Demografische Demagogie
Forderungen nach mehr „Generationengerechtigkeit“ in der Rente forcieren den Sozialabbau.
Der demografische Wandel wird seit vielen Jahren als Totschlagargument benutzt, um den Sozialstaat in Frage zu stellen. Die Rente, die Krankenversicherung und die Pflegeversicherung ohnehin, alles sei in seiner Finanzierung nicht mehr haltbar, weil in Deutschland zu wenig Kinder geboren würden und die Babyboomer des vergangenen Jahrhunderts demnächst in Rente gehen. Die Faktenlage sieht anders aus, legt Rentenexperte Holger Balodis dar.
Die Klage ist bekannt: Es gibt hierzulande viel zu wenig Nachwuchs, die Mütter in Deutschland befänden sich gewissermaßen seit Jahrzehnten im Gebärstreik. Gleichzeitig gibt es viel zu viele Alte, die obendrein immer älter werden. Diagnostiziert wird ein stark schrumpfendes Erwerbstätigenpotenzial und daraus messerscharf gefolgert: Der Generationenvertrag kann so nicht mehr länger funktionieren. Nicht selten wird sogar das Horrorszenario eines sterbenden Volkes bemüht. 2060 sollen schon 12 Millionen Menschen weniger in Deutschland leben. In knapp 400 Jahren schließlich sind alle weg. Diese Zahlen präsentierte das Magazin Focus vor dreieinhalb Jahren.
Unseriöse Hochrechnungen
Solche Prophezeiungen sind unsinnig, aber haben sich leider in den Köpfen festgesetzt. Der demografische Wandel und seine gefährlichen Folgen, das ist als Argument quer durch alle Schichten akzeptiert und wird nicht in Frage gestellt.
Versuchen wir es mit Tatsachen: Die Bevölkerung Deutschlands wächst seit sieben Jahren regelmäßig und erreicht aktuell mit rund 83 Millionen Personen erneut einen historischen Rekordwert. Das sind rund 10 Millionen mehr als zu den Babyboomerzeiten in den frühen 1960er Jahren (bezogen auf Gesamtdeutschland).
Um es ganz deutlich zu sagen: Noch nie haben so viele Menschen in Deutschland gelebt wie heute. Es wächst jedoch nicht nur die Gesamtbevölkerung, auch die Zahl der Erwerbstätigen erreicht Jahr für Jahr neue Höchststände: Gerade übertraf sie die 45 Millionen-Marke. Vor zehn Jahren waren es noch 4 Millionen Erwerbstätige weniger. Auch hier gilt: Noch nie waren so viele Menschen in Deutschland erwerbstätig wie heute.
Nun mag man einwenden, für die Rente sei die Anzahl der versicherungspflichtig Beschäftigten sehr viel wichtiger. Doch auch die kennt nur eine Richtung: nach oben. Die Agentur für Arbeit meldet rund 33,5 Millionen Personen, so viele wie noch nie. „Kein Wunder“, sagen jetzt einige: „Da sind ja noch all die Babyboomer dabei.“ Richtig, doch die wurden vor zehn Jahren auch schon mitgezählt. Und da lag die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten noch deutlich unter 28 Millionen. Offenbar sind hier Effekte wirksam, die sich mit den demografischen Horrorprophezeiungen nicht so recht vereinbaren lassen. Zuwanderung (vor allem aus Europa), höhere Erwerbstätigkeit von Frauen, spätere Verrentung – und sogar die Geburten haben in den jüngsten Jahren wieder deutlich zugelegt. Gerade hat die Deutsche Rentenversicherung gemeldet, dass die Zahl der unter Dreijährigen kräftig gestiegen sei und die Bundesregierung deshalb im laufenden Jahr 8,2 Prozent mehr Beiträge für Kindererziehungszeiten überweist.
Wohin das in ein paar Jahren führen wird, weiß heute niemand. Es wird aber deutlich: Die Prognosen der Demografie-Apologeten sind, vorsichtig ausgedrückt, höchst unsicher. Die heutigen Werte hatte vor 10 oder 15 Jahren niemand vorhergesagt. Und die beständig wiederholte Behauptung, der demografische Wandel führe mit Sicherheit zur großen Krise, womöglich zum Ende der umlagefinanzierten gesetzlichen Rente, ist Unsinn.
Robuste gesetzliche Rente
Wahr ist: Der eigentliche demografische Wandel liegt längst hinter uns. Innerhalb von etwas mehr als 100 Jahren hat sich das Verhältnis von Beitragszahlern und Leistungsempfängern so dramatisch verändert, wie das wohl nie wieder passieren wird: 1910 kamen noch 10,3 Menschen im erwerbsfähigen Alter auf einen alten Menschen. Heute beträgt das Verhältnis ungefähr 3:1. Die gesetzliche Rentenversicherung hat diesen demografischen Wandel exzellent überstanden. Die steigende Produktivität sorgte dafür, dass bei steigenden Löhnen und sinkenden Arbeitszeiten auch die Renten deutlich steigen konnten.
Zwar warnten versicherungsfreundliche Wissenschaftler wie Professor Meinhard Miegel schon in den frühen 1980er Jahren vor dem baldigen Zusammenbruch der gesetzlichen Rente, doch diese Szenarien traten nie ein und werden auch nie eintreten. Dennoch hatten sie politische Folgen. Die Lobbyisten der Finanzwirtschaft hatten zur Jahrtausendwende die führenden Politiker um Kanzler Schröder überzeugt, dass das Sozialsystem aus demografischen Gründen „modernisiert“ werden müsse. Die Auswirkungen für die Rente sind bis heute spürbar: Die gesetzliche Rente wurde durch ein Drei-Säulen-Modell ersetzt. Während die Leistungen der gesetzlichen Rente (Säule 1) heruntergefahren wurden, sollten die Menschen zusätzlich in Betriebsrenten (Säule 2) und Riester-Renten (Säule 3) einzahlen.
Milliardengeschäfte auf Kosten der Rentner
Die Rechnung ging auf, jedenfalls für die Finanzwirtschaft. Sie macht seit den rot-grünen Rentenreformen Jahr für Jahr Milliardengeschäfte mit privaten Rentenversicherungen und sogenannten Betriebsrenten, die ganz überwiegend von Allianz & Co. betrieben werden.
Nicht gelohnt hat es sich für Versicherte und Rentner: Die Kosten für das neue Drei-Säulen-Modell sind deutlich höher und dennoch sind die Leistungen insgesamt nicht besser als im alten System, in vielen Fällen sogar deutlich schlechter.
Die Demografie kann für diese Demontage der Rente nicht glaubhaft bemüht werden. Statt weiter und noch stärker die Finanzwirtschaft zu füttern, sollte ein erfolgreiches System wieder auf die Beine gestellt werden. Dass dies tatsächlich funktionieren kann, zeigt das Beispiel Österreich. Dort hatte man sich der Privatisierung der Renten konsequent verweigert mit dem Ergebnis: die Renten liegen dort deutlich höher als in Deutschland.