Das undenkbare Morgen
Ab Herbst 2020 werden Maskenmuffel keine Chance mehr haben, dem digitalen Pranger zu entgehen.
Diese Geschichte ist fiktional und dennoch sehr gut vorstellbar. Insbesondere, wenn man bedenkt, dass heute vieles real ist, was vor wenigen Wochen noch als undenkbar galt. Die Dystopie von gestern ist uns mit Corona auf erschreckende Weise nähergerückt. Daher lohnt es, sich schon jetzt Gedanken über die „undenkbaren“ Entwicklungen von morgen zu machen. Nachfolgender Artikel entpringt einer gedanklichen Zeitreise in den vor uns liegenden Oktober und wurde vom Lokalredakteur einer Berliner Tageszeitung verfasst. Er berichtet von einer politischen Kunstaktion, bei der Überwachungskamerabilder von Maskenverweigerern öffentlich ausgestellt werden, um die gesellschaftlichen Ausreißer öffentlichkeitswirksam zu brandmarken.
Berlin, 14. Oktober 2020. Seit Montag flimmern über die öffentlichen Monitore in Bus, U-Bahn und Tram Aufnahmen von Überwachungskameras, die nur wenige Zentimeter von diesen Bildschirmen entfernt montiert sind. Die Bilder zeigen ein immer gleiches Motiv: unvernünftige Fahrgäste, die sich immer noch weigern eine Maske aufzusetzen. Selbst jetzt, da die Anzeichen für eine zweite Welle immer deutlicher und unbestreitbarer werden. Doch das Konglomerat aus Verschwörungsideologen, Wirrköpfen und rechten Hetzern geriert sich unbelehrbar und faktenresistent. Diese weitverbreitete Realitätsverweigerung der Corona-Leugner gefährdet nach wie vor alle vernünftigen Mitbürger, die auf die öffentlichen Verkehrsmittel angewiesen sind.
Die Aktionskünstler vom „Center für politische Schönheit“ (CPS) wollten diesem verantwortungslosen Treiben nicht länger zusehen und starteten Ende September in Zusammenarbeit mit der Berliner Verkehrsgemeinschaft (BVG) eine gemeinsame Protestaktion. Die BVG ließ der Künstlergruppe mehrere Hundert Stunden Videomaterial von Überwachungskameras der U-Bahn-Linien 7, 8 und 9 zukommen. Mehrere Tage und Nächte verbrachten die Künstler damit, das Material zu sichten, auszuwerten und nach einer ganz spezifischen Gruppe von Fahrgästen Ausschau zu halten — den Maskenverweigerern.
„In langen Nächten mit ungezählten Tassen Kaffee haben wir dann wirklich eine beachtliche Zahl an MaskenverweigererInnen ausmachen können“, erzählt uns die 23-jährige Gender-Studies-Studierende Máta Invidia vom CPS. „Wir haben die entsprechenden Stellen im Material ausgeschnitten und den Ausschnitt vergrößert, sodass die Gesichter gut zu erkennen sind.“
Daraus entstand die Aktion „#FaceOfShame — Wir geben der Unvernunft ein Gesicht!“ Die Idee dahinter ist sehr simpel:
„In der aktuellen Situation ist es im Gegensatz zu gewöhnlichen Zeiten ein unsolidarischer und eigentlich schon menschenverachtender Akt, Gesicht zu zeigen. Wir wollen den MaskenverweigererInnen ein klares und unmissverständliches Signal senden: ‚Ihr bleibt nicht anonym!‘ Viele bilden sich ein, sie könnten unbescholten die Öffentlichen Verkehrsmittel nutzen, ohne eine Mund-Nase-Bedeckung zu tragen. Nicht in Berlin! Wer Corona leugnet und entsprechend in rücksichtsloser Weise handelt, wird nun zur Rechenschaft gezogen!“, so Máta Invidia.
Bereits im Juni führte der Berliner Senat ein Bußgeld für Maskenverweigerer ein, nachdem der erhoffte Erfolg durch soziale Kontrolle ausblieb. Doch auch das zeigte keine erkennbare Wirkung. Nun wird versucht, die Zügel der sozialen Kontrolle durch „Blaming“ anzuziehen.
Invidia schildert uns weiter mit Genugtuung:
„Manche können sich das Bußgeld wohl leisten oder weigern sich es zu bezahlen. Aber wenn die VerweigerInnen und alle anderen ihr Gesicht auf den Public-Screens in Bus und Bahn, auf unseren großen Plakaten und den nächtlichen Leinwand-Projektionen an der Bundestagsfassade sehen, dann wird das den Druck auf sie immens erhöhen. Sie sind dann keine in der Masse anonymen ‚RebellInnen‘ mehr, sondern werden nunmehr von weiten Teilen der Öffentlichkeit gesehen.
Wenn es so funktioniert, wie wir uns das erhoffen, erreichen diese Bilder irgendwann auch die ArbeitgeberInnen oder FamilienmitgliederInnen dieser MaskenverweigererInnen, mit hoffentlich den entsprechenden Konsequenzen sozialer Ächtung. Selbsterklärend verfolgen wir mit dieser Aktion auch eine Art Abschreckung. #FaceOfShame ist nicht nur eine Enttarnung bereits aktiver MaskenverweigerInnen, sondern auch eine scharfe Warnung an all jene Spinner und Aluhüte, die bereits darüber nachdenken, sich dem Maske-Abnehmen anzuschließen.“
Auf Social Media stößt diese Aktion auf breiten Zuspruch. Die Bilder der Maskenverweigerer werden zehntausendfach geteilt. Nicht selten werden Hinweise auf die Identität der erfassten VerweigerInnen zu Top-Kommentaren. Auch das East-Side-Hotel in der Mühlenstraße zeigte sich solidarisch und ließ sich auf seiner fensterlosen Fassade acht Bilder mitsamt dem Hashtag #FaceOfShame tapezieren.
Einige Datenschützer zeigen sich angesichts dieser Aktion besorgt. Das CPS sieht den Aspekt des Datenschutzes relativ gelassen. Nach Invidia gehe es aktuell um die Frage, was jetzt in diesen Zeiten wichtiger sei: der Schutz der Daten oder die Gesundheit der Gesellschaft. In gefährlichen Zeiten gelte es, den Rahmen dessen, was Kunst dürfte, etwas zu überspannen:
„Für den Schutz von Menschenleben sind wir gerne bereit, den Datenschutz zu touchieren“, erzählt sie grimmig, während sich ein stolzes Lächeln unter ihrer „Team-Drosten“-Alltagsmaske unverkennbar breitmacht ...