Das Vorbild mit Siegerlächeln

Indem er abwärtsstrauchelnde Fußballvereine wieder an die Spitze hievte, erlangte Fußballtrainer Jürgen Klopp weltweites Ansehen. Deutsche Politiker wären gut damit beraten, sich von ihm eine Scheibe abzuschneiden.

Es gibt nur wenige Deutsche, die sowohl in Deutschland als auch im Ausland über so ein hohes Ansehen verfügen wie Jürgen Klopp. Wo er auch hingeht, gewinnt er die Herzen der Menschen. Nach neun Jahren als Trainer im nordenglischen Liverpool überbieten sich die britischen Gazetten bei seinem Abschied mit Lobeshymnen auf den „besten Botschafter Deutschlands“, den es auf der Insel je gab. Wie gelingt ihm, der aus dem beschaulichen Glatten am Fuße des Schwarzwaldes stammt, ein solches Kunststück? Und könnten sich deutsche Regierungsvertreter von ihrem inoffiziellen Gesandten womöglich eine Scheibe abschneiden? Eine Spurensuche. Ein Text zum #Fußball-EM-Spezial.

Wir schreiben den 7. Mai 2019, es ist kurz nach halb 11. An der legendären Anfield Road im Liverpooler Stadtteil Merseyside stehen sich im Champions-League-Halbfinale zwei Schwergewichte des Weltfußballs gegenüber: Der FC Liverpool und der FC Barcelona. Unter anderem dank eines Kunstwerks eines Freistoßtores (1) durch den argentinischen Ausnahmeathleten Lionel Messi hatte das katalanische Star-Ensemble das Heimspiel im heimischen Camp Nou mit 3:0 für sich entschieden. Für den FC Liverpool rund um den gebürtigen Schwaben und Cheftrainer Jürgen Klopp eine nahezu aussichtslose Ausgangslage für das Rückspiel. Doch Jürgen Klopp wäre nicht Jürgen Klopp, wenn er es nicht lieben würde, mit dem Rücken zur Wand zu stehen.

Fünf Jahre zuvor, damals noch in Diensten von Borussia Dortmund, war seine Mannschaft im Hinspiel des Champions-League-Viertelfinals mit 3:0 vom spanischen Rekordmeister Real Madrid abgewatscht worden. Doch damit nicht genug: Mit einem Hauch von Häme und Despektierlichkeit konfrontierte der ZDF-Moderator Jochen Breyer den sichtlich niedergeschlagenen Klopp nach dem Spiel mit der Frage: „Das Ding ist durch, oder?“ „Wie könnte man mir Geld für meinen Job überweisen, wenn ich jetzt sagen würde, das Ding ist durch?“ entgegnete der damalige BVB-Trainer, bevor er das Mikrofon auf den Tisch fallen ließ und entnervt aus dem Studio stürmte (2).

Das Rückspiel im Dortmunder Westfalenstadion gewann sein Team mit 2:0. Zwar reichte dieses Ergebnis nicht, um ein Ausscheiden zu verhindern, doch mit einer kämpferischen Leistung der Extraklasse hatte sich die bis aufs Mark durch Verletzungen dezimierte Borussen-Elf in die Herzen der europäischen Fußballfans gespielt. Trotz des Ausscheidens feierten die BVB-Fans ihre Mannschaft mit stehenden Ovationen. „Das Spiel musst du konservieren, ein Video draus machen und allen Mannschaften zeigen, die mal 3:0 zurückliegen nach dem ersten Spiel“, sagte Klopp nach Abpfiff im Fernsehinterview (3).

Es ist nicht überliefert, ob Klopp — fünf Jahre später — seinen Mannen vom FC Liverpool vor dem Rückspiel gegen den FC Barcelona einen Zusammenschnitt ebenjenen Spiels vorgeführt hat. Unwahrscheinlich scheint es jedoch nicht, angesichts der 78. Minute des Spiels, als Trent Alexander Arnold, seines Zeichens Rechtsverteidiger bei den Nordengländern, beim Stand von 3:0 für Liverpool zur Eckfahne trottet, um eine Ecke auszuführen, die wenig später als „die wahrscheinlich beste Ecke aller Zeiten“ in die Geschichtsbücher eingehen sollte.

Arnold bewegt sich weg von der Eckfahne und blickt zu seinem Mitspieler. Alle der knapp 55.000 Anwesenden in Anfield, inklusive der elf Spieler des FC Barcelona, denken in diesem Moment wohl, dass er ihm die Ausführung der Ecke überlassen wird. Doch dann geht alles blitzschnell: Arnold bricht seinen Laufweg ab, läuft zurück zum Ball und spielt einen harten, halbhohen Pass in die Höhe des Fünfmeterraums. Dort steht Divock Origi, ein belgischer Nationalspieler, der ein Jahr zuvor noch in Diensten des VFL Wolfsburg in letzter Sekunde dem Abstieg aus der Bundesliga von der Schippe gesprungen war. Origi, vermutlich selbst vollkommen überrascht von Arnolds Geistesblitz, hält reflexartig seinen rechten Fuß hin. Der Ball landet unhaltbar im oberen Kreuzeck (4). Es ist das 4:0 für Liverpool und Origis zweiter Treffer an diesem Abend. 15 Minuten später pfeift der Schiedsrichter die Partie ab. Das Wunder von Anfield ist perfekt. Der FC Liverpool steht im Finale der Champions League.

Einen Monat später ist es abermals Origi, der im Wanda Metropolitano von Madrid mit seinem Treffer zum 2:0 den FC Liverpool nach Jahren chronischer Erfolglosigkeit zurück auf den Olymp des europäischen Profifußballs treten lässt. Hochleben ließ das Team nach Spielende jedoch einen anderen: seinen Trainer Jürgen Klopp. Dieser hatte es tatsächlich geschafft, binnen kürzester Zeit aus einem Team, das in der Premier League, der höchsten englischen Spielklasse, in die Bedeutungslosigkeit abzurutschen drohte, ein in ganz Europa für Hochgeschwindigkeitsfußball gefürchtetes Spitzenteam zu formen.

Ein unglaublicher Werdegang

Mit dem Triumph in der Königsklasse war Klopp nunmehr zum dritten Mal etwas gelungen, das man gut und gerne als Pendant zu dem bezeichnen kann, was Psychoanalytiker als „Reinszenierung“ bezeichnen würden. Doch während es im psychologischen Kontext um die unbewusste Wiederholung unbewältigter Konflikte geht, folgen die Kloppschen Reinszenierungen einem diametral entgegengesetzten Muster.

Kurz und knapp auf den Punkt gefasst, könnte man sie wie folgt skizzieren: Klopp wird auf den Trainerposten eines kriselnden Traditionsvereins berufen. Mit vergleichsweise geringen finanziellen Mitteln und einem Spielerkader, der von den einschlägigen Experten wohl maximal als „guter Durchschnitt“ abgekanzelt wird, gelingt es dem charismatischen „Kloppo“, das Maximum an Potenzial, das im jeweiligen Verein angelegt ist, zur Entfaltung zu bringen. Nebenbei begeistert er mit seiner positiven Art und seinem leidenschaftlichen Tempo-Fußball ganze Regionen und weckt diese aus dem fußballerischen Winterschlaf.

So geschehen ist dies zum ersten Mal beim 1. FSV Mainz 05 — jenem Verein, für den Klopp als Spieler 325 Zweitligaspiele absolvierte. Heute undenkbar wurde er noch während seiner aktiven Zeit als Profifußballer vom Abwehrspieler zum Cheftrainer befördert. Drei Tage zuvor hatte Klopp bei der 3:1 Niederlage der Mainzer gegen die SpVgg Greuther Fürth noch auf dem Platz gestanden. Diese „Notlösung“ entpuppte sich schnell als Geniestreich der Vereinsführung. Unter Klopp, der zu dieser Zeit noch nicht einmal einen Trainerschein besaß, gewann die Mannschaft sechs der ausstehenden sieben Spiele und schaffte dadurch den Klassenerhalt in der zweiten Bundesliga. In den darauffolgenden Jahren gelang den Mainzern gar der Aufstieg in die erste Bundesliga, wo sie in der Saison 2005/06 sensationell die UEFA-Pokal-Qualifikationsrunde erreichten.

Nach zwei durchwachsenen Spielzeiten wurde ein weinender Jürgen Klopp im Jahr 2008 schließlich vor tausenden Anhängern auf dem Mainzer Rathausplatz verabschiedet. Obwohl der Verein ihn gerne behalten hätte, hatte er entschieden, seinen Vertrag nicht zu verlängern. Stattdessen zog es ihn in den Ruhrpott — zu Borussia Dortmund. Und das, obwohl die Rahmenbedingungen in Dortmund zu dieser Zeit gar nicht so viel besser waren als in Mainz. Der BVB, den Jürgen Klopp zur Saison 2008/09 übernommen hatte, war noch lange nicht der Spitzenverein, der er heute ist. Borussia Dortmund war zu diesem Zeitpunkt ein torkelnder Traditionsclub, der im Jahr 2005 nur mit Ach und Krach der Insolvenz von der Schippe gesprungen war. In der Bundesliga hatten sich die Borussen im Niemandsland der Tabelle eingenistet.

Doch dann kam Klopp. Er hauchte dem Team, dem Verein und letztlich der gesamten Stadt neues Leben ein. Die Dortmunder, die in der Saison 2007/08 noch auf Rang 13 gelandet waren, sprangen in Klopps erster Saison auf Rang 6. Ein Jahr später auf Rang 5. Und dann? Dann kam die Saison 2010/11. Klopps Spielidee zündete endgültig. Mit berauschendem Pressingfußball sicherte sich der BVB die vierte deutsche Meisterschaft seiner Vereinsgeschichte.

Die leiderprobten BVB-Fans lagen ihrem Trainer, dessen Gesichtsausdruck sich zumeist auf einem Kontinuum zwischen animalischem Zähnefletschen und dem Dauergrinsen eines Honigkuchenpferds bewegt, endgültig zu Füßen.

Dieser beschenkte sie ein Jahr später mit einer weiteren deutschen Meisterschaft. Und damit nicht genug: Im Endspiel des DFB-Pokals 2012 fegten die Dortmunder den FC Bayern München mit 5:2 vom Platz. Damit hatte endgültig eine Wachablösung stattgefunden. Die beste deutsche Fußballmannschaft hieß — zumindest vorerst — nicht mehr Bayern München.

Ganz Fußball-Europa stockte der Atem beim Anblick dessen, was sich da im Ruhrgebiet entwickelt hatte. Ein Staunen, das in der Folgesaison noch einmal anwachsen sollte. Über Donezk, Malaga und Madrid gelang Borussia Dortmund 2013 sensationell der Einzug ins Finale der Champions League. Klopps Projekt hatte seinen absoluten Höhepunkt erreicht: Fünf Jahre nachdem er den BVB als Beinahe-Abstiegsaspiranten übernommen hatte, spielte seine Mannschaft nun um den Titel der besten Mannschaft Europas.

Was danach passiert, ist Geschichte. Im ersten deutsch-deutschen Finale in der Geschichte der Champions League erzielte Arjen Robben in der 89. Spielminute den 2:1-Siegtreffer für den FC Bayern München. Die Wachablösung war damit rückgängig gemacht worden. Die Münchner waren zurück auf dem europäischen (und deutschen) Fußball-Thron. Klopp und seine Dortmunder konnten sich in den Folgejahren zwar in der Spitzengruppe der Bundesliga etablieren, doch abgesehen von zwei Erfolgen im bedeutungsarmen „Supercup“ konnten sie keine weiteren Titel mehr gewinnen.

Als also absehbar wurde, dass er bei seinem Dortmunder Projekt eine scheinbar unüberwindbare Grenze erreicht hatte, löste er im Frühjahr 2015 seinen Vertrag auf. Die „Gelbe Wand“, Dortmunds weltweit berüchtigte Stehplatztribüne mit ihren 24.000 Fans, verneigte sich vor dem, der ihnen wohl mit die schönsten Jahre der Vereinsgeschichte beschert hatte. Viele von ihnen dachten sich in diesem Moment wohl: Eine solche Leistung lässt sich unmöglich noch einmal toppen. Doch dann meldete sich im Oktober 2015 der strauchelnde Traditionsclub aus Liverpool bei Jürgen Klopp. Und ehe man sich‘s versieht, hatte das nächste Märchen bereits seinen Anfang genommen.

Von taumelnden Traditionsclubs zu strauchelnden Republiken

Im Grunde genommen gibt es an dieser Stelle nicht mehr viel zu erzählen. Um sich als nicht-fußballaffiner Mensch ein Bild davon zu machen, was Klopp bei seiner Station in Liverpool gelungen ist, reicht es, all das, was im vorherigen Abschnitt über seine Zeit in Mainz und Dortmund geschrieben steht, auf die englische Premier League zu übertragen und es sich noch eine Stufe größer vorzustellen. Hier nur einige Schlagworte: Gewinn der Champions-League 2019, Gewinn der englischen Meisterschaft 2020 und Gewinn des englischen Pokals 2022. All das mit einem Verein, der bis 2020 ganze 30 Jahre auf einen weiteren Meisterschaftstitel warten musste.

Es ist also alles gesagt. Eigentlich. Doch Klopps Erfolge sind derart außergewöhnlich, dass ein genauerer Blick hinter die Kulissen lohnt. Wie schafft der Mann das? Was sind seine Erfolgsgeheimnisse?

Dieser Blick lohnt auch deshalb, da zwischen der Ausgangslage der Vereine, die Jürgen Klopp zurück in die Erfolgsspur führte, und der aktuellen politischen, ökonomischen und sozialen Situation in der Bundesrepublik Deutschland durchaus einige Parallelen auszumachen sind.

Die BRD ist in den Augen zahlreicher nationaler und internationaler Beobachter „der kranke Mann“ Europas. Der einstige Exportweltmeister ächzt unter den Folgen von Energiekrise, der Corona-Zeit und ausufernder Inflation. Das Vertrauen in politische Institutionen ist im Sinkflug, das Wachstum stockt, und die Gesellschaft ist weitgehend atomisiert. Insofern ist Deutschland, das Land der Wirtschaftswunder und Sommermärchen, durchaus mit kriselnden Traditionsclubs zu vergleichen. Ein gefährlicher Zustand. Denn Fußballfans wissen sehr wohl, dass das, was in Dortmund und Liverpool passiert ist, eher die Ausnahme als die Regel darstellt. Fragen Sie einmal die stolzen Anhänger von Schalke 04, dem Hamburger SV oder auch dem 1. FC Kaiserslautern, was passiert, wenn man sich nostalgieschwelgend auf den Erfolgen seiner Vergangenheit ausruht. Der Aufprall in der Realität ist hart und schmerzhaft. Genau wie diese großen Clubs steht auch die BRD heute an einem Scheideweg: Wird es gelingen, einen Relaunch, eine Revitalisierung des Landes zu initiieren, oder muss man sich letztlich mit dem Abstieg in die Zweit- beziehungsweise gar Drittklassigkeit abfinden? Jeder, der Letzteres verhindern möchte, kann davon profitieren, sich mit den zentralen Bausteinen des Kloppschen Erfolgs auseinanderzusetzen. Schließlich stand Klopp zu Beginn seines Engagements bei all seinen Vereinen genau an einer solchen Wegscheide. Und jedes Mal ist es ihm und seinen Mitarbeitern gelungen, die richtige Abzweigung zu wählen.

Jürgen Klopp beim FC Liverpool — hingucken, nachmachen!

Als sich Jürgen Klopp im Oktober 2015 in einem Interview mit dem vereinseigenen TV-Sender LFCTV zum ersten Mal an die Anhänger des nordenglischen Clubs wendet, spricht er einen Satz aus, der sinnbildlich für seine Mentalität steht. Er sagte: „We have to change — from doubters to believers. Now!” („Wir müssen uns ändern — von Zweiflern zu Leuten, die daran glauben. Jetzt sofort!“) (5)

Auch wenn dieser Satz, für sich alleine genommen, wie ein recht plumper Motivationsversuch daherkommt, aufgeschnappt auf einem Montagabend-Selbsthilfeseminar, erweist er sich aus dem Munde Klopps als weitaus substanzvoller als bei einschlägigen Life Coaches auf YouTube. Denn es ist eine Sache, für Klicks Binsenweisheiten wie „Krisen sind auch Chancen!“ vom Stapel zu lassen, jedoch eine ganz andere, diese Einstellung mit jeder Faser seines Seins vorzuleben und dabei selbst diejenigen mitzureißen, die im Angesicht der Trostlosigkeit des Jetzt die Zukunft kaum anders als eine dunkle, potenziell katastrophengeladene Gewitterwolke wahrzunehmen vermögen. Jeder, der schon einmal seine Gedanken im Kontext von Ukraine-Krieg, Nahost-Konflikt, Corona oder Klimawandel beobachtet hat, wird wissen, wie außerordentlich schwierig es ist, dem allgemeinen Trübsal zu trotzen und den Glauben an eine bessere Zukunft nicht nur nicht aufzugeben, sondern auch zu verkörpern.

Denn wie unwahrscheinlich erscheint es doch mit Blick auf die Gegenwart, dass ein Ausstieg aus der allseitigen Abwärtsspirale tatsächlich möglich ist! Beweise dafür, dass (gesellschafts-)klimatische Kipppunkte schon lange überschritten sind, finden sich im Alltag scheinbar zuhauf: eine Fahrt mit der Bahn, der tägliche Wahnsinn an den Schulen oder auch die Preissteigerungen in Supermarkt. Es braucht heute nicht viel, um ein Gefühl von Hoffnungslosigkeit in uns auszulösen. Zwischen einer leichten Besorgnis ob des sommerlichen Aprilwetters bis zur Panikattacke, dass dies der unumstößliche Beweis für den bevorstehenden menschlichen Exodus sei, liegen mitunter nur wenige Sekunden Grübelei. Dabei ist das Thema Klimawandel nur ein Platzhalter. Denn auch die selbsternannten „angstfreien“ Menschen, die Klimawandel, Coronaviren oder Kriege scheinbar gänzlich kalt zu lassen scheinen, unterscheiden sich in ihrem Umgang mit der Angst nur in den seltensten Fällen von den Luisa Neubauers und Greta Thunbergs dieser Welt. Sie haben lediglich andere Ängste. Da reicht eine Breaking News zu den neuesten 360-Grad-Pirouetten im Außenministerium, um zum unumstößlichen Fazit zu gelangen, dass es zur Flucht aus der BRD ganz offensichtlich keine Alternative gebe. Ein freilich „vollends rationaler“ Entschluss, zu dem oftmals gut betuchte Ökonomen kommen, und den diese in Interviews bisweilen als „mutig“ und „allgemein praktikabel“ anpreisen. Es bedarf schon einer außergewöhnlichen emotionalen Intelligenz, um sich bei der Kakophonie an Abgesängen auf die Welt, das Abendland oder die BRD eine heiter gestimmte innere Melodie zu bewahren.

Jürgen Klopp scheint dieses Talent mit in die Wiege gelegt worden zu sein. Alle Vereine, bei denen er bislang angeheuert hat, befanden sich vor seinem Antritt in einer Krisensituation. So auch Liverpool. Weniges deutete im Jahr 2015 darauf hin, dass der Verein wieder Anschluss an die Spitzenclubs der englischen Liga gewinnen würde; weitaus mehr, dass es Liverpool womöglich wie anderen Traditionsvereinen ergehen könnte, die nach ihren großen Erfolgen in die Bedeutungslosigkeit abgerutscht sind. Dasselbe gilt umso mehr für Borussia Dortmund, das, wie bereits erwähnt, drei Jahre, bevor Klopp dort anheuerte, quasi pleite war. Es wäre für ihn also ein Leichtes gewesen, Gründe zu finden, warum es unmöglich ist, mit diesen Vereinen Erfolge zu feiern. Und es wäre ebenso ein Leichtes gewesen, im eingangs erwähnten Spiel zwischen Liverpool und Barcelona die zahlreichen Gründe für die Unmöglichkeit eines Weiterkommens mental wiederzukäuen: „Die besten Spieler sind verletzt“, oder: „Ein 0:3 hat noch kaum einer gegen Barca aufgeholt“, oder: „Die haben doch Lionel Messi!“ Nicht so mit Jürgen Klopp. Übermäßiger Zweifel hat in seiner Philosophie keinen Platz. Doch was stattdessen?

Die drei Säulen des Erfolgs

Wer Klopps Erfolgsrezept auf zentrale Elemente komprimieren möchte, wird zwangsläufig Abstriche machen müssen. Denn selbstredend wären seine Erfolge ohne talentierte Spieler, die bereit sind, ihm Vertrauen zu schenken, ohne Co-Trainer, die seine Philosophie bedingungslos mittragen, und ohne Fans, die seinem Team auch in schwierigen Phasen ein verlässlicher Rückhalt sind, kaum zu denken. Insofern soll an dieser Stelle betont werden, dass mit „Klopps Erfolg“ hier keine Einzelleistung gemeint ist, sondern das Ergebnis einer gelungenen Teamarbeit, für die „Kloppo“ letztlich den Kopf hinhält. Nichtsdestotrotz weist sein Werdegang gewisse Muster auf. Sie spiegeln sich in seinem Auftreten und der Spielweise seiner Mannschaften wider und lassen Rückschlüsse auf die Kernbestandteile seines Erfolgsrezeptes zu. Sie lauten: Leidenschaft, Geduld und Optimismus.

Leidenschaft

Von dem berühmten amerikanischen Unternehmer Howard Hughes soll das Zitat stammen: „Leidenschaft wird dich verrückt machen, aber gibt es einen anderen Weg zu leben?“ Dass Leidenschaft tatsächlich verrückt machen kann, zeigt sich im September 2013 in Neapel. Der BVB gastiert zum Champions-League-Gruppenspiel. Es läuft die 29. Spielminute. Dortmunds Innenverteidiger Neven Subotic, der sich eine Platzwunde zugezogen hat, hat sich am Spielfeldrand behandeln lassen und möchte zurück aufs Feld. Nur: Der Schiedsrichter ist mit seinem Pflaster nicht einverstanden. Die unsortierte Dortmunder Hintermannschaft versucht kurzfristig das Loch zu stopfen. Doch es gelingt ihr nicht. Neapels Stürmer Higuain kommt frei zum Kopfball und trifft zum 1:0. Klopp ist außer sich. Die Bilder eines zähnefletschenden BVB-Coachs, der sich bedrohlich vor dem Vierten Offiziellen aufbaut, gehen um die Welt. Kurz darauf sieht er dafür die Rote Karte und muss das restliche Spiel von der Tribüne aus verfolgen.

Quelle: ZDF

Dass er damit weit übers Ziel hinausgeschossen ist, weiß Klopp selber. Die Pleite in Süditalien nimmt er nach Spielende auf seine Kappe. „Ich mache da draußen ‘nen Affen, das geht nicht“, sagt er nach Abpfiff im ZDF (6).

Doch so „affig“ er sich in dieser Situation auch verhalten hat, so sinnbildlich steht sie doch für das Feuer, mit dem er bei der Sache ist. Klopp gibt immer hundert Prozent. Wenn er sich für ein Projekt entschieden hat, geht er — so drückt er es im Podcast „Hotel Matze“ aus — „All-In“. Er kann gar nicht anders. Die Leidenschaft, die er dabei an der Seitenlinie vorlebt, überträgt sich auch auf seine Spieler. Nicht selten kommt es vor, dass seine Mannschaft in einem Spiel zehn Kilometer mehr läuft als der Gegner. Die Bild titelte 2014 dazu: „Dortmund rennt alle in Grund und Boden!“ (7) In Liverpool läuft es, im wahrsten Sinne des Wortes, nicht anders. Kaum verwunderlich also, dass seine Teams gerne als „Pressingmaschinen“ und seine Philosophie als „Heavy-Metal-“ beziehungsweise „Vollgasfußball“ bezeichnet wird. In seiner Biographie schreibt Klopp hierzu:

„Mich interessiert, wenn es kracht, wenn es staubt, wenn gekämpft wird, wenn es Chancen gibt, wenn es die Leute von den Sitzen reißt.“ (8)

Klopp weiß eben, dass seine Mannschaft nur dann maximal erfolgreich sein kann, wenn sie härter arbeitet als jene Teams, die mit einem deutlich üppigeren Budget ausgestattet sind. Doch Vorsicht: Harte Arbeit ist hier nicht einfach gleichbedeutend mit einem Mehr an Arbeit. So sind Trainingseinheiten unter Klopp vergleichsweise kurz. Kevin-Prince Boateng, der ein halbes Jahr unter ihm trainierte, beschrieb die Trainingseinheiten als „hochintensiv“ und „fokussiert“. Man trainiere zwar nur etwas mehr als eine Stunde, dafür jedoch „auf dem höchsten Level und ohne längere Pausen“ (9). Es ist also vor allem eine Frage der Intensität. Diese Herangehensweise ans Arbeiten stellt eine erfrischende Abwechslung zum auch in Deutschland weit verbreiteten, zwischen Burnout und Boreout pendelnden Arbeitsalltag dar.

Leidenschaft keimt immer dann auf, wenn Menschen eine klare Vision vor Augen haben. In Dortmund hat Klopp seine Spieler dafür sogar ein gemeinsames Versprechen unterzeichnen lassen. Es beinhaltete Punkte wie „bedingungsloser Einsatz“, „leidenschaftliche Besessenheit“ oder „vom Spielverlauf unabhängige Zielstrebigkeit“ (10). Dieses Versprechen wird inzwischen in zahlreichen Management-Ratgebern zitiert. Ein Versprechen, das auch in anderen Branchen erfolgversprechend scheint. Womit wir wieder bei der Politik wären: Denn auch hier gibt es einen Amtseid. Der Unterschied zwischen Klopps BVB und der Bundesregierung ist nur: Für die Dortmunder war ihr „Amtseid“ mehr als nur eine Floskel.

Geduld

Das größte Problem an einer klaren Vision ist, dass zwischen ihr und dem Status Quo zumeist eine riesige Lücke klafft. Im Profifußball kommt dies besonders zum Tragen. Insbesondere die Anhänger von großen Traditionsvereinen neigen dazu, in der titelreichen Vergangenheit zu schwelgen, um so dem frustrierenden Alltagsgeschäft zu entfliehen. Gerade hier zeigen sich besondere Parallelen zwischen dem Job eines Trainers und dem eines Politikers. Denn beide haben die Aufgabe, die Menschen gewissermaßen wachzurütteln und die dabei freiwerdende Frustration als Antrieb zur Erreichung gesetzter Ziele zu nutzen. Gute Trainer — und Politiker — sind dabei solche, die den eigenen Leuten nichts vormachen. Sie reden nichts schön und machen keine utopischen Versprechungen. Jürgen Klopp hat in Mainz niemandem versprochen, in die Bundesliga aufzusteigen. In Dortmund lautete sein Ziel, „der Fußball solle wieder Spaß machen“. Und auch in Liverpool wurde zunächst einmal tiefgestapelt. Der Fokus sollte vielmehr stets auf der nächsten Aufgabe liegen — der nächsten Saison, dem nächsten Spiel, dem nächsten Zweikampf. Seine Mannschaften beherzigten diesen Grundsatz — und verzeichneten nach einiger Eingewöhnungszeit Erfolge, die ihnen kaum einer zugetraut hätte. Im Magazin The Red Bulletin wird Klopp hierzu folgendermaßen zitiert:

„Es gibt Menschen, die behaupten, wenn man große Ziele nicht deutlich formuliert, ist man auch nicht richtig ambitioniert. Diese Menschen haben keine Ahnung, wie man Ziele erreicht.“ (11)

Gerade Politiker, die angesichts der aktuellen Situation noch immer davon sprechen, man lebe „im besten Deutschland aller Zeiten“, oder solche, die den Menschen nichts weniger als die „Klimarettung“ versprechen, täten gut daran, sich hieran ein Vorbild zu nehmen.

Optimismus

Die letzte und zugleich wichtigste Zutat im Kloppschen Erfolgsrezept ist Optimismus. Er ist entscheidend, wenn es darum geht, gerade in den schwierigen Momenten — die zwangsläufig kommen werden — Menschen mitzureißen. Jordan Henderson, Kapitän des FC Liverpool, berichtete in einem Podcast, wann er das erste Mal das Gefühl hatte, dass der Verein unter Klopp Großes erreichen könnte. „Es war nach der Niederlage im Europa-League Finale 2016“, sagte Henderson.

„Alle waren niedergeschlagen und ließen die Köpfe hängen. Wir wollten einfach nur ins Bett. Doch Klopp hatte gesagt, dass wir uns an der Hotelbar treffen. Alle saßen da und dachten sich: ‚Was soll das? Was machen wir hier?‘ Dann kam Klopp und fragte uns, ob wir die ganze Nacht so bedröppelt dreinschauen wollten. Wir meinten nur: ‚Trainer, wir haben gerade das Finale verloren.‘ Woraufhin er entgegnete: ‚Ja, ein Scheißmoment. Aber das sind die Momente, in denen wir zusammenhalten müssen. Und übrigens: Das ist nur der Anfang. Ich will euch bis Ende des Abends alle auf der Tanzfläche sehen.‘“

Henderson ergänzte:

„Wenig später lagen wir uns in den Armen und stimmten gemeinsam ‚We are Liverpool‘ an.“ (12)

Rückschläge wird es bei jedem großen Vorhaben geben. Entscheidend ist der Umgang mit ihnen. „Ich habe kein Problem, Dinge, die ich nicht mehr ändern kann, in eine Schublade zu stecken“, sagte Klopp im Interview bei Hotel Matze. Darauf angesprochen, ob er denn auch Zweifel kennen würde, antwortete er:

„Grundsätzlich denke ich, dass man sich mit dem negativen Ausgang einer Situation beschäftigen kann, wenn es denn eingetreten ist. Der Weg dahin, der muss von Optimismus, von Positivität gepflastert sein, sonst macht es doch gar keinen Sinn. In dem Moment, wo du gegen die Wand gelaufen bist, stellst du fest, da bin ich jetzt gegen die Wand gelaufen. Aber bis dahin probieren wir erstmal da drüber zu gehen oder daran vorbeizulaufen. Und genau das mache ich.“ (13)

Quelle: Bild

Wer wird der nächste Jürgen Klopp?

Im Januar dieses Jahres kündigte Klopp für viele überraschend an, dass er den FC Liverpool am Ende der Saison verlassen werde. „Ich habe keine Energie mehr“, sagte der Welttrainer von 2019, der sich für unbestimmte Zeit eine Auszeit nehmen wird. Wie sehr er die Menschen in England bewegt hat, zeigte sich schon alleine daran, dass sein größter Kontrahent, Manchester Citys Trainer Pep Guardiola, den Tränen nahe war, als ein Reporter ihn auf Klopps letztes Spiel ansprach (14). Seither steht Liverpool vor der Herkulesaufgabe, einen passenden Ersatz für den geliebten Coach zu finden.

Die Bundesrepublik Deutschland hat ihren neuen „Coach“ bereits 2021 gefunden. Doch knapp drei Jahre später ist es mehr als offensichtlich, dass Olaf Scholz und sein Trainergespann um Annalena Baerbock, Christian Lindner, Robert Habeck & Co. nicht die Richtigen sind, um in Deutschland auch nur den Hauch einer Aufbruchstimmung zu erzeugen.

Im Gegenteil: Es ist, als würde man aus Mitleid an einem Trainerteam festhalten, das das eigene Team ohne Not in einen Abstiegskampf manövriert hat, den man nicht gewillt ist anzunehmen und für dessen erfolgreiche Bewältigung das Know-how und die mentale Stärke fehlt. Dem Land und seinen Repräsentanten fehlen derzeit alle drei Zutaten, die Klopp so erfolgreich gemacht haben. Neben dem Optimismus, einer klaren Vision und der damit verbundenen Leidenschaft fehlt es im politischen Berlin aber noch an einer weiteren Tugend, die allen Sportbegeisterten bestens bekannt sind: an Teamgeist. „Elf Freunde müsst ihr sein“ weiß jeder, der selbst einmal aktiv Fußball gespielt hat. Trotz all der Differenzen in der Kabine, trotz der Konkurrenzsituation, die in jeder Mannschaft vorherrscht, trotz alldem kann ein Club nur dann erfolgreich sein, wenn alle sich in den Dienst der Mannschaft stellen. „Die Welt sollte eine Spielerkabine sein“ sagte Jürgen Klopp einmal im Hinblick auf die unterschiedlichsten Kulturen, die im Profisport aufeinanderprallen und kooperieren müssen (15).

Von einer solchen, zugegeben etwas kitschigen Vorstellung ist die „Spielerkabine“ Deutscher Bundestag meilenweit entfernt. Die Parteienlandschaft ist zerstritten und die Diskurse sind geprägt von gegenseitigen Vorwürfen der Demokratiefeindlichkeit. Um die Frage, wer mit wem zusammenarbeiten kann, geht es schon lange nicht mehr. Selbst wenn mal alle einer Meinung sind, werden Abstimmungen torpediert, damit man sich nicht den Vorwurf gefallen lassen muss, mit „den Falschen“ kooperiert zu haben.

Wenn in einer Fußballmannschaft die Spieler derart zerstritten sind, dass einige gegenüber ihren Mitspielern so starke Ressentiments haben, dass sie sich mehr als Solisten denn als Teamsportler sehen, dauert es zumeist nicht lange bis zum sportlichen Supergau. Es hat eben schon seinen Grund, warum akut abstiegsbedrohte Mannschaften vor entscheidenden Spielen ins Trainingslager fahren, um zu versuchen, den Zusammenhalt auf den letzten Metern noch einmal zu stärken.

Letzten Endes ist die Politik jedoch kein Sport — und der Bundestag keine Fußballmannschaft. Es wird nicht dazu kommen, dass die Mitglieder des Bundestages gemeinsam verreisen, um ein Pendant zum „Geist von Malente“ — dem mythischen Ort des Trainingslagers der deutschen Weltmeistermannschaft von 1974 — herbeizurufen. Auch wenn das vermutlich gar keine so schlechte Idee wäre.

Es wäre allerdings schon einiges gewonnen, wenn sich die Beteiligten darauf besinnen würden, dass sie im politischen Spiel Mitglieder ein und desselben Teams sind. Ein Team, dessen Ziel es nur sein kann, die etwas schnappatmige Bundesrepublik wieder topfit für das 21. Jahrhundert zu machen.

Zugegeben: Eine aktuell mehr als kitschige Vorstellung. Mit Blick auf das große gegenseitige Misstrauen bleibt es zweifelhaft, ob die etablierten Parteien oder auch die AfD bei den Bundestagswahlen 2025 und 2029 in der Lage sind, Kandidaten für das „Trainerteam“ zu stellen, die das Land wieder vereinen können.

Doch wer nun deshalb denkt, Deutschland sei verloren, sollte sich an eines erinnern: Genau in solchen, scheinbar ausweglosen Situationen heuerte Jürgen Klopp bei seinen Vereinen an und führte sie zu Erfolgen, von denen kaum einer zu träumen wagte. Die entscheidende Frage kann von daher nur lauten: Wer in der Politik hat das Zeug dazu, „der (oder die) nächste Jürgen Klopp“ zu werden?