Das vorstellbare Glück
Sich eine heile Welt auszumalen, ist nicht bloß Selbsttäuschung — es hilft uns, die Richtung zu finden, in die wir gehen können.
„Vielleicht hältst du mich für einen Träumer, aber ich bin nicht der einzige.“ John Lennon entwarf in seinem Lied „Imagine“ eine der berühmtesten Positiv-Visionen. Auch Martin Luther King begeisterte mit seiner Rede „I have a dream“. Ist all das nur Weltflucht? Sollten wir nicht statt dessen vernünftig und realistisch bleiben? Nicht unbedingt. Auch Idealvorstellungen, wie sie die Autorin in diesem Artikel entwirft, sind eine Form von Kritik — nur ohne die deprimierende Wirkung, die die Erzeugnisse von Schwarzsehern haben. Wer die Richtung nicht kennt, in die er gehen will, wird vermutlich gar nicht erst aufbrechen und jammernd in seiner Misere steckenbleiben. Das gilt auch für gesellschaftliche Missstände. Die Autorin entfaltet, anknüpfend an den Halbsatz „Wenn die Welt in Ordnung wäre ...“, ein faszinierendes Szenario.
Wenn die Welt in Ordnung wäre ...
dann gäbe es vielleicht zu Beginn noch eine Rest-Elite, bestehend aus Psychopathen, welche für sich selbst und vor allem für alle anderen Menschen lebensgefährlich sind. Doch in einer idealen Welt würden das sehr viele Menschen sofort bemerken. Niemand würde sich mit ihnen abgeben oder mit ihnen zusammenarbeiten wollen, würde ihnen irgendetwas abnehmen oder abkaufen. Sie würden keinen Kredit bekommen, sie könnten keine Verträge abschließen, das würde allen potenziellen Vertragspartnern zu unsicher sein, zu unmoralisch oder einfach nur zu blöd.
Bald schon würden Polizisten, Anwälte und mindestens jedoch Ärzte feststellen, dass das tickende Zeitbomben sind. Man würde sie einfach irgendwo gut unterbringen, liebevoll umsorgen, gut auf sie aufpassen, um sie vor sich selbst und vor allem andere vor ihnen zu beschützen.
Wenn die Welt in Ordnung wäre …
... dann würden alle Eltern und Lehrer und sowieso alle Mitmenschen gut auf alle Kinder achten, damit sie sich frei und ohne Zwang entfalten können.
Die Menschen würden wieder instinktiv wissen, was Kinder wirklich brauchen, würden von ihnen fernhalten, was sie quält oder beleidigt oder in ihrer Entwicklung hemmt oder stört.
Sie hätten alle die größte Freude ihres Lebens, lachende, spielende Kinder zu betrachten, und wären dankbar, ihnen gute Wegbegleiter sein zu dürfen. Sie würden wissen, wie sie den Kindern gute Vorbilder sein können, wie sie ihnen vorleben könnten, was es ist, das einen Menschen glücklich und zufrieden macht.
Sie würden jederzeit gern den Kindern zeigen, was sie können, ihnen beibringen, es auch zu können. Die Kinder würden es ihnen auf ihre Weise danken, mit ihrem Lachen, mit ihrem Singen, mit ihrem Staunen. So würden sie die Erwachsenen immerzu daran erinnern, was Leben bedeutet, wie kostbar und wunderbar das Leben ist.
Wenn die Welt in Ordnung wäre …
... dann würden Ärzte davon leben, dass sie den Menschen dienen und nicht umgekehrt. Sie hätten kein Bedürfnis, reicher und immer reicher zu werden, sie hätten ihre Freude an glücklichen und gesunden Menschen. Sie würden den ihnen anvertrauten Menschen helfen, ein gesundes Leben zu führen. Sie wüssten um deren Lebensumstände Bescheid und würden sich dafür einsetzen, dass diese Menschen das haben, was sie benötigen, damit sie sich wohl fühlen.
Wissend darum, dass Krankheit, Leid, Schicksal und Tod zum Menschenleben dazugehören, würden sie in solchen schweren Zeiten ihren Menschen beistehen, sie oft besuchen, deren Hand halten, Trost sprechen und Zuversicht verbreiten. Vor allem bei den Sterbenden würden sie oft sitzen, deren Leiden lindern, so gut sie nur können, sie unterhalten, ihnen einen Witz erzählen, deren Tränen trocknen und sie nicht allein lassen. Und sie würden dafür sorgen, dass jene, die über die Schwelle gehen, dies in Würde tun können.
Wenn die Welt in Ordnung wäre …
... dann würde es Priester und Priesterinnen geben, die den Menschen davon erzählen, dass sie Gottes geliebte Kinder sind, dass sie göttliche Schöpferfunken in sich tragen, dass sie von Geburt an gut sind und es ihr Geburtsrecht ist, frei zu sein, und dass sie sich niemals vor irgend etwas fürchten müssten, vor allem nicht vor ihrem Gott. Sie würden den Menschen erzählen, dass die Welt ein wundervoller Ort ist, um sich weiterzuentwickeln, hin zum Höchsten und Schönsten, was sie sich nur denken könnten. Dass sie so werden können und sollen wie die Engel und wie ihr Gott. Sie würden den Menschen zeigen, wie schön Gottes Natur ist und wie gut es ist, diese zu schützen und zu pflegen, sich um die Natur zu kümmern, wie eine gute Mutter sich um ihre Kinder kümmert.
Sie würden den Menschen erzählen, dass es auf Gottes Erde keinen Mangel gibt, dass für alles gesorgt ist, was ein Mensch braucht, um zu leben und um glücklich zu sein.
Sie würden den Menschen davon erzählen, dass sie beseelter Geist sind, welcher in einem Körper wohnt, der gut und liebevoll versorgt sein will. Dieser Körper, so würden sie sagen, würde ihrer Seele und ihrem Geist als gutes Werkzeug dienen, um sich zu entwickeln und um schöne Dinge zu erschaffen zum Wohl der Welt und der Natur. Sie würden den Menschen erzählen davon, dass ihr Gott am meisten Freude hat, wenn seine Menschen singen, tanzen und einander liebevoll zugetan sind.
Wenn die Welt in Ordnung wäre …
... dann würden die Alten unter den Menschen die am höchsten Geachteten sein, denn sie haben viele Jahrzehnte lang sich um Menschen gekümmert, saßen nächtelang an Krankenbetten, haben Nahrungsmittel angebaut, haben Fähigkeiten, Wissen und Lebensweisheit angesammelt. Nur von ihnen haben die Jungen alles gelernt, was sie nun wissen und können und noch lernen werden. Alles, was erschaffen wurde, stammt von ihnen. Zu ihnen werden die Jungen gehen, um sich Rat zu holen, um zu lernen, um in Not Hilfe zu bekommen.
Die Alten werden sich um die ganz Kleinen kümmern, wenn die Jungen keine Zeit haben, werden die Kleinsten auf ihrem Schoß haben, ihnen Geschichten erzählen, ihnen vorlesen, mit ihnen spielen und sich aneinander freuen. Ihnen haben die Jungen alles zu verdanken, restlos alles. Sie sind unersetzlich. Und da sie ein Leben lang geliebt haben, werden sie weise sein und die Fähigkeit erworben haben, zu segnen. Ohne diesen Segen geht es nicht in der Welt, wie man heute sieht.
Wenn die Welt in Ordnung wäre …
... dann würden die Menschen wieder ein Gefühl entwickeln dafür, was sich gehört und was man einfach nicht tut, weil es lieblos ist, weil es nicht Leben spendend oder nicht Glück bringend für sich selbst und für die Mitmenschen ist. Sie würden wieder zu sich selbst finden, sich selbst erleben als Schöpferwesen, liebenswert und zur Liebe fähig, fähig zur Kunst und zur Freude. Sie würden Erfüllung finden in Beschäftigungen, die den Menschen dienlich sind, sie würden ihre Mitmenschen achten und ihnen gerne dienen, weil alle anderen wiederum auch ihnen gerne dienen.
Sie würden von allem nehmen können, was sie für sich und ihre Lieben brauchen, und allen geben, was diese für sich und ihre Lieben brauchen. Sie würden einander fragen, was sie benötigen oder was ihnen fehlt, und Abhilfe schaffen. Das würde sie glücklich machen. Sie bräuchten keine leeren Ersatzbefriedigungen mehr, die niemals satt oder glücklich machen. Sie müssten nichts mehr beweisen oder vorweisen, um anerkannt zu sein, es würde genügen, dass sie Mensch sind, dass sie lieben und ihre Fähigkeiten den Mitmenschen schenken. Das Schenken würde endlich erkannt werden als das, was am glücklichsten macht. Raffen und Horten würde ihnen sehr krank vorkommen, und sie würden das meiden.
Wenn die Welt in Ordnung wäre …
... dann würden die Menschen auf die Vergangenheit schauen und wären fassungslos über so viel Dummheit über Jahrtausende und könnten nicht glauben, dass es eine Zeit gab, in welcher die Menschen so sonderbar lebten wie im Jahre 2021. Vielleicht würden sie sogar sagen: „Ja, damals, da war alles so schlimm, dass die ganze Menschheit und die ganze Welt fast zugrunde gegangen wären, doch dann kam die große Wende. Die kranken Mächtigen wurden glücklicherweise alle in Sanatorien gebracht, um dort gut versorgt zu werden. Die Welt konnte sich erholen und zu neuer Kraft finden.
Durch die Wende erkannten ein paar Menschen endlich, was ein Mensch ist, und begannen ein anderes Leben. Wie gut, dass es ein paar gab, die das verstanden haben und das Wissen oder die Ahnung hatten, wie es sein sollte. Wie gut, dass einige noch nicht völlig zerstört waren an Leib und Seele, dass es welche gab, die ihren Geist geschützt und genährt haben auf ihre Weise, um eine neue Zeit einzuläuten. Diesen wenigen haben wir alles zu verdanken, unsere Freiheit, unser Glück, unsere Gesundheit, die Liebe unter den Menschen, einfach alles. Sonst gäbe es uns jetzt nicht.“
Wenn die Welt in Ordnung wäre …
... dann wäre sie nicht deshalb in Ordnung gekommen, weil irgendeine Regierung das so befohlen oder eine bestimmte Partei diesen Wandel herbeigeführt hätte. Die Welt wäre in Ordnung gekommen, weil überall einzelne Menschen dies alles begriffen hätten, es sich gewünscht hätten und sie einfach damit angefangen hätten, so zu leben, so zu arbeiten, so zu lieben. Sie hätten es ganz einfach gemacht. Und sie hätten von ihrer Sehnsucht nach einer Welt, die in Ordnung ist, gesprochen zu vielen Menschen.
Sie hätten es auf sich genommen, von allen anderen verhöhnt, verlacht oder ausgegrenzt zu werden. Sie hätten wenig Besitz gehabt, nur das Nötigste, dafür aber eine geistig-seelische Gesundheit gehabt und durch ihr Sosein enorme Mut- und Willenskräfte entwickelt.
Sie hätten an ihrer Vision einer schönen Welt und an ihrer Idee von Liebe unter den Menschen festgehalten, um jeden Preis, und alles gegeben für ihr Ziel. Dies wäre ihre Lebensaufgabe geworden, dafür wollten sie leben. Sie hätten es geschafft, weil sie bedingungslos zueinander gehalten hätten und füreinander da gewesen wären.
Dies hätte bewirkt, dass die ihnen nahestehenden Menschen bemerkt hätten, dass das viel schöner ist, was diese Einzelnen da machen, und hätten es auch versucht. Dann wären hier oder da zwei oder drei gewesen, die einfach so gelebt hätten. Und das wären dann mehr geworden, und so wäre es dazu gekommen, dass die Welt endlich in Ordnung kam.