Das Wagnis des Wägens

Im Bemühen um die optimale Balance sollten alle Interessen und Meinungen grundsätzlich das gleiche Gewicht haben.

Digitale Waagen sind nützlich, die altmodischen mit zwei an einer Mittelachse aufgehängten Schalen besitzen jedoch größere Symbolkraft. Alles im Leben ist eine Frage des Abwägens. Wir werfen ein Argument in die Waagschale, die Gegenseite tut dies auch, sodass sich die Waage für einen Moment zur anderen Seite neigt. Grundsätzlich halten wir das, was wir meinen und wollen, für enorm gewichtig — als intellektuelles Leichtgewicht erscheint indes der Andersdenkende. Die Dynamik des Lebens allerdings strebt meist nach Ausgleich. Wo ein schweres Gewicht die eine Seite bleiern am Boden hält, ist dagegen Stillstand — keine Entwicklung mehr, keine wirkliche Debatte. So ist es unserer Gesellschaft in den letzten Jahren gar nicht gut bekommen, dass sie faktisch von einer Großpartei mit zwei autoritaristischen und bellizistischen Flügeln regiert wurde. In einer Zeit, in der alle so eindeutig wissen, was richtig ist, ist es zu einem Wagnis geworden, zu wägen.

„Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ — ein Satz des Gleichgewichts, gleichsam ein Satz, aus dem das Wörtchen „wie“ besonders hervorgehoben scheint. Könnten wir diesen Satz und das wiegende WIE als Orientierung für uns (wieder)beleben, würden wir eine völlig andere Art des Dialoges führen.

Digitale Geräte haben die Balkenwaage längst abgelöst, es wird kaum noch mit ihr gewogen. Doch ist sie uns als Bild, auch als Symbol — unter anderem der Justitia — durchaus noch vertraut.

Die Waage ist eines meiner Lieblingssymbole und mich prägenden Lieblingsthemen — das Anstreben von Gleichgewicht, Äquilibrium, ist für alles Leben zentral. Da es nie als statisches Moment, als Dauerergebnis zu erreichen ist, scheint es wie die Kernmotivation, eben zentraler Antrieb für Entwicklungsprozesse.

Wir wägen permanent, Ungleichgewichte welcher Art auch immer sind Signale, sind unkomfortabel, erzeugen immer wieder aufs Neue Unwohlsein oder bei Nichtbeheben lebensbedrohliche Zustände. So sind wir in einer ständigen Aus-Gleich-Bewegung.

Der Ungleichgewichtszustand von Hunger will Nahrungs-Ausgleich, das sich selbst unwert empfindende Selbsterleben sucht oft durch Macht oder Leistung nach Aufwertungs-Ausgleich, kognitive Dissonanz — einer jener vielen Begriffe, der in der Coronazeit an Bedeutung gewonnen hat —, das Ungleichgewicht zwischen an mich herangetragener Information und innerem Fassungsvermögen, fordert entweder innere Weitung oder aber, uns allen wesentlich vertrauter, ein Verleugnen, Abspalten, Diskreditieren und damit letztlich ein mögliches Vernichten der unbequemen Informationen, des unerträglichen Anderen.

So weit so fein — so unfein.

Aus den Gebotstafeln, die mir die christliche Tradition vor die Nase hält, leuchtet mich ein „Gebot“ unerlässlich fragend an:

„Liebe deinen Nächsten WIE dich selbst.“?

Die Frage, die das kleine Wörtchen „wie“ aufwirft, könnte mehr als eine Frage sein, sie könnte Wegweiser, Weichenstellung, Weltveränderung, tiefste Friedensstifterin sein.

Doch die Welt einschließlich der Kirche scheint dieses WIE vergessen zu haben, oder ausradiert, oder verleugnet, oder der Satz wird nur bis zur Hälfte gelesen. Selbstliebe wird als Egoismus verinnerlicht, Nächstenliebe irgendwie zu einem aufwertenden und solidarischen Muss hingebogen.

Jetzt mal ehrlich — haben wir, hat irgendjemand von uns wirklich mehr als eine Ahnung, was dieser Satz, was Lieben, Du-Liebe und Selbst-Liebe, geschweige denn das verbindende WIE in der Tiefe bedeutet oder bedeuten kann?

Ich auch nicht. Aber eben — ich werde von diesem Satz immer wieder existentiell angefragt, aufgefordert, bewegt. Daher hier ein paar Gedanken.

Das WIE stellt zwischen Du und Ich das Wägen her, das Bild des Gleich-Gewichtes, aber auch eine Gleichgewichts—Aufforderung und damit unmittelbar den Prozess des Gleichgewicht—Schaffens. In keiner Waagschale befindet sich Wägegut mit einer größeren Bedeutung oder mehr Wert.

Würden wir, also du und ich, mit diesem inneren Bild und mit einer tragenden, reifen, umfassenden Fähigkeit des „Liebens“, dieser integrierend-staunenden-offenen Haltung zum und im Leben, die immer in beide Richtungen, nach innen wie nach außen, eigentlich rundherum wirkt, die dich meint wie mich, dein Leben wie gleichsam meines, würden wir also in dieser Weise zusammenkommen, dann ja dann würden wir in einen komplexen und spannenden, Gewalt immer wieder einfangenden Prozess des „Aushandelns“ eintreten.

Es kann in einem so geführten wirklichen und wirkenden Dialog aufgrund des grundlegenden „Gebotes“ der Waage nicht darum gehen, dass du dich meiner bemächtigst oder ich mich deiner, dass ich dich schlucke oder du mich, dass ich meine Bedürfnisse fallen lasse oder du deine, nein, das Gebot dieser wunderbaren, wenn auch möglicherweise zunächst sehr anstrengenden Art des Dialoges heißt:

Meine Inhalte, meine Wahrnehmungen, meine Gefühle, meine Vernunft, meine Bedürfnisse, meine Visionen, mein Gewordensein, meine Werte, all das liegt auf meiner Waagschale und ist gleichwertig zu deiner.

Deine Inhalte, deine Wahrnehmungen, deine Gefühle, deine Vernunft, deine Bedürfnisse, deine Visionen, dein Gewordensein, deine Werte, all das liegt auf deiner Waagschale und ist gleichwertig zu meiner.

Zwei Waagschalen, die sich begegnen, die in die Waage des Dialoges gehängt werden und damit den interessanten Abwägungs-Prozess starten könnten. Da es nicht möglich sein kann, sich zu bemächtigen, geht es immer um Weitung.

Wenn wir dieses Gebot, den Satz mit dem Wie, als grundlegend, als leitende Orientierung ernst nehmen und nicht verlassen würden — oder auch uns immer wieder gegenseitig und miteinander daran erinnern könnten —, wäre das nicht auch der Weg in ein wirklich gewaltfreies und machtfreies Miteinander-Sein?

Nicht dass wir es schon könnten. Aber wir können uns dessen bewusster werden, wir können miteinander beginnen, es zu leben.



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