Das wiedergetrennte Deutschland
Vor den Landtagswahlen am 1. September 2024 brechen alte Konflikte zwischen Ost und West wieder auf. Anstelle von Bekehrungsversuchen sollten wir die Chance nutzen, die im Zusammenfließen verschiedener Lebenserfahrungen liegt.
War die deutsche Wiedervereinigung voreilig? Könnte und sollte man sie etwa wieder rückgängig machen? Marcus Bensmann, Mitautor der berüchtigten Correctiv-Recherche zum „Geheimtreffen“ in Potsdam, ist jedenfalls dieser Meinung. Wegen der hohen Umfragewerte für AfD und BSW müsse man über eine „Trennung nachdenken“, so Bensmann. Es könne nicht angehen, dass ehemalige DDR-Bürger das „Erfolgsmodell der Bundesrepublik“ gefährdeten. Ist das wahr? Brauchen Ostdeutsche Nachhilfeunterricht, um aufzuholen, was Westdeutsche längst mustergültig beherrschen? Oder sollten Bürger eines Landesteils, der eine Nancy Faeser oder einen Karl Lauterbach hervorgebracht hat, vielleicht eher vor der eigenen Haustür kehren und Belehrungen unterlassen? Der Konflikt ist so alt wie das wiedervereinigte Deutschland und sollte in einer Zeit, in der gerade Jüngere kaum noch in Kategorien von „Ossis und Wessis“ denken, allmählich begraben sein. Und doch kocht er gerade in jüngster Zeit wieder hoch. Denn Prognosen zu den Landtagswahlen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen lassen bei Exponenten „unserer Demokratie“ die Alarmglocken läuten. Dabei wäre es ja möglich, dass Ostdeutsche aufgrund ihrer abweichenden Lebenserfahrung unter Demokratie etwas anderes verstehen — und dass eine Zusammenschau der unterschiedlichen Perspektiven für Gesamtdeutschland Bereicherung sein könnte, nicht Bedrohung. Manova startet damit eine Artikelreihe, die rund um den Wahltermin 1. September 2024 die Befindlichkeiten in Ost und West erforscht, die historische Dimension beleuchtet und auch einen Ausblick auf eine Zukunft gibt, welche vorzugsweise kein „wiedergetrenntes“ Deutschland beinhalten sollte. Eher eine Synthese des Besten, was beide Seiten zu bieten haben.
Jetzt lebt sich auseinander, was nicht zusammengehört. So könnte man in Anlehnung an einen Satz von Willy Brandt die momentane Stimmung im Deutschland beschreiben. Dass die Vereinigung noch nicht vollendet sei, dass noch immer „Mauern in den Köpfen“ vorhanden seien, das hören wir seit nunmehr 34 Jahren. Doch anstatt dass sich die Wellen mit den vergehenden Jahren glätten würden, eskalieren Fremdheitsgefühle in letzter Zeit eher noch und schaukeln sich hoch bis zu der absurd anmutenden Forderung von Marcus Bensmann, man solle sich von widerspenstigen Landesteilen einfach — wieder — trennen. „Schon 2004 wollte laut Forsa jeder vierte Westdeutsche die Mauer wiederhaben, unter den Ostdeutschen waren es nur halb so viele, sie sehen sich mehrheitlich als Gewinner“, berichtete die im Osten aufgewachsene Journalistin Daniela Dahn in ihrem Artikel „Die gekaufte Revolution“.
Viel besser ist es seither nicht geworden. Im Mai 2021 hatte der Ostbeauftragte der Bundesregierung, Marco Wanderwitz, formuliert, der Osten benötige wohl Nachhilfeunterricht in Sachen Demokratie.
„Wir haben es mit Menschen zu tun, die teilweise in einer Form diktatursozialisiert sind, dass sie auch nach dreißig Jahren nicht in der Demokratie angekommen sind.“
Er räumt jedoch gnädig ein, ein Teil von ihnen sei „potenziell rückholbar“. Gemeint war schon damals, in Zeiten von noch mäßig hohen Umfragewerten der AfD:
Ossis wählen nicht, wie sie wählen sollen. Hätten sie Demokratie wirklich verstanden, würde dies automatisch in freudige Ergriffenheit angesichts der Politik von Union, SPD, Grünen und FDP münden. Außerhalb der Umzäunung, die durch diese vier Parteiennamen markiert wird, gibt es keine Demokratie.
Somit wäre Demokratie nicht das Recht, zu wählen, was man als Bürger tatsächlich wählen will — vielmehr ergebe sich aus diesem von der Obrigkeit „gewährten“ Wahlrecht auch die Verpflichtung, die eigenen Wahlmöglichkeiten freiwillig auf das den politischen Platzhirschen genehme Spektrum zu begrenzen.
Der untragbare Osten
„Der untragbare Osten“, so nennt der britische Deutschland-Kenner James Hawes die nunmehr „angeschlossene“ DDR. Sein Buch „Die kürzeste Geschichte Deutschlands“ ist ein lesenswerter Essay über deutsche Teilungen und die Kluft zwischen Ost und West, von dem wir wertvolle Anregungen beziehen können. Den Wertungen dieses fundamentalistischen Vertreters einer einseitigen Westbindung Deutschlands müssen wir uns ja nicht unbedingt anschließen. Der Brite macht aus seiner Ost-Phobie nämlich an keiner Stelle seines Buches einen Hehl.
Schon 2019, als die „kürzeste Geschichte“ herauskam, teilte Hawes kräftig gegen die AfD aus, obwohl es ja eigentlich seine Aufgabe gewesen wäre, deutsche Geschichte weitgehend neutral zu vermitteln. „Ist der alte Osten — Ostelbien, wie Max Weber das Gebiet östlich der Elbe einst nannte — wiedererwacht?“, fragt der Historiker. „Trotz der Unsummen, die seit der Wiedervereinigung in die neuen Bundesländer geflossen sind, zeigt sich dort ein brüllendes, autoritäres Gedankengut, das man längst überwunden glaubte.“ Zwei Vorwürfe werden also aus westlicher Sicht erhoben: „Die“ haben „uns“ einen Haufen Geld abgeknöpft. Und zum Dank müssen wir nun mitansehen, wie sich im Osten die Untoten der deutschen Geschichte, Dracula gleich, aus ihren Gräbern erheben — autoritär brüllend.
Zum Beweis veröffentlicht James Hawes eine Karte der deutschen Wahlkreise nach Parteienpräferenz. Wo AfD und Linke stark sind, ist die Karte dunkelgrau bis pechschwarz eingefärbt, wie um die schwarzen Seelen der Wähler dieser Parteien drastisch zu illustrieren. Landstriche mit geringer AfD- und Linken-Präferenz erstrahlen dagegen blütenweiß.
Die Grenze zwischen Dunkel- und Helldeutschland — die Statistik stammt aus dem Jahr 2019 — verläuft exakt entlang der früheren innerdeutschen Grenze. Das sieht auf vergleichbarem Kartenmaterial aus dem Jahr 2024 nicht anders aus.
James Hawes suggeriert damit, dass die Wiedervereinigung nutzlos gewesen sei. Die Teilung wurde dadurch ohnehin nicht aufgehoben. Noch dazu mussten „wir“ uns noch „die“ ans Bein binden — Menschen, die nicht wie „wir“ gegen die Einflüsterungen dunkler Mächte gefeit sind.
Adenauers Angst vor „Asien“
Was also tun? Mit der Idee, man müsse über eine „Trennung nachdenken“, hatte sich Konrad Adenauer, wie es Hawes berichtete, schon während seiner Zeit als Kölner Oberbürgermeister während der Weimarer Republik getragen. Für den Rheinländer war vor allem Preußen ein rotes Tuch. 1919 gab der spätere erste Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland zu Protokoll:
„Würde Preußen geteilt werden, die westlichen Teile Deutschlands zu einem Bundesstaat, der Westdeutschen Republik, zusammengeschlossen, so würde dadurch die Beherrschung Deutschlands durch ein vom Geiste des Ostens, vom Militarismus beherrschtes Preußen unmöglich gemacht.“
Im Oktober 1923 nahm Adenauer einen zweiten Anlauf und erbat von der französischen Regierung die Unterstützung für seine Idee einer „westdeutschen Republik“ — also ohne jene Gebiete, die später als „DDR“ bezeichnet wurden, aber auch ohne die Ostgebiete mit Schlesien, Pommern und Ostpreußen. Die Demarkationslinie, jenseits derer Deutschland für ihn mit Vorsicht zu genießen war, verlief entlang der Elbe. Angeblich hat Adenauer bei jeder Zugfahrt in Richtung Osten bei Überquerung des Flusses die Vorhänge seines Zugabteils zugezogen und „Schon wieder Asien“ gemurmelt. Sicher könnte Marcus Bensmann da emotional mitgehen.
Deutschland erlebte über die Jahrhunderte zahlreiche Teilungen in einen West- und einen Ostteil. Die erste davon verlief entlang des römischen Grenzwalls, des Limes, in einer Zeit, in der man von „Deutschland“ kaum sprechen konnte. Der Limes erstreckte sich entlang von Rhein und Donau mit einer Verbindungslinie ungefähr zwischen Mainz und Regensburg. Eine Teilung, die die Bewohner des Landstrichs in Wessis und Südis einerseits sowie Ossis und Nordis andererseits aufteilte. Erstere waren eingebunden in die Strukturen des römischen Reiches, welches repressive Elemente enthielt, die Bewohner jedoch auch von den zivilisatorischen Errungenschaften Roms profitieren ließ. Östlich dieser Linie war eine unwegsame Wildnis voller Sümpfe, wilder Tiere und raubeiniger, schier unbezähmbarer Barbaren als Bewohner. „Hier die zivilisierbaren Gallier, dort die unzivilisierbaren Germanen“, drückt es James Hawes aus. Östlich des Limes wohnten Menschen, die zur Domestizierung und Umerziehung anstanden, was nicht immer gelang.
Die Elbe indes galt als äußerste Ostgrenze der überhaupt vorstellbaren Welt. Die „Elbe markiert das Ende aller vernünftigen Bestrebungen“. Ein wenig so verhält es sich — aus westdeutscher Perspektive — noch immer mit den östlichen Bundesländern.
Der Sachsenschlächter sorgt für Ordnung
Prägend für die weitere deutsche Geschichte war die Tatsache, dass die Westgrenze Deutschlands durch den Rhein immer klar markiert war, während das Land im Osten ausfranste — nicht greifbar infolge unklarer Grenzen mit wechselndem Verlauf. Immer wieder aber ergab sich folgende Rollenverteilung: „hüben“ Erziehungsberechtigte und Missionare, „drüben“, also im Osten, zu Erziehende und zu Missionierende. Als Karl der Große im 9. Jahrhundert sein Frankenreich etablierte, waren seine renitentesten Gegner interessanterweise die Sachsen — „ein wildes Volk, das Götzen anbetete und dem Christentum feindlich gesinnt war“. Unter ihrem Herzog Widukind trotzten die Sachsen während eines mehr als 30 Jahre andauernden Kriege allen Christianisierungsversuchen seitens westlicher Wahrheitsbesitzer, bis sie sich schließlich unterwarfen. Viele tausend Tote durch Kriegshandlungen und Hinrichtungen, die Karl den Ehrentitel „Sachsenschlächter“ einbrachten, waren das Ergebnis der Forderung, die Ossis müssten unbedingt anders sein, als sie es damals nun einmal waren.
Die Ostgrenze des Frankenreichs um 814 ähnelte tatsächlich verdächtig der späteren „Zonengrenze“ zwischen BRD und DDR. Auch ist auffällig, dass der Herrschaftsbereich Karls des Großen ungefähr dem Gebiet der späteren Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), der Keimzelle der EU, entsprach: Mit Frankreich, der Bundesrepublik Deutschland, Norditalien und den Benelux-Staaten. Eine enge Anbindung an Westeuropa und damit an den zivilisatorisch erschlossenen Bereich des Kontinents war Westdeutschland somit laut James Hawes in die Wiege gelegt. Alles, was östlich davon lag — so werden wir später sehen —, gehörte lange Zeit nicht dazu und löste eher Fremdheitsgefühle aus. Die Elbe wurde für Menschen aus Ostfranken, deren Gebiet annähernd dem der späteren BRD entsprach, nun zu dem, „was der Rhein für Caesar gewesen war: eine Grenze, die zu überqueren verlockend erschien, die aber zuallererst gegen lästige Barbaren verteidigt werden musste“.
Der Osten als kolonialisiertes Land
Ab 1147 setzten Deutsche — sofern der Begriff schon angebracht war — dann tatsächlich über die Elbe und griffen das östlich davon angesiedelte heidnische Barbarenvolk der Wenden (Elbslawen) an. Papst Innozenz II. und der Heilige Bernhard von Clairvaux veranlassten das Gemetzel, das als heiliger Krieg deklariert wurde — bekannt geworden auch als der „Wendenkreuzzug“. Die Güte hatte ihren Stammsitz schon damals im Westen, Ost-Barbaren mussten notfalls zwangsbekehrt werden. Problematisch war nun, dass die Landnahme im Osten weder vollständig gelang noch vollständig misslang. Deutsche und Slawen lebten zwieträchtig zusammen. Man muss sich die Situation eher als Kolonialisierungsprojekt vorstellen denn als ersten Schritt in Richtung eines einigen Vaterlands.
James Hawes schreibt über diese Zeit: In Ostelbien „hatten sich die Siedler das Land mit Gewalt genommen, während die ursprünglichen Bewohner noch immer dort waren und jederzeit rebellieren konnten. Unvermeidlich entstand eine abwehrend-aggressive, koloniale Weltsicht des ‚sie gegen uns‘, nicht anders als zum Beispiel unter britischen Siedlern im halb eroberten Irland“. Diese Konstellation setzte sich bis in die Zeiten des von Otto von Bismarck 1871 begründeten Kaiserreichs fort, in dem erzkonservative Landedelleute, die „Junker“, die Bevölkerung der de facto besetzten polnischen Landstriche zugleich dominierten und verachteten. Diese Junker „stolzierten in ihren Uniformen umher und waren jederzeit bereit, einen respektablen Bürger zum Duell zu fordern, nur weil ihnen sein Blick nicht gefiel. Wurden sie von jemandem angerempelt, den sie als nicht satisfaktionsfähig einstuften, kam es vor, dass sie diesen einfach niederstreckten“. So James Hawes.
Die große religiöse Spaltung
Die Reformation zog eine neue Zweiteilung des deutschen Gebietes nach sich, die Grenze verlief jedoch im 16. Jahrhundert nicht entlang der späteren „Zonengrenze“. Vielmehr zeigte sich das Bild eines Flickenteppichs, eines zerrissenen Deutschlands. Interessant ist aber, dass das Gebiet der späteren DDR fast nur evangelisch, das der späteren BRD dagegen konfessionell gemischt war. Der Osten wurde im 18. Jahrhundert überdies zur Geburtsstätte des berüchtigten preußischen Militarismus, begründet vor allem vom „Soldatenkönig“ Friedrich Wilhelm I., dem Vater des „großen“ Friedrich. Es kam noch schlimmer: Während der Weimarer Republik wurde die NSDAP im evangelischen Teil Deutschlands nachweislich mehr gewählt als im katholischen. In einer Spiegel-Ausgabe heißt es dazu: „Noch im Juli 1932 stammten nur 17 Prozent der NSDAP-Wähler aus überwiegend katholischen Regionen, 83 Prozent waren Nichtkatholiken.“ Das Kartenmaterial, das es dazu gibt, belegt dies eindeutig.
Es gibt verschiedene Erklärungsmodelle für eine mögliche kausale Verbindung zwischen Protestantismus, „preußischen Tugenden“ und den späteren brutalen Exzessen des deutschen Nationalismus. Eines davon besagt, dass der Katholizismus durch eine übernationale, spirituell inspirierte Vision geprägt sei, die mit weltlicher Obrigkeit eher in einem Konkurrenzverhältnis stünde. In den evangelischen Kleinstaaten etablierte sich dagegen rasch eine Tradition enger Verzahnung von Religion und Untertanengeist. Dazu kam ein ausgeprägtes protestantisches Pflicht- und Arbeitsethos. 1522 schrieb Martin Luther: „Der wahre Christ ergibt sich aufs Allerwilligste unter des Schwertes Regiment, zahlt Steuern, ehrt die Obrigkeit, dient, hilft und tut alles, was er kann, das der Gewalt förderlich ist.“ Hieraus ließe sich nun leicht das Klischee ableiten, evangelische Deutschen seien passionierte Untertanen und eigenständigen Denkleistungen eher abgeneigt. Keimzelle dieser verhängnisvollen Tendenz des deutschen Wesens sei der preußisch dominierte Osten. Doch wie wir wissen, ist das Phänomen tatsächlich eher ein gesamtdeutsches.
Der Traum vom „Dritten Deutschland“
Um 1800 dominierten die Großmächte Preußen und Habsburg — später: Österreich-Ungarn — das Geschehen in Mitteleuropa. Das Gebiet, das annähernd der späteren Bundesrepublik Deutschland entsprach, war machtlos und zersplittert. Karl Theodor von Dalberg, Erzbischof von Mainz, träumte damals von einem „dritten Deutschland“ als Gegengewicht zu den beiden östlichen Kolossen, die überdies ihre Energie damit vergeudeten, die unterworfenen slawischen Völker in Schach zu halten.
Ein drittes Deutschland entstand dann auch tatsächlich in etwas zurechtgestutzter Form, allerdings im Schatten der Fremdherrschaft. Napoleon Bonaparte begründete 1806 den Rheinbund, der vor allem Gebiete der heutigen Bundesländer Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg und Bayern miteinschloss.
Wie schon im Fall der Germanen während der römischen Besatzung fügte sich der Westen auch hier der dominierenden europäischen Macht. Die westlichen Gebiete gaben ihre Souveränität auf — oder mussten sie aufgeben — und nahmen dafür wertvolle Kulturimpulse auf, die aus Frankreich hinüberschwappten. Auch die Ideen von Freiheit und Menschenrechten kamen im äußersten Westen zuerst an und gipfelten im Hambacher Fest von 1832. Die Engländer verschenkten das Rheinland nach dem Sieg über Napoleon bei Waterloo 1815 an Preußen, was nicht allen Wessis damals recht war. Denn der preußische Militarismus wurde vielfach als der rheinischen Mentalität wesensfremd, die Ossi-Präsenz als Fremdherrschaft empfunden. Der Düsseldorfer Heinrich Heine schrieb dazu in „Deutschland — ein Wintermärchen“:
„Noch immer das hölzern pedantische Volk,
Noch immer ein rechter Winkel
In jeder Bewegung, und im Gesicht
Der eingefrorene Dünkel.“
Ein Bruderkrieg und Preußens Gloria
Hier vollzog sich eine frühe „deutsche Teilung“ entlang von Mentalitätsgrenzen. Die Zukunft allerdings gehörte im 19. Jahrhundert eindeutig dem Osten, speziell Preußen, dem der „Weltgeist“ (Wilhelm Friedrich Hegel) Wind unter die Flügel pustete. Im Juni 1862 enthüllte Otto von Bismarck seine Pläne mit Gesamtdeutschland auf sehr unverkrampfte Weise:
„Ist die Armee erst auf Achtung gebietenden Stand gebracht, dann werde ich den erstbesten Vorwand ergreifen, um Österreich den Krieg zu erklären, den Deutschen Bund zu sprengen, die Mittel- und Kleinstaaten zu unterwerfen und Deutschland unter Preußens Führung die nationale Einheit zu geben.“
1866 kam es dann tatsächlich zu einem „Bruderkrieg“ zwischen Preußen und Österreich, dem sich einige süd- und westdeutsche Kleinstaaten, darunter Bayern, Hannover und Württemberg, anschlossen. Militärisch war die Süd-West-Allianz chancenlos. Ab 1867 lastete der preußisch geführte Norddeutsche Bund gleich einer riesigen schwarzen Wolke über praktisch dem gesamten Gebiet der späteren BRD und DDR bis nach Schlesien und Ostpreußen. Nur Gebiete, die heute zu Bayern und Baden-Württemberg gehören, blieben „frei“. James Hawes schrieb darüber mit sichtlichem Unbehagen:
„Der Südwesten Deutschlands, seit dem Jahr 100 n. Chr. ein wichtiger Teil Westeuropas, war nun völlig in der Hand einer Macht jenseits der Elbe, die gerade einmal seit dreieinhalb Jahren existierte. Der Schwerpunkt Europas hatte sich dramatisch nach Osten verschoben.“
Boomregion Rheinland versus „asiatische Steppe“
Der erzwungene Anschluss der Südländer an Groß-Preußen hat speziell in meinem Heimatbundesland Bayern bis heute seine Spuren hinterlassen. Vor allem der Mythos des unglücklichen Märchenkönigs Ludwig II., der seine Bayern in zwei Kriege schicken musste und vom Ränke schmiedenden Erzpreußen Bismarck diplomatisch über den Tisch gezogen wurde, erregte die Gemüter. Eine „Prussifizierung“ Bayerns — das ging gar nicht. Der Bayer will — in Anlehnung an Thomas Manns pfundige Romanfigur Alois Permaneder — „sei Bier und sei Ruah“; Preußen dagegen agieren dem Klischee entsprechend zackig und sind stets kriegsfähig, wie man es aus Carl Zuckmayers Theaterstück „Der Hauptmann von Köpenick“ kennt.
Wie kann aus solchen Volksstämmen, die wie Öl und Wasser zu sein scheinen, ein „einig Vaterland“ wachsen? Allenfalls entsteht ein unverdaulicher Einheitsbrei.
Wenn man nun den weiteren Verlauf der Geschichte betrachtet, die an dieser Stelle nicht mehr ausführlich erzählt werden muss — der Wilhelminismus, der verlorene Erste Weltkrieg, die politische und moralische Totalkatastrophe des Dritten Reichs —, dann erklären sich damit einige der Ressentiments von Westdeutschen gegen den Osten, die während der Zweistaatlichkeit von BRD und DDR und auch noch danach eine Rolle spielten. Der australische Historiker Christopher Clark thematisiert in seinem Preußen-Buch „die emotionale Kluft zwischen dem politisch progressiven, industriellen, wirtschaftlich aktiven, urbanen und meist katholischen Westen und der ‚asiatischen Steppe‘ Ostelbiens“. Tendenzen während des Kaiserreichs waren einerseits die „Ostflucht“ — eine Massenmigration aus den östlichen Gebieten in westliche, welche Arbeit und ein „bessere Leben“ versprachen —, andererseits das ungute Gefühl vieler Westdeutscher, den Osten „alimentieren“ zu müssen. Vereinfacht gesagt: Viele Westdeutsche dachten, ohne das ostdeutsche Anhängsel würde es ihnen besser gehen. All diese Phänomene wiederholten sich dann im frisch wiedervereinigten Deutschland ab 1990.
Ein Österreicher auf Preußens Spuren
Was Adolf Hitler betrifft, so interpretiert James Hawes ihn vor allem als den Erben des reaktionären Preußen: „Die urpreußische Idee eines kolonialisierten Lebensraums im Osten wurde nun auch für Hitlers Ideologie zum zentralen Bestandteil.“ Und wie ich schon zuvor angedeutet hatte: „Hätte ganz Deutschland wie das Rheinland, Schwaben und Bayern gewählt, wäre Hitler niemals Kanzler und schon gar nicht Diktator geworden.“ Tja, warum können sich Ossis nicht einfach so benehmen wie Rheinländer oder Bayern — dann wäre alles gut. Die östlichen protestantischen Gebiete formten dann überdies nach 1945 noch eine sozialistisch eingefärbte Überwachungsdiktatur. Und als „wir“ sie dann 1990 endlich befreit hatten, kosteten sie „uns“ hauptsächlich Geld, und bald darauf brannten in Hoyerswerda, Rostock-Lichtenhagen und anderen Städten die Asylbewerberheime. Der untragbare Osten.
Dieser kleine geschichtliche Rückblick dient nur dem Zweck, heutige Fremdheitsgefühle zwischen Ost und West zu erklären und auf längerfristige diesbezügliche Traditionen hinzuweisen. Gut und heilsam sind Verallgemeinerungen und einseitige Schuldzuweisungen dieser Art natürlich nicht und waren es auch nie. Denken wir etwa an den „brüllenden Autoritarismus“ und Militarismus des Ostens. Boris Pistorius kommt aus Osnabrück, Anton Hofreiter aus München, Marie-Agnes Strack-Zimmermann aus Düsseldorf und Roderich Kiesewetter aus Pfullendorf in Baden-Württemberg.
Der Militarismus ist offenbar aus Preußen weiter nach Westen gewandert. Und heute bedeuten die Erfolge von nicht so kriegstüchtigen Parteien in den ostdeutschen Bundesländern Hoffnung, dass der große Krieg, in den Regierung und eingebettete Opposition derzeit zu taumeln scheinen, vielleicht doch noch verhindert werden kann.
Was zusammengehört
Den Osten amputieren — wegen des schier unbegreiflichen Faibles dieses Menschenschlags für Björn und Sahra? Dieser Vorschlag erscheint nicht nur herzlos, er verkennt auch die Chancen, die in genau der historisch gewachsenen Konstellation besteht, die wir jetzt vorfinden. Es ist eben nicht nur eine wohlmeinende Phrase, zu argumentieren: „Zusammen sind wir vielleicht klüger.“
Europa hat eine vom Kriegsende bis 1990 andauernde Phase der Ost-West-Teilung durchlitten. Jedes europäische Land — neutrale Staaten ausgenommen — blickt aber entweder ausschließlich auf eine Ostblock- oder auf eine Westblock-Vergangenheit zurück. Nur ein Land vereinigt beides: Deutschland. Wobei sich in Berlin diese ebenso faszinierende wie schmerzhafte Geschichte noch einmal auf kleinem Raum wiederholt hat. Die Chancen, die sich durch das Zusammenfließen dieser beiden unterschiedlichen Prägungen in einen gemeinsamen Strom der Geschichte ergibt, sind gewaltig. Dass es dabei gelegentlich hakt, dass Konflikte und Fremdheitsgefühle aufbrechen, ist schwer zu vermeiden. Im Ganzen aber überwiegt die historische Möglichkeit gegenseitiger komplementärer Ergänzung und Bereicherung, des einander Zuhörens und voneinander Lernens.
In den Wendejahren ist vieles aufgebrochen, und es entstand eine fiebrige Aufbruchstimmung, so als wären wir alle von einem Sog aus der Zukunft erfasst worden. Träume von einem „dritten Weg“ zwischen Kapitalismus und Sozialismus sprießten. Das ungeheure Feld der Möglichkeiten, das viele Menschen — auch im Westen — begeisterte und inspirierte, schrumpfte schließlich zusammen auf die Formel eines De-facto-Anschlusses der DDR an die BRD, auf D-Mark und „Helmut!“-Rufe. Symbol dieser unkreativen und einebnenden Form der „Vereinigung“ war der architektonisch gänzlich verhunzte, mehr oder minder an Markenfirmen verscherbelte Potsdamer Platz. Analog dazu wurde das ganze Land eine kapitalistische Monokultur. Elemente eines stärkeren sozialen Zusammenhalts, von denen Ossis immer wieder gern berichten, hatten in Gesamtdeutschland nie eine wirkliche Chance gehabt. Es gehört zu den ungerechtesten Aspekten im derzeitigen öffentlichen Diskurs, dass der Westen den Vereinigungsprozess zwar dominiert hatte, dass die „Schuld“ an dem, was aus westlicher Perspektive schiefgelaufen war, jedoch dem Osten angelastet wurde.
Zum zweiten Mal Anschluss
Nun, 2024, steht das Land wieder am Scheideweg zwischen den beiden Optionen einer wirklichen Vereinigung und eines Anschlusses, also der totalen Kapitulation des Ostens vor dem Westen. Letztere hätte zur Folge, dass sich die eigene Kontur des widerspenstigen kleineren Partners auflöste und weggespült würde wie eine Sandburg von der steigenden Flut an der Ostsee.
Infolge der fürsorglich-erdrückenden Umarmung seitens der größeren, vermeintlich moralisch überlegenen Landeshälfte müsste Ostdeutschland einfach aufhören, es selbst zu sein — dann wäre scheinbar alles gut. Wie das alte Preußen wäre Ossiland, auch genannt die „Ex-DDR“, dann nur noch in der historischen Erinnerung präsent, nicht jedoch als vitale, eigenständige Gestalt in der Gegenwart mit dem Potenzial, deutsche Zukunft mitzugestalten.
Hier nun ein paar Besonderheiten Ostdeutschlands, die für mich positives Potenzial haben:
- Eine Vertrautheit mit sozialistischen Theorien und den Möglichkeiten ihrer praktischen Ausgestaltung — einschließlich der Grenzen ihrer Umsetzbarkeit und erkennbarer Schattenseiten. Die Idee von Solidarität und Gleichheit stand in der DDR hoch im Kurs. Eine uneitle, nicht materialistische Haltung, Zusammenhalt und gegenseitige Hilfe im Alltag prägten oft das Bild und werden von „Ossis“ nach der kapitalistischen Landnahme von 1990 nicht selten vermisst. Es gab ein Gefühl der Geborgenheit und Entspanntheit auch in materiell relativ bescheidenen Verhältnissen, während im Westen Selbstoptimierungsdrang sowie Wettbewerbsdruck und eine vom System geförderte Einzelkämpfermentalität vorherrschten.
- Größere Vertrautheit mit den Gegebenheiten in Russland und anderen osteuropäischen Ländern — auch durch persönliche Kontakte und Sprachunterricht. Ostdeutsche können sich oft besser in die Perspektive Russlands hineinversetzen, sind nicht so leicht durch medial verordnete Russophobie aufzuwiegeln und daher vielleicht geeignet, zwischen den Standpunkten zu vermitteln.
- Ostdeutsche haben Erfahrungen mit einem totalitären Staatswesen gesammelt sowie mit den Anpassungsreaktionen der Bevölkerungsmehrheit und der Medien an dieses. Dies führt zu erhöhter Wachsamkeit gegenüber staatlicher Propaganda. Ein Grundmisstrauen gegenüber der „Obrigkeit“ und einer Medienlandschaft, die sich oft allzu sehr an diese anschmiegt, ist vielen im Osten geblieben.
- Ostdeutsche reagieren oft flexibler auf das politische Handeln der Mächtigen. Sind die Leistungen einer Regierung katastrophal — wie die der momentanen —, so werden die beteiligten Parteien oft mit Umfrageergebnissen abgestraft, die ebenso katastrophal sind. So finden wir in Prognosen für Sachsen und Thüringen vor der Landtagswahl am 1. September 2024 die Regierungsparteien Grüne, SPD und FDP bei knapp über oder sogar unter 5 Prozent. In Westdeutschland dagegen wählt die Mehrheit — einer rätselhaften „Programmierung“ folgend — stets vor allem Unionsparteien, SPD, Grüne oder FDP, und zwar völlig unabhängig von deren politischer Performance. Sind Wählerwanderungen im Westen oft nur ein sanftes Wellenkräuseln an der Oberfläche des politischen Geschehens, so kann man im Osten regelrechte Achterbahnfahrten beobachten. Mal haben wir es mit einer sehr starken Linken, dann wieder mit einer überragenden AfD oder mit einem jäh emporschießenden BSW zu tun.
Viele Wessis dagegen würden wohl noch verarmt, krank gespritzt oder im Bombenhagel eines Dritten Weltkriegs mit ihrem letzten Atemzug einen Treueschwur in Richtung ihrer Lieblingspartei ausstoßen, die ihr Elend mit verschuldet hätte.
Neue Zwangsbekehrung zum Wokismus und „Antifaschismus“
All diese Aussagen über „den Osten“ beinhalten natürlich Verallgemeinerungen und Idealisierungen. So gab es in der DDR nicht nur rührende Fälle von Solidarität unter den Menschen, sondern auch von gegenseitiger Bespitzelung und Kontrolle. Es wird aber vor dem Hintergrund der oft einseitigen Kritik, die etwa der Sachbuchautor James Hawes am Osten übt, deutlich, dass man vieles davon auch ganz anders sehen kann. Tatsächlich drängt sich der Gedanke auf, eine Synthese aus den Errungenschaften beider Landesteile wäre für alle Beteiligten die gesündeste Lösung. Stattdessen wird nun vom westlich dominierten Polit-Establishment und dessen Haus- und Hof-Medien wieder der Endsieg „westlicher Werte“ angestrebt.
Eine Wiedereröffnung der DDR nach einer erneuten Trennung der „alten“ von den „neuen“ Bundesländern dürfte zwar keine ernsthafte Option sein, jedoch schwebt Anhängern eines rein westlich geprägten Gesamtdeutschlands wohl ein beinahe ebenso perfides Szenario vor: Ossis sollen lernen, endlich so zu denken und zu wählen, wie sie denken und wählen sollen, oder sie sehen sich andauernden Beschimpfungen und Umerziehungsversuchen ausgesetzt. Ihr Einfluss auf das gesamtdeutsche Geschehen soll nach Möglichkeit neutralisiert werden, ihre Wahlentscheidungen sollen niemals dazu führen, dass die von ihnen favorisierten Parteien tatsächlich an die Regierung gelangen. Mithilfe verschiedener Tricks wird dafür gesorgt, dass auch Ostdeutsche — egal, wofür sie sich entschieden haben — am Ende immer von Union, SPD, Grünen und FDP regiert werden.
Die Himmelsrichtungen der Freiheit
So hat sich die von James Hawes beklagte ungesunde Dominanz des „preußischen Geistes“ über Süd- und Westdeutschland jetzt umgekehrt in eine einseitige Herrschaft der an Rhein, Nordsee und Alpenrand geborenen Wesensart. Dort fand sich in der Geschichte zwar teilweise ein freier, demokratischer Geist in der Art des Hambacher Fests, der Badischen Revolution oder der Bayerischen Räterepublik, jedoch ist die Freiheit in diesen Regionen heute leider nicht mehr zu Hause. Durchgesetzt hat sich die fatale west- und süddeutsche Neigung, sich an die jeweils dominierende Großmacht widerstandslos anzuschmiegen. Nach dem Römischen Reich und dem napoleonischen Frankreich sind es jetzt die USA, denen die Nibelungentreue von Mehrheitswestdeutschland gilt.
Über die wilden Barbarenstämme des Ostens brandet — nach gelungener Christianisierung — eine neue Umerziehungswelle herein, die in die Zwangstaufe aller Widerstrebenden im Geiste des Wokismus und des „Kampfes gegen rechts“ münden soll.
Diesen Weg weiterzugehen wäre aber ein fataler Fehler. Westdeutschland sollte den Osten nicht nur „tolerieren“ — es braucht ihn vielmehr ganz dringend als Inspiration und Korrektiv, soll es überhaupt noch einmal etwas werden mit diesem rasant in Richtung „Failed State“ abdriftenden Land.