Demokratie oder Untergang

Die Strukturen der Partizipation in unserem Gemeinwesen müssen so umgestaltet werden, dass der Kern des Menschlichen gewahrt werden kann. Teil 1 von 4.

„Demokratie oder Untergang!“ Diese Überschrift übertreibt apokalyptische Ängste? Vielleicht. Wir können nicht in die Zukunft schauen, aber vieles spricht dafür, dass eine Weiterentwicklung der Menschheit — und das geht allein mit Überwindung von Krieg — nur möglich ist, wenn wirkliche Demokratie weltweit realisiert wird. Es sind jene Menschen, die in ihrem Kern nicht mit den Bereicherungs- und/oder Herrschaftseliten verbunden sind, also die bei Weitem größten Teile der Bevölkerung, die den originären Schatz der Menschlichkeit (1), auch wenn vieles verschüttet ist, nach wie vor aufbewahren. Diese Menschen müssen ihre wirklichen Interessen in echten demokratischen Verhältnissen zum Ausdruck bringen können. Verschiedene Formen der Demokratie müssen mit normativen Regeln, Gesetzen und Kontrolle bewerkstelligen, dass sich der Kern des Menschlichen geschützt im politischen Handeln entfalten kann. Rätedemokratie, Repräsentationsdemokratie, direkte Demokratie und „demokratischer Zentralismus“ reichen alle nicht, um grundlegend die die Menschlichkeit fundamental bedrohenden Bereicherungs- und Herrschaftsansprüche zurückzuweisen und zu unterbinden. In zwei sehr lesenswerten Artikeln zum Thema Demokratie und Rätedemokratie haben Roland Rottenfußer („Selbstbestimmung statt Stimmabgabe“, (2)) und Heinrich Leitner („Die unvollendete Demokratie“, (3)) Beiträge verfasst, durch die ich bei meinem Nachdenken über Demokratie dazugelernt habe. Die Frage der Demokratie nehme ich letztlich als die Kernfrage für die Zukunft der Menschheit wahr. Ein Beitrag zur Debatte.

Demokratie bei Strafe des Untergangs

Wenn die Interessen der Menschen, der Menschheit, sich nicht entsprechend ihrer ursprünglichen Menschlichkeit durchsetzen können, wird die Spaltung der Gesellschaft nicht überwunden werden können. Auf der einen Seite werden stets die Herrschenden und sich Bereichernden stehen, die sich in Gier und Herrschsucht gegen die Interessen der Menschen und ihr Eingebettetsein in die Biosphäre richten. Auf der anderen Seite werden jene stehen, die den Herrschenden und sich Bereichernden hechelnd nachlaufen müssen, um — wie sie meinen — „gut“ zu überleben.

Die Folge ist, dass die einen nur dem Weg der Gier und der entfremdeten Herrschaftsmacht folgen, auch wenn sie stets anderes behaupten mögen, und die anderen nicht in die Macht kommen, um die Menschlichkeit durchzusetzen — vor allem, weil sie auf Herrschende vertrauen, anstatt auf ihre eigene innere Kraft. Die weitere Folge sind Wildwuchern egoistischer Systeme bis zum Zusammenbruch und Krieg bis zum Untergang.

Diesen Gedanken, dass nur wirkliche Demokratie ein gutes Leben ohne Krieg für die Zukunft der Menschheit sichern kann, formulierte im November 2024 auch Rainer Mausfeld in Reflexion der Schrift des Philosophen Immanuel Kant (1724 bis 1804) „Vom Ewigen Frieden“ in seinem Vortrag, „Warum Krieg?“:

„Die wichtigste Einsicht (von Immanuel Kant) ist, dass Frieden und gesellschaftliche Selbstbestimmung, also Demokratie im ursprünglichen Sinne, als radikale gesellschaftliche Selbstbestimmung untrennbar miteinander zusammenhängen. Nur eine wahre Demokratie kann den Frieden sichern.“ (4)

Die Wurzel des Krieges ist mit Bereicherungs- und Herrschaftsansprüchen verbunden und zerstört die originäre Menschlichkeit.

Diese wird aber von den „einfachen“ Menschen, die weder Herrschaft noch Bereicherung als Ziel vor Augen haben, geschweige denn Krieg wollen, bewahrt, auch wenn vieles schon verschüttet ist und erst wieder ausgegraben werden und in seine lebendige menschliche Daseinsform gelangen muss.

Angesichts der immer komplexer werdenden Systeme, die der Mensch kraft seiner Möglichkeiten und gesteuert durch Gier und Herrschaft vorantreibt, wachsen die inneren Widersprüche. Einerseits gibt es das Herrschaftsansinnen auf imperial abgesicherte, totale Ausbeutung von Mensch und Natur. Andererseits gibt es den Kampf dagegen, in dem sich das originär Menschliche zu verwirklichen sucht.

Das Herrschafts- und Bereicherungsansinnen läuft zwar auf Totalitarismus hinaus, klärt aber die Frage nicht, wer von den Herrschenden wie viel, wo, und wie von der Bevölkerung und der Natur abpressen darf. Das läuft auf Krieg hinaus, auf totalen Krieg. Andererseits jedoch ist die mit dem Menschlichen verbundene Bereitschaft zum Widerstand nicht auslöschbar.

Daher ist Herrschafts- und Bereicherungs-„Recht“ auf Dauer nicht durchsetzbar, wie wir — trotz des gegenteiligen Anscheins — aus der Geschichte der Kämpfe um Demokratie und gegen Herrschaftsansprüche erkennen können. Das läuft auf Revolution hinaus.

Die Zunahme der inneren und aus anderer Perspektive „äußeren“ Widersprüche schreitet über holprige Sprünge der Geschichte unweigerlich auf Implosion — totale Krise — oder Explosion — totaler Krieg — zu, bis schließlich als Ergebnis der „Zivilisation“, in einem Chaos der Irrationalität und Unmenschlichkeit, das Ende der Menschheit erreicht wird, wenn nicht, ja eben genau das, wirkliche Demokratie im Sinne der elementaren Durchsetzung des originär Menschlichen in der Handlungsweise der ganzen Menschheitsfamilie gelingt.

Nehmen wir ein Beispiel, wie das im Kern demokratisch-menschliche Denken sich von Bereicherungs- und Herrschaftsdenken unterscheidet — auch wenn sich durch Propaganda-Irritation der Kern erst mühsam aus dem geistigen Gefängnis wieder befreien muss: Ohne Zweifel steht, wer im Kern Mensch ist, gegen den Völkermord in Palästina und gegen den Missbrauch der ukrainischen Bevölkerung, indem man sie für fremde Interessen dem Krieg und dem Abschlachten aussetzt. Wem es jedoch vor allem um die Aufrechterhaltung der Bereicherungsmöglichkeiten geht, der schreckt auch nicht davor zurück, den Völkermord in Palästina mit Waffen und zynischen, doppelzüngigen Worten zu unterstützen oder die Provokationen gegen den Weltfrieden in der Ukraine vorzubereiten und voranzutreiben.

Beide Beispiele, Palästina und Ukraine, zeigen: Die Bedrohung, die von der Negation wirklicher Demokratie ausgeht, liegt klar vor unser aller Augen:

Sowohl in der Ukraine als auch in Israel sind in der Tat faschistoide (5) Regime unter dem Deckmantel einer Regierung, die angeblich liberal-demokratische Freiheit verteidigt, am Werk (6). Völkermord und Provokation von Krieg, miteingeschlossen die Gefahr der Auslöschung der Menschheit, sind zweifelsohne faschistoide Handlungen.

Ja, es zeigt sich historisch betrachtet sogar noch eine Steigerungsstufe — nicht in der Größenordnung des Verbrechens, aber in der Unverfrorenheit, mit der es publik gemacht wird. Völlig ungeniert wird das genozidale Handeln für jedermann klar erkennbar vor der Weltöffentlichkeit durchexerziert und findet in der westlichen Mainstream-Welt breite Unterstützung durch Propaganda und Waffenlieferungen.

Westliche Vorherrschaft steht über internationaler Demokratie der Völker. Imperialismus und US-amerikanischer Exzeptionalismus bilden ohne Zweifel ein zutiefst antidemokratisches Konzept, auch wenn es mit dem Gefasel über eine „regelbasierte Ordnung“ zynisch als quasidemokratisch angepriesen wird. Und ohne Zweifel wird de facto versucht, die Regeln der Charta der Vereinten Nationen (UN) (7) und der Völkermordkonvention (8) mit der Ersatzbegriff „regelbasierte Ordnung“ auszuhebeln.

Der Wachruf des Entsetzens, der nach den Verheerungen des Zweiten Weltkriegs die Voraussetzungen für ein „Nie wieder“ schaffen sollte, wird in ein zutiefst antidemokratisches, zum Erbrechen grausames Karikatur-Korsett gepresst, um die eigenen Interessen durchzusetzen. Genau das Gegenteil sollte nach dem Zweiten Weltkrieg mithilfe fundamentaler, klar definierter und eben nicht beliebiger Regeln weltweit eine Sicherung von Frieden herbeiführen.

Westliche Demokratie, wie wir sie bisher hatten — die Gewaltenteilung, die Redefreiheit, ja selbst der Rechtsstaat wie auch die internationale Diplomatie zur Friedenssicherung —, wird vor allem durch die westlichen Länder selbst Stück für Stück zurückgedrängt und zerschlagen (9).

In Gaza wurde das durch genozidale Bombardierung und Aushungerung und in Erwartung der finalen Wirksamkeit dieser „Säuberung“ entleerte Gebiet von den Schlächtern schon aufgeteilt (10). Und sollte es zu dieser Aufteilung nicht kommen, so kauft der neue amerikanische Präsident eben mal das Lebensterritorium des mörderisch gequälten Restes des zur Schlachtbank geführten Volkes, wozu der vorherige Präsident die entscheidende Mithilfe leistete. Wie freundlich-entschlossen Faschismus doch wohl sein kann!

Die ich rief, die Geister …

Der Mensch schafft Systeme, vor allem seit der Sesshaftwerdung und dem Beginn der sogenannten Zivilisation, die er zunehmend nicht mehr steuern kann. „Die ich rief, die Geister, werd‘ ich nun nicht los“, dichtete Johann Wolfgang Goethe schon 1797. Die Unsteuerbarkeit ist vor allem ein Ergebnis von Bereicherung und Herrschaftsmacht. Bricht diese Hybris nicht, so erweist sich der Mensch als fehlgeleitetes Projekt der Evolution.

… schaffen vielleicht einen großen Sprung.

Aber gewiss kann aus der Zuspitzung der inneren Widersprüche auch ein Sprung auf eine neue Ebene, eine Fulguration (11), eintreten, die einen neuen Phönix aus der Asche emporsteigen lässt. Da unkontrollierte und hemmungslose Herrschaft und Bereicherung das Hauptproblem sind, muss der Kern der Lösung in einem neuen Transmissionsriemen von der Umsetzung der Interessen der Menschen, also der eigentlichen Menschlichkeit, hin zu Organisation und Mächtigkeit im Sinne einer menschenfamiliären Gesellschaft auf dieser Welt sein. Durch diese müssen Bereicherung und darauf abgestützte Herrschaft und Kriegsbereitschaft ausgeschlossen werden. Das wäre dann der Beginn wirklicher Demokratie.

Alle Vorformen von Demokratie, die ein Bereicherungsrecht nicht ausschließen, sind bestenfalls wie das Üben der Kunst des Fliegens in einem Käfig.

Das gilt für die repräsentative Demokratie wie auch für die Rätedemokratie wie auch für direkte Demokratie wie auch für den sozialistischen „demokratischen Zentralismus“. Wirkliche Demokratie wird erst dauerhaft möglich, wenn neue normative Regeln so etwas wie die Banden eines „Demokratie-Billardtischs“ bilden. Diese Banden müssen die Möglichkeit, aus dem gesellschaftlichen Handeln über ein bestimmtes Maß hinaus privaten Reichtum zu ziehen, durch eine strikte Begrenzung dauerhaft ausschließen. Bereicherung ist zu verunmöglichen. Aus den alten, bekannten Bestandteilen, die durch das bisherige Ringen um Demokratie hervorgebracht wurden, kann dann ein fulgurativer Sprung erwachsen. Fällt das Bereicherungsrecht, schaut die Welt anders aus. Und dabei geht es nicht nur um Regeln in einem nationalen Rahmen, sondern gerade auch möglichst um Regeln für die ganze Welt. Zu Recht spricht Heinrich Leitner von der „unvollendeten Demokratie“, verweist Roland Rottenfußer auf notwendige Alternativen.

Formale Lösungen — ohne Infragestellung der ökonomischen Macht

Die Amerikanische und die Französische Revolution sowie alle späteren bürgerlichen Revolutionen waren Versuche, das Formale zu lösen. Das war auch schon bei der historischen Leistung der ersten demokratischen Revolution im antiken Griechenland unter Solon und Kleisthenes so, wie es Rainer Mausfeld in seinem Buch „Hybris und Nemesis“ aufschlussreich beschreibt (12). Der grandiose Ansturm der antiken griechischen Demokratie wollte jedoch weder die Position der Aristokratie abschaffen, noch die Sklaverei noch die Entrechtung von Frauen. Mit anderen Worten, das Bereicherungsrecht und ungerechte Herrschaft sollten bleiben. Formal jedoch sollte die Gleichheit im Recht der Bürger hergestellt werden, Gesetzte zu machen, die für alle gültig sind — vor allem auch für befristet beauftragte staatliche Machtträger.

Trotzdem das Bereicherungsrecht und die faktische Minderstellung erheblicher Anteile der Bevölkerung nicht aufgehoben werden sollten, war der „formale“ Ansatz zur Demokratie ein großer Schritt hin zu Freiheit und Selbstbestimmung, der notwendig geworden war, weil sich in den Jahrtausenden zuvor ein schier unüberwindliches Bereicherungs- und Herrschaftsrecht etabliert hatte (13). Es ist jedoch klar, dass der erste explizite Ansatz zu Demokratie nicht dauerhaft erfolgreich sein konnte, da die Menschlichkeit durch Sklaverei und Rechtlosigkeit von Frauen und Metöken und durch uneingeschränkte Bereicherungsrechte der lokalen Aristokraten weiterhin mit Füßen getreten werden durfte.

Wie die Geschichte gezeigt hat, kann formale „Demokratie“ eben durchaus mit der Rechtlosigkeit von breiten Bevölkerungsschichten einhergehen, denn formale Demokratie lässt sich auch bloß als Instrument der Entscheidungsfindung innerhalb einer herrschenden Schichte praktizieren.

Das hat dann jedoch nichts mit wirklicher Demokratie zu tun, die nur eine solche sein kann, wenn sie alle Menschen miteinschließt.

Auch die republikanisch-demokratische Revolution in Nordamerika hatte die Frage hartnäckig ausgeblendet, dass logisch zu Ende gedachte, wirkliche, eigentliche Demokratie vor allem die Frage mit im Fokus haben muss, ob es ein Bereicherungsrecht geben darf. Auch bei den amerikanischen Gründervätern war Sklaverei gebilligt (14).

Demokratie versus konzentrierten Reichtum

Im darauffolgenden Jahrhundert wurde dank der Kräfte des Kampfs gegen Unterdrückung die neuzeitliche Sklaverei zurückgedrängt. Stattdessen blühte jedoch sukzessive das „kapitalistische“ Bereicherungs-Steigerungsspiel auf. Etwa 150 Jahre nach der Gründung der nordamerikanischen Republik sollte schließlich ein demokratisch ernannter Richter des Obersten Gerichtshofs der USA (von 1916 bis 1939), der zugleich einer der einflussreichsten Juristen des Landes war, formulieren:

„Wir müssen uns entscheiden: Wir können eine Demokratie haben oder konzentrierten Reichtum in den Händen weniger — aber nicht beides.“ (15)

Man sieht hier klar, woran sich der formale Anspruch auf Demokratie reibt. Wenn das Problem des „konzentrierten Reichtums in den Händen weniger“ nicht gelöst wird, so mögen formale Demokratie-Regelungen noch so gut sein, sie werden gerade an dieser Frage zerbrechen oder unwirksam werden.

Worum es also geht — und wenn das nicht erreicht wird, brauchen wir von echter Demokratie gar nicht zu reden —, ist, eine Bereicherungsökonomie zu beenden.

Was meine ich mit Bereicherungsökonomie? Der Kern ist seit der Moderne, dass es in einer solchen Ökonomie möglich ist, unter dem Applaus aller das zu tun, was die Banken und Schattenbanken ihren reichen Kunden versprechen: „Lassen Sie Ihr Geld für sich arbeiten.“ Tatsache ist jedoch, Geld kann nicht arbeiten, es sind immer die Menschen dahinter, die arbeiten und den Reichtum anderer schaffen. Als Grund der Geldvermehrung heißt es letztlich immer, „lassen Sie Menschen für sich arbeiten“.

Die „Arbeit“ die verrichtet wird, um sicherzustellen, dass die stete Umverteilung von unten nach oben organisiert wird, ist letztlich ohne gesellschaftlichen Nutzen, auch wenn sie heute besonders „schlau“ und „gewieft“ erscheinen und teilweise auch noch notwendig sein mag, da Reichtum alles bestimmt und daher alle davon abhängig sind.

Geld zu erlangen ohne Einsatz von gesellschaftlich nutzbringender Arbeit und Leistung, das ist Bereicherung. Wenn das das Hauptziel eines allgemein anerkannten gesellschaftlichen Steigerungsspiels ist, dann ist es eine Bereicherungsökonomie. Nicht das Gemeinwohl steht im Zentrum, sondern jede Chance, irgendwie zu Reichtum zu kommen.

Der Journalist und Filmemacher Tahir Chaudhry fasste diese heute geltenden Verhältnisse unlängst in einem Gespräch zu seinem Buch über den Fall Jeffrey Epstein so zusammen:

„Die internationale Elite der multinationalen Konzerne — wenige hundert Familien, einige tausend Milliardäre — strebt unermüdlich nach mehr Kapital, mehr Macht und mehr Kontrolle. Mit ihrer Dominanz im Finanzsektor und ihrer Beherrschung zentraler Rohstoffe und Produktionsmittel lenken sie über ein dichtes Netzwerk aus Lobbygruppen, Stiftungen, Medien sowie Bildungs- und Forschungseinrichtungen ganze Gesellschaften. Der Bürger wird in einem System gefangen, das ihn durch ständig geweckte ‚Bedürfnisse‘ in endlosen Konsum drängt, während die Profiteure dieser Maschinerie an den Schalthebeln der globalen Macht sitzen.“ (16)

Nachdem sich heute längst stabile Oligarchien des Bereicherungskults an die hauchdünne gesellschaftliche Spitze gesetzt haben, geht es darum, diesen Reichtumsoligarchien die Macht zu entziehen und diese Macht im Sinne echter Demokratie in die Hand der Bevölkerung zu legen.

Karl Marx und die Kommunisten verlangten als Antwort auf die schon vor fast zweihundert Jahren deutlich erkennbare gesellschaftliche Entwicklung die Enteignung. Aber Enteignung bedeutete, wenn wir die realen sozialistischen Umsetzungsversuche im Rückblick betrachten, dass das Eigentum in die Hände des Staates übergeht und eine sich selbst organisierende Wirtschaft nicht mehr möglich ist beziehungsweise grundsätzlich behindert wird (17).

Der neue Weg — wenn man aus den Fehlern der Geschichte gelernt hat — wäre, zu erkennen: Es geht nicht an erster Stelle um Eigentum und Vermögen, es geht vor allem um die Höhe des Einkommens, das aus dem Eigentum legal gezogen werden darf, und auch um die Frage, wer über den Einsatz von gesellschaftlichem Reichtum — auch wenn er privat verwaltet wird — bestimmen soll.

Wenn die Höhe des persönlichen Einkommens begrenzt ist und die Entscheidungen über Investitionen gesellschaftlich-demokratisch getroffen werden, so kann die Verwaltung von Vermögen auch privat sein und die Eigeninitiative weiterhin hochgehalten werden.

Was es aber nicht braucht, sind jene finanzialisierten Sektoren, deren Tun auf nichts anderes ausgerichtet ist, als aus nichts oder aus wenig Geld mehr Geld zu machen. Was ist die Leistung eines Aktionärs? Was ist die Leistung von „angelegtem“ Geld? Was ist die Leistung von Börsenspekulationen, von Hochgeschwindigkeitshandel, von Derivaten, von Schattenbanken, von Steueroasen und so weiter? Oh ja, alle, die solcherart Geld vermehren, haben eine Erklärung, wie wichtig ihr geschäftiges Tun ist.

Aber Tatsache ist: Dieser Sektor ist großteils abgekoppelt von sinnvoller gesellschaftlicher Arbeitsteilung, von der Organisation von gutem Leben für alle durch produktive Arbeit und gerechte Verteilung. Er existiert nur, weil alle vom Geldfluss abhängig sind. Und wer am meisten Geld aus dem Nichts schaffen kann, der macht alle von sich am meisten abhängig. Das kann sich ändern, wenn Geld möglichst in ein neutrales, rein den gerechten Austausch messendes Instrument gewandelt wird. Das wäre die Demokratisierung der Geldmacht. Dort muss Demokratie hin. Die Abschaffung eines „Wie mache ich Geld aus dem Nichts“-Sektors ist notwendig, kann und soll aber sehr wohl mit der Selbstorganisation eines freien Marktes einhergehen. Das kann funktionieren, wenn die Regeln eines übergeordneten Gesellschaftsvertrags die Banden für das freie Spiel der Kräfte klar vorgeben und Geld neutral und demokratisch verwaltet wird.

Wie die völlig undemokratische monopolökonomische Vormacht abgeschafft werden kann, wie die betrügende und erpresserische Geldmacht, wie persönliche Bereicherung aus Eigentum entschieden eingehegt werden können, dazu im dritten Teil dieses Artikels. Sehen wir uns zuerst einige Aspekte formaler Demokratie und ihrer Entwicklung an.

Rätedemokratie, der historisch gewachsene Kern der Demokratie

Die republikanisch-demokratische Amerikanische Revolution hat, was Heinrich Leitner unter sehr aufschlussreichen Verweisen auf Hannah Arendt zeigt, wichtige Ansätze der Rätedemokratie angewandt. Auch Roland Rottenfußer hebt dies hervor und verweist auf die Matriarchatsforscherin Heide Göttner-Abendroth, die darlegt, dass es sich dabei um einen Ansatz handelt, der sich naheliegend aus der Organisation des Zusammenlebens schon bei indigenen, matrilinearen Völkern vor Jahrtausenden entwickelte.

Auch Rainer Mausfeld unterstreicht dies in seinem Buch „Hybris und Nemesis“ (18):

„In den geteilten Normen und in den Wertesystemen von Jäger- und Sammlergesellschaften zeigt sich eine bewusste Ablehnung von Dominanzverhältnissen. Sie verfügen über ein höchst wirksames gesellschaftliches Ethos hinsichtlich eines Umgangs mit Macht. (…) Diese Gesellschaften sind durch eine antiautoritäre Grundhaltung und ein kulturell vermitteltes Ressentiment gegen stabile Dominanzhierarchien geprägt. Es geht dabei (…) um ein Vermeiden von Bedingungen eines Dominiertwerdens.“ (19)

Dieselbe Erkenntnis untermauert auch Uwe Wesel in seiner „Geschichte des Rechts“ (20):

„Das Kollektiv der Horde bestimmt sich selbst. Entscheidungen über Jagd, Abbruch des Lagers und Ort des nächsten werden gemeinschaftlich getroffen. Einzelne haben größere Autorität, besonders die erfolgreichen Jäger, aber sie müssen sich zurückhalten, sind immer, wenn sie es nicht tun, in Gefahr der Lächerlichkeit und können jederzeit überstimmt werden. (…) Jäger sind anarchisch, herrschaftsfrei.“ (21)

Der Gedanke, dass die Rätedemokratie sozusagen den historisch gewachsenen Kern der Demokratie darstellt, ist gewiss von Bedeutung. Räte sind dabei lokale Zusammenkünfte, bei denen die Betroffenen selbst entscheiden, was sie wollen: für sich unmittelbar, aber auch bezogen auf weiterreichende Perspektiven.

Der Verweis von Hannah Arendt darauf, dass alle Revolutionen nach dem Durchlaufen eines „Desintegrationsprozesses“„überall zu der erstaunlichen Bildung einer neuen Machtstruktur (schritten), die keineswegs von Berufsrevolutionären ins Leben gerufen wurde, sondern aus dem Volke spontan erwuchs“, bestärkt die Aussage, dass Räte das ursprüngliche Kernelement von Demokratie sind.

Ein höchst anschauliches Beispiel für das spontane Zurückgreifen auf Räte und unmittelbar wirksame Demokratie in bestimmten historischen Situationen bringt der US-amerikanische Journalist John Reed in seinem Bericht über die Russische Oktoberrevolution von 1917 mit dem Titel „10 Tage, die die Welt erschütterten“:

„Ganz Russland war in Bewegung, schwanger mit einer neuen sozialen Ordnung. (…) Jeder Mann und jede Frau durften wählen; (…) es gab Sowjets, und es gab Gewerkschaften. Die Droschkenkutscher hatten einen Verband; sie waren auch im Petrograder Sowjet vertreten. Und die Kellner und Hotelbediensteten waren organisiert, (…) an der Front (des Ersten Weltkriegs) setzten sich die Soldaten mit den Offizieren auseinander und lernten es, sich mit Hilfe ihrer Komitees selbst zu regieren. In den Fabriken erlangten die Fabrikkomitees Stärke (…). Ganz Russland lernte lesen. Und es las — Politik, Ökonomie, Geschichte. Das Volk wollte WISSEN (…). In jeder Großstadt, fast in jeder Stadt, an der ganzen Front hatte jede politische Partei ihre Zeitung, manchmal mehrere.

Hundertausende von Flugblättern wurden von Tausenden Organisationen verteilt, überschwemmten die Armee, die Dörfern, die Fabriken, die Straßen. (…) Russland saugte den Lesestoff auf, unersättlich, wie heißer Sand das Wasser. Und es waren nicht Fabeln, die verschlungen wurden, keine Geschichtslügen, keine verwässerten Religionen oder der billige Roman, der demoralisiert — es waren soziale und ökonomische Theorien, philosophische Schriften, die Werke Tolstois, Gogols und Gorkis (…). Und dann das gesprochene Wort (…), Vorlesungen, Debatten, Reden; in Theatern, Zirkussen, Schulen, Klubs, in den Sitzungen der Sowjets, der Gewerkschaften, in den Kasernen (…). Versammlungen in den Schützengräben an der Front, auf den Dorfplätzen, in den Fabriken … Was für ein Anblick, die Arbeiter der Putilow-Werke, vierzigtausend Mann stark, herausströmen zu sehen, um die Sozialdemokraten zu hören, die Sozialrevolutionäre, die Anarchisten — wer immer etwas zu sagen hatte, so lange er reden wollte. Monate hindurch war in Petrograd, in ganz Russland jede Straßenecke eine öffentliche Tribüne. In den Eisenbahnen, in den Straßenbahnwagen, überall improvisierte Debatten, überall (…). Und die gesamtrussischen Konferenzen und Kongresse, die Menschen zweier Kontinente in Verbindung brachten — Kongresse der Sowjets, der Genossenschaften, der Semstwos (eine Art „Landräte“), der Nationalitäten, der Priester, der Bauern, der politischen Parteien; die Demokratische Beratung, die Moskauer Beratung, der Rat der Republik. In Petrograd tagten ständig drei oder vier Kongresse. In den Versammlungen wurde jeder Versuch, die Redezeit einzuschränken, abgelehnt. Jedermann hatte vollkommene Freiheit, auszusprechen, was er am Herzen hatte.“ (22)

Wir haben hier also ein Beispiel, wie lebendig sich eine Revolution ankündigt und wie sehr sie im Kern ein demokratisches Bedürfnis trägt.

Wenn wir diese Zeilen lesen, dürfen wir im historischen Kontext jedoch nicht vergessen, dass die Sowjets — also die Räte des revolutionären Russlands, die sich gegen die Zarenherrschaft stellten — sich alsbald einer „Diktatur des Proletariats“ zu beugen hatten, die die kommunistische Partei — die Bolschewiki — gegen die alte brutale Herrschaftskaste mit spiegelbildlicher, aber neuartiger Brutalität durchsetzte (23).

Dieser Artikel wird in den Teilen 2, 3 und 4 fortgesetzt.