Das Versöhnungsdilemma

Nach den Corona-Gefechten wird der Ruf laut, wieder aufeinander zuzugehen — doch funktioniert das, wenn eine der beiden Seiten keinerlei Problembewusstsein zeigt?

Der Schlachtenlärm ist verklungen, der Rauch hat sich verzogen. Jedoch sind nach den Auseinandersetzungen der Corona-Jahre viele Narben zurückgeblieben. Menschen haben einander verletzt — einst eng miteinander verbundene Freunde, Verwandte, Kollegen ... Man hat einander unter erschwerten Bedingungen neu kennengelernt, dabei haben sich bei vertrauten Menschen Eigenschaften gezeigt, die uns schockiert haben. Vor allem wurden Corona-Skeptiker und Ungeimpfte auf verstörende Weise beschimpft, fallen gelassen und aus dem öffentlichen Leben ausgegrenzt. Gerade unter den Opfern erhebt sich nun vielfach der Ruf nach Aussöhnung. Einige scheinen bereit, zu verzeihen, lange bevor von der Gegenseite auch nur annäherungsweise etwas wie eine Entschuldigung gekommen wäre. Selbst wo sich zaghaft nachträgliche Kritik an der Corona-Politik erhebt, ist die Devise: „Schwamm drüber“ und „In die Zukunft schauen“. Aber ist unter diesen Umständen ein wirklicher Neuanfang überhaupt möglich? Kann ohne Schuldeinsicht der anderen Seite verziehen werden, und können ohne Problembewusstsein Probleme gelöst werden? Die Autorin ist skeptisch, will die Tür zur Versöhnung jedoch auch unter diesen Umständen nicht zuschlagen.

Wir halten mittels „Schlusssteinen“ — meint selbstwert- und identitätsstützende moralische Überzeugungen — unser „Gewölbe“, unser gesellschaftliches wie unser je individuelles System, aufrecht. Ein Versöhnungsprozess beinhaltet möglicherweise nichts Geringeres, als diese Schlusssteine herauszulösen und sie als grundlegende „Grundsteine“ einem gemeinsamen „Weiter“ zu widmen. Kein geringes Anliegen, da dieses Bild doch impliziert, dass wir vom je anderen etwas Substantielles oder gar gefühlt Existentielles fordern, was nichts weniger als das Einstürzen ganzer Überzeugungsgebilde und Selbst-Identitäten mit sich bringen würde.

Verletzt-Verletzendes

Sabres. Kaktusfeigen. Wer schon einmal mit ihnen beschäftigt war, weiß: Feinste Härchen mit Widerhaken bohren sich gerne in die Haut und können für eine langwierige Beschäftigung mit den elektrisierend-unangenehmen Härchen sowie mit dem mühsamen Entfernen derselbigen sorgen.

Verhält es sich nicht ähnlich mit den vielen Verletzungen verbal-moralischer Art?

Ich — wie so viele — habe mich aufgrund der sichtbaren Abwesenheit etwa von Maske und Plastikwrapping, von Faceschild und Desinfektionsmitteln sowie dem damit verbundenen, quasi in Leuchtschrift blinkenden Querverweis auf verwerflich-mangelhafte Überzeugung, deutlich qualifiziert für die sich ausweitende, vermeintlich berechtigte, medial- und staatsgetragene Disqualifikation als vernunftbegabte Bürgerin — wie fatalerweise auch als Mensch. Zur Erinnerung an diese weitreichende Disqualifizierungs-Kampagne, sprich Enthumanisierung der „Queren“, hier unter anderem das Buch von Marcus Klöckner und Jens Wernicke: Möge die gesamte Republik mit dem Finger auf sie zeigen.

Viele Situationen der letzten drei Jahre stecken in mir wie diese Stachelhärchen. Da mir offenbar nicht nur der Masken- sondern auch der Seelenschutz fehlte, haben sie sich in mir festgehakt, ich konnte sie weder negieren noch entfernen, und so bohren sie sich letztlich auch aufgrund des umfassenden — aktuellen — Verneinens und Leugnens, dass sie überhaupt existent sind, beziehungsweise Schmerz verursachen oder gar Widerhäkchen haben könnten, munter weiter in mich hinein.

Sie erreichen in der Tiefe den dorsalen Vagus-Nerv, signalisieren mir, vergleichbar mit einem körperlichen Schmerz, eine existenzielle Bedrohung, hier des Ausschlusses, des sozialen Todes und damit der möglichen Vernichtung. Keine Kleinigkeit.

Diese Stacheln sind großzügig wie großflächig gestreut und verteilt worden, und sie sind in vielen Seelen gelandet. Es sind — neben den Großstacheln eines nicht mehr sorgsam gewaltenteilenden Staates, den oft sinnfernen Maßnahmen und deren brutaler Durchsetzung und einer zunehmend legitimierten Dehumanisierung — eben gerade die zahlreichen kleinen und kleinsten Bemerkungen, etwa das gezischte „Asi“ im Vorbeigehen, der hasserfüllte Blick, der mich Maskenlose am liebsten atomarisiert hätte, oder die abfällige Kollegenbemerkung hinsichtlich meiner Unwissenschaftlichkeit, meiner Rechtslastigkeit und meines Zynismus.

Heute, April 2023, wissen die meisten Menschen nichts mehr von ihren Bemerkungen, wollen nichts mehr wissen und finden es völlig überzogen und gänzlich unnötig, sich damit noch einmal zu beschäftigen.

Seliges Vergessen legt sich über ihre Häupter, sie scheinen nicht die leiseste Ahnung von einer „Versöhnungsnotwendigkeit“ zu haben, es gibt bei ihnen so gut wie kein Bewusstsein für die Spaltwucht ihrer Äußerungen noch für das Ausmaß der Verletzungen, mit denen doch ein großer Teil der Gesellschaft weiterhin zu tun hat.

Das ist eine extrem schwierige und herausfordernde gesellschaftliche wie auch individuelle Situation.

Wie sollen und wollen wir damit umgehen? Ist der einseitige Schrei nach Versöhnung mit der darin liegenden Hoffnung nach Wieder-Verbindung, nach Wieder-Gemeinschaft, nach einem friedlichen Weiter und, tiefergreifend, nach Heilung, ist dieser Wunsch nun angemessen, notwendig und realisierbar, oder aber erweist er sich als überflüssig, egoistisch, abwegig und letztlich ohne die geringste Chance auf ein Gelingen? Gilt es dieses Anliegen weiter zu verfolgen oder aber uns, mich davon zu verabschieden? Endlich zu schweigen? Den anderen nicht mehr mit mir zu behelligen, weil es ihm doch nur aversive Gefühle und schlechte Laune beschert?

Gilt es aus der Verletzungsspirale auszusteigen ohne das Gemeinsame einer Versöhnung? Mich doch nun endlich mit Pinzette hinzusetzen und die Stacheln in mühsamer Kleinarbeit allein herauszuziehen? Das Entfernen nicht mehr zu einer gemeinsamen Angelegenheit zu machen? Mich mehr resilient und weniger mimosenhaft zu zeigen?

Ist es das, wo ich hineinwachsen soll? Den eigenen Schlussstein aus dem eigenen Identitätsgewölbe herauszunehmen und damit meine Vorstellung von Heilung — durch Versöhnung und im Miteinander — einstürzen zu lassen? Damit Ruhe einkehrt? Der andere seine Ruhe hat? Will ich, wollen wir das wirklich?

Heilung bleibt letztlich eigener Heilfähigkeit überlassen.

Doch bei aller Selbstheilungskraft gibt es etwas Wunderbares in einem gelebten wie lebendigen Miteinander. Ich meine mich zu erinnern, dass hierin ein Heilung förderndes, sprich heilsames Klima — ich könnte auch sagen Resonanzraum — erzeugt wird. Wir nennen die darin heilsam wirkenden Kräfte unter anderem Weichwerden, Vertrauen, Warmherzigkeit, Begegnung, Resonanz, Empathie, Trost, Verstehen, Zuhören, Annehmen, Sehen und Gesehenwerden.

Wer kennt es nicht, dieses drängende Bedürfnis nach Verstandenwerden — von Eltern, Freund, Partner — und wie existenziell bedrohlich dessen Verweigerung erlebt wird. Er/sie möge doch einfach nur verstehen. Es ist letztlich der Schrei nach dem Resonanzraum, nach dem Friedensraum, nach Beendigung des Kriegszustandes nicht nur im Außen, sondern vor allem im eigenen Nervensystem. Es geht dabei in der Regel nicht um Schuldzuweisung, nein, es geht meist um ein Anerkennen und damit um das Wieder-Erleben von Resonanz.

Kriege und Kriegsstimmung zerstören Resonanzräume, die in ihnen wirkenden heilsamen Qualitäten ziehen sich zurück.

Aktuell wissen wir offenbar nicht so ganz, ob, oder besser: in welchen Kriegen wir uns befinden, wir rutschen von einer Kriegspropaganda in die nächste, Kriegszustände werden diffus deklariert, bleiben diffus und bedrohlich und werden vor allem nicht mehr eindeutig aufgehoben. Kriegsstimmungsdauerzustand. Das ist fatal, da dadurch ein Versöhnen, das gemeinsame Anerkennen des je Angetanen, erschwert, ja fast verunmöglicht wird.

Versöhnung ist nicht irgendwas, sie ist kein Überflüssiges, keine Kleinigkeit, sie ist nichts, was vergessen oder negiert oder ausgelassen werden kann, sie ist etwas Tiefes, Unerlässliches.

Versöhnung ist Not-Wendigkeit, sie ist das, was die innere Not des gefühlten Krieges wirklich zu wenden vermag.

Versöhnung bedeutet nichts Geringeres als dem je anderen sein Seins-Recht einzuräumen und den Schlussstein propagandistisch-moralischer Überhöhung, die Definitions-Gewalt, also das, was Krieg aufrecht hält und befeuert, aus unserem Überzeugungs-Gewölbe herauszulösen und damit unser vermeintliches Richtigsein, möglicherweise auch unsere kompensatorische Identität einstürzen zu lassen.

Das ist nicht nichts. Das ist alles. Das ist nicht gemütlich. Das ist ein extrem anstrengender Prozess, den unsere Egostruktur naturgemäß nicht wirklich gerne eingeht. Doch ich glaube, ohne diesen Prozess wird es nicht gehen. Wir müssen uns entscheiden, unsere hochmütigen Selbstverherrlichungs-Schlusssteine zu opfern und sie demütig dem Grundlegenden unseres Menschseins zu widmen, sie als Grundsteine für ein gemeinsames — menschliches — Weiter umzuwidmen.

Für ein transhumanistisches Weiter bräuchten wir diese Umwidmung tatsächlich nicht.

Dauerkriegszustand oder Frieden? Wir müssen uns, glaube ich, tatsächlich bewusst entscheiden. Wir kommen da sonst nicht raus, kriegen nicht das kleinste bisschen gemeinsamen Boden unter unsere Füße, solange sich jeder im Recht und berechtigt im eigenen Denken und Handeln fühlt.

Es bleibt wirklich verrückt. Wir verletzen uns weiterhin wechselseitig. Das ist ein Drama. So kommen wir nicht weiter. Wir fabrizieren gemeinsam einen gewaltigen, moralparfümierten, stinkenden, Erde und Schöpfung und darin eben auch uns erstickenden Verletzungsmüll und damit letztlich einen Dauerkriegszustand.

Wie innen so außen

Es ist doch gerade nicht die Idee einer sich gegenseitig bereichernden, blühenden, wachsenden Miteinander-Welt, Sanktionen zu verhängen, Grenzen zu verdichten, Handel und Austausch einzustellen. Es ist doch gerade nicht die Idee von Demokratie, das hohe Gut der Meinungsfreiheit auf das politisch aktuell Gewünschte einzudampfen. Es ist doch gerade nicht die Idee eines von Empathie getragenen friedlichen Miteinanders, dem anderen meine Maßstäbe gegen seinen Willen aufzudrücken, selbst wenn ich sie noch so richtig finde.

Und es ist eben keine Grundlage für ein gemeinsames Weiter, wenn ich mein Handeln, so es ein Verletzungs-Handeln ist, weiter verteidige, deine verletzten Reaktionen negiere und mich nicht weiter damit auseinandersetzen will. Es ist doch gerade nicht die Idee eines gut balancierten und reif regulierten friedlichen und flexiblen Zustandes, ob individuell und innerseelisch oder des Gesellschafts-Wesens, sich über immer rigidere, harte, kompensatorische Mechanismen wie etwa vermehrte Gesetze und Strafen und Zensur notdürftig zu stabilisieren.

Es gibt letztlich nur eine Erde und auf ihr nur zwei Wahlwelten oder Seinsformen.

Die eine ist Krieg. Die andere ist Frieden. Die eine ist Zerstörung, die andere ist Schöpfung. Sie schließen sich völlig aus. Schalltot oder Resonanz. Macht-Hierarchie oder Ich-Du-Begegnung. Balance oder Ungleichgewicht. Miteinander oder Gegeneinander. Es gibt nicht wirklich Brücken zwischen diesen Welten, man ist entweder in der einen Welt oder in der anderen. Ein Wechsel passiert meist und initial durch Betroffenheit und Schmerz, was uns entweder mittels Wut und Hass in den Kriegszustand, oder aber — mittels Bewusstwerdung und Mitgefühl — in die Seinsform des Friedens versetzt.

Wirkliche Versöhnung ist unmittelbar spürbarer Frieden. Übergehen, rechtfertigen, negieren, Unverständnis für das Anliegen und das Unbehagen des anderen ist unmittelbar spürbarer Krieg. Ebenso unmittelbar signalisiert unser Nervensystem, ob wir im Friedens- oder Kriegsmodus sind, es signalisiert uns entweder ein mögliches Miteinander oder aber die Bedrohungssituation, das Gegeneinander. Nicht dass das völlig neu wäre. Doch irgendwie sind wir seit dieser unsäglichen Corona-Zeit im Kriegsmodus erstarrt, wo zuvor doch noch ein wenig Bewegung möglich schien.

Noch bin ich nicht vollständig bereit, den der Versöhnung innewohnenden Segen einfach preiszugeben. Wie aber kann das gehen, wenn der andere genau das weder will noch für notwendig sieht, also ganz einfach seinen Schlussstein behalten will und ich mit meinem Friedensanliegen ihn nerve, ja mehr noch bedrohe, also einen Kriegszustand in seinem System erwirke?

Heißt das, Mensch und Wunsch ziehen zu lassen? Vollständig loszulassen? Geht es tatsächlich darum? Diesen uralten Schmerz der Trennung zu umarmen? Friedlich, ohne geringste Forderung oder Wunsch nach Verbindung und Versöhnung mich selbst zu entbinden von Verbindungs-Wünschen mit Menschen, die das nicht wollen oder nicht können? Ich weiß es nicht.

Eines jedoch habe ich verstanden — es lässt sich nichts, rein gar nichts, fordern oder einfordern, nicht Resonanz, nicht Verständnis, nicht Versöhnung, nicht Friede, nicht Zuhören. Das alles kann nur vollständig freiwillig, friedlich und ohne jegliche Forderung geschehen. So klopfe ich zwar ganz klar (noch) an, lade ein, diesen für mich so segensreichen Weg im Miteinander zu gehen, doch so jemand seine Tür nicht öffnet, werde ich ihn nicht weiter bedrängen.