzeug) – all das hat globale Auswirkungen, muss also unter global-ethischen Gesichtspunkten entschieden werden.
Es gibt also keinen „privaten“ Konsum mehr! Das kann jeder einigermaßen informierte, vernünftige Mensch einsehen. Entsprechende Änderungen unserer persönlichen Lebensweise und der Weltwirtschaft werden von immer mehr Experten immer dringlicher gefordert. Dazu braucht es keine Mystik. Wozu dann?
Mystik und Widerstand
Die Paarung von Mystik und Weltverantwortung ist keine ganz junge Verbindung. In den benediktinischen Orden hieß es schon immer „Ora et labora“ (bete und arbeite) und dies nicht nur für die Mönche oder Nonnen selbst, sondern auch für ihre Umgebung. Luther verwies auf den »weltlichen Stand« als den Christen ebenbürtig zum „geistlichen Stand“.
„Kampf und Kontemplation“, sagen die Christen der lateinamerikanischen Befreiungstheologie. „Mystik ist Widerstand“, schrieb die protestantische Theologin Dorothee Sölle. Aber diese Beziehung müssen wir Heutigen im radikal erweiterten Welthorizont neu nachvollziehen. Wenn ich deshalb jetzt vom möglichen Beitrag der Mystik zur Wahrnehmung der globalen Weltverantwortung spreche, geht es nicht um das, was nur sie exklusiv dazu beitragen könnte, wohl aber um das, was gerade Mystik spezifisch und verstärkend beitragen kann.
Aus dem Halbschlaf erwachen
Alle Formen der Mystik ermöglichen das Erwachen aus unserem alltäglichen Halbschlaf, gar unserer Betäubung, heutzutage vor allem durch allzu viele Informationen, passive Unterhaltung, Alkohol- und Medikamentenkonsum. Die Mystik stimuliert uns zu hellwacher Achtsamkeit gegenüber allem, was ist – in der heutigen Weltsituation ein höchst dringlicher, doch schwer durchzuhaltender Bewusstseinszustand. Denn zu ihm gehört auch die Bereitschaft zum Mitgefühl mit allem Leiden. Ist das ohne mystische Spiritualität überhaupt auszuhalten?
Die mystische Wahrnehmung unseres Eins-seins-mit-Allem überwindet den jahrtausendealten jüdisch-christlichen Anthropozentrismus, also das Denken nur vom Menschen her. Auch unser kulturell verstärkter neuzeitlicher Egozentrismus kann aufgelöst werden durch die mystische Realisierung unseres Egos als einer kleinen Wellenspitze im unendlichen Ozean. Mit dem Ego schwindet unser Impuls zum Konkurrenzkampf, zur Habgier, zur Gewaltanwendung. Nächstenliebe und Mitgefühl werden ganz natürliche, selbst-verständliche Haltungen. Mystisches Empfinden weitet sogar den Zeithorizont in die Zukunft aller nach uns kommenden Lebewesen, obwohl der Fokus der Mystik dem zeitlosen Hier und Jetzt gilt.
Bei der notwendigen radikalen Umgestaltung unserer konsumistischen Lebensweise gibt Mystik uns gleichsam Entzugshilfe, indem sie unsere Sehnsucht auf inneres Glück lenkt und so unsere materiellen Bedürfnisse stark relativiert. Einem mystisch glaubenden Menschen ist anderes wichtiger als unsere heutigen Konsumstandards oder die Vermehrung von Kapital. Dabei wird aus dem »Ich muss lassen« ein »Ich kann lassen« und „Ich will lassen“.
Vertrauen
Schließlich: Mystik nährt unser Vertrauen, dass diese Welt, weil sie von göttlicher Liebesenergie durchdrungen ist, nicht zugrunde gehen wird. Das gibt uns den Mut, die Ausdauer und die Hoffnung, die angesichts der sich zusammenbrauenden globalen Krisen so dringend gebraucht werden, und die keine Vernunft uns geben kann.
Andererseits gewährt mystische Spiritualität die innere Kraft, angesichts der Weltlage die eigene Ohnmacht auszuhalten. In der mystischen Versenkung sitze ich im windstillen Auge des Wirbelsturms der Welt. Und: Die kleine Welle ist nicht verantwortlich für den ganzen Ozean, sie darf sich auf den ihr zugänglichen Bereich beschränken.
So gehören für mich Mystik und Weltverantwortung untrennbar zusammen. Die mystische Praxis und das gesellschaftliche Engagement können in verschiedenen Phasen meines Lebens oder auch im Umgang mit verschiedenen Menschen im Mittelpunkt stehen. Aber sie sollten dennoch miteinander verbunden sein.
Mystische Weltverantwortung bewahre uns vor der Verbissenheit und dem Hochmut politischer Weltverbesserer. Und weltverantwortliche Mystik bewahre uns vor der Falle einer bloß individuellen Seelenrettung. Das Streben nach mystischer Erfahrung ist dann kein subtiler Egotrip, sondern Dienst an der Welt.
Quellen und Anmerkungen:
Buchtipp: Reihe Neues Wir, adecis Verlag, Herausgeber: Wolf S. Schneider. Band 1: Politik + Spiritualität: Die Macht und die Weisheit, 196 Seiten Seiten, 11 Euro, als E-Book 6,99 Euro. Darin sind weitere Artikel verschiedener Autoren zu spirituellen Themen zu finden.