Das unbekannte Wesen

Im „Kampf gegen rechts“ betrachten viele Bürgerliche Ausländer grundsätzlich als ihre Schutzbefohlenen — meist, ohne sie persönlich zu kennen.

Der Kampf gegen rechts und für „Menschen mit Migrationshintergrund“, den viele Akademiker und Bildungsbürger wild entschlossen führen, zeichnet sich dadurch aus, dass diese — jedenfalls außerhalb ihrer gesellschaftlichen Blase — kaum oder keine „Menschen mit Migrationshintergrund“ kennen. Es erinnert ein wenig an den typischen Sozialisten aus dem studentischen Milieu Ende der 1960er-Jahre, der mit jemandem befreundet war, dessen bester Freund einen Bekannten hatte, der wiederum in engem verwandtschaftlichem Verhältnis zu jemandem stand, dessen Schwippschwager einmal einen Arbeiter gesehen hatte. Nun kann man sich selbstverständlich auch für Unbekannte engagieren, doch allzu umtriebig zeigt man sich dann doch nicht und scheut lieber den Kontakt mit den politisch Schutzbefohlenen. Eher soll das eigene Profil — analog wie digital ─ geschärft und ins beste Licht gerückt werden.

Halb fünf Uhr morgens aufgestanden, jetzt ist es fünf Uhr vierzig. Die Luft ist feuchtkalt, leichter Nebel — oder wie die Wetter-App meldet: „Moderate Nebelgefahr.“ Das Fahrrad steht bereit, sein Licht ist an, 1.200 Lumen treiben einen hellen Keil in die Dunkelheit. Erst um kurz vor sieben wird die Sonne aufgehen. Tür abgeschlossen, aufgestiegen, abgefahren. Nach etwa zweihundert Metern rechts abbiegen in den Park, einzig ein paar Funzeln bilden trübe Lichtinseln in der Finsternis. Nicht nur nach vorne schauen, auch nach hinten und links und rechts. Alles scannen, nichts unbeobachtet lassen. Alte Sicherheitsdienstgewohnheit. Dazu später mehr.

Aber keiner da, niemand unterwegs. Nicht mal der Jogger mit der Stirnlampe, der mir zuweilen begegnet, und auch nicht das Arschloch mit seinem kläffenden Dackel. Kälte und Dunkelheit schaffen Alleinsein. Querfeldein über die Wiese, dann durch die Seitenstraße bis zur Hauptstraße. Die Ampel auf Rot, die Straße leer, trotzdem wartet ein Fußgänger. So unbelebt kann in Deutschland eine Gegend gar nicht sein, dass nicht vor irgendeiner verlassenen Ampel ein Mensch steht und auf ein grünes Lichtzeichen wartet.

Also bei Rot über die Ampel und dann auf dem schmalen Fahrradweg geradeaus. Aufpassen, denn oft werden dort — am Rand, aber gerne auch mittig — E-Scooter abgestellt. Manche meinen aus Gedankenlosigkeit, ich vermute aus Bosheit.

Und dann ist das Ziel erreicht, der Drogeriemarkt, wo ich Regale auffülle oder, wie es offiziell heißt, Waren verräume. Ich werde dort Ausländer treffen, etliche Ausländer — meine Kollegen stammen aus Venezuela, Pakistan, Thailand, Ungarn, Serbien, Russland, dem Kosovo und der Ukraine. Doch Nationalitäten zählen hier nicht im persönlichen Umgang und schon gar nicht bei der Arbeit.

Selbst die Russin und die Ukrainerin unterhalten sich bestens gelaunt, wo sie sich doch, dem momentanen Narrativ entsprechend, bis aufs Blut und weitere Körpersäfte hassen müssten.

Worauf es ankommt, sind effektive Zusammenarbeit und Kollegialität. Denn die Arbeit ist anstrengend und hart, härter als viele glauben. Über Stunden immer wieder heben, tragen, absetzen, einräumen und dann wieder heben, tragen, absetzen, einräumen und wieder und wieder und abermals. Schmerzende Nachwirkungen sind die Regel, Bandagen aller Art ein übliches Accessoire. Ich bin übrigens der einzige Deutsche im Team, oder, um es mit Angela Merkel auszudrücken, der einzige schon länger hier Lebende.

In der Parallelwelt

Aber ich kenne auch die Parallelwelt zu meiner sogenannten nebenberuflichen Tätigkeit. Eine Welt, in der es niemand nötig hat, so früh aufzustehen und körperlich zu arbeiten, eine Welt, in der mein Gehalt einem Trinkgeld gleichkäme.

Bisweilen bin ich Gast bei Abendessen oder abendlichen Umtrünken in gehobener, gebildeter, gepflegter Gesellschaft. Obgleich ich nicht dieser Klasse angehöre, werde ich — durch Anregung eines meiner Auftraggeber und da ich als Autor und sogenannter Ghostwriter einen gewissen Reiz ausstrahle — ab und an eingeladen. Für einen Abend nicht, um Günter Wallraffs Buchtitel zu zitieren, „ganz unten“, sondern, naja, nicht ganz oben, aber doch ziemlich weit oben. Besserverdiener, solvente Akademiker, betuchte Bildungsbürger, „gute Leute“, wie mein Auftraggeber sich ausdrückt.

Die Häuser oder Wohnungen in sogenannten Bestlagen, lichtdurchflutet, zum Teil luxusbetankt. Massivparkett, Stuckleisten, hochwertiges Mobiliar, Regale voller Bücher und Bildbände, ein paar edle Vasen, dazu an den Wänden ein bisschen moderne Kunst, und das alles in Räumlichkeiten nicht ganz so groß wie der Lesesaal einer Nationalbibliothek. Es existiert auch die etwas sparsamere Variante mit weniger Wohnraum und ohne moderne Kunst, dafür mit noch mehr Büchern: viel Philosophie, viel Philologie, zuhauf Suhrkamp-Literatur und reichlich Franz Kafka, allerdings nicht in schmucklosen Taschenbuchausgaben, sondern in der „Kritischen Ausgabe“, herausgegeben von Malcom Pasley, gebunden und im Schuber.

Erlesene Weine werden gereicht und schmackhaftes Fingerfood. Man ist unter sich und unterhält sich über kulinarische Glanzlichter in der Toskana — „Die Osteria da Pasquale in Lucca, da müsst ihr hin!“ —, absolvierte und geplante Reisen, das berufliche sowie schulische und universitäre Fortkommen der Kinder. Die schickt man seit geraumer Zeit gerne auf katholische oder evangelische Schulen. Dort gibt es keine Muhammeds und Hassans, die die Hausaufgaben nicht machen, der Lehrerin nicht die Hand geben und in der Pause auf dem Schulhof mit Finn und Elias noch was „klären“ müssen. Also, so sagen es die Eltern natürlich nicht, so denken sie es nur. Die offizielle Begründung lautet, dass Finn und Elias, Sophie und Marie sich in diesem Umfeld einfach besser entwickeln können, wobei es auch zielorientierter und stringenter zuginge als bei den beiden weiteren Alternativen Waldorf und Montessori. Aus den Kindern soll schließlich mal „was werden“.

Und irgendwann im Laufe des Abends wird es dann politisch. „Sylt“ ist immer noch ein Thema. Bei einigen schimmert eine gewisse Verwunderung durch, dass Kinder wohlhabender und gewiss kultivierter Eltern da zur Melodie von „L’amour toujours“ inbrünstig und fidel „Ausländer raus!“ geschmettert haben. Der Komponist des Hits, Gigi D’Agostino, „vermeidet“, wie das ZDF geradezu entrüstet schlussfolgert, „eine klare Verurteilung der Verfremdung seines Liedes“ und äußerte stattdessen den schönen Satz, er halte sich von den sozialen Medien fern, „um meinen Geist zu schützen“. Dann echauffiert sich die Abendgesellschaft allgemein über die „Rechten“, es schaudert alle vor der selbsternannten Alternative fürs Heimatland.

Allerdings irritiert Doktor Alice Weidel: Eine beruflich erfolgreiche Akademikerin! Ihre Promotion wurde gefördert durch die Begabtenförderung der Konrad-Adenauer-Stiftung, und für ihren Forschungsaufenthalt in China bekam Weidel ein Stipendium des Deutschen Akademischen Austauschdienstes und des Bundesministeriums für Bildung und Forschung; ihre Dissertation über die Zukunft des chinesischen Rentensystems erhielt „magna cum laude“. Sie ist gebildet, attraktiv, kleidet sich stilvoll und lebt mit ihrer aus Sri Lanka stammenden Lebensgefährtin Sarah Bossard, einer Schweizer Film- und Fernsehproduktionsleiterin, in einer eingetragenen Lebenspartnerschaft. Das Paar zieht zwei Söhne groß.

Ja, die Personalie Weidel verstört die Abendgesellschaften stets aufs Neue. „Sie ist lesbisch und zieht zwei Kinder mit einer in Sri Lanka geborenen Partnerin groß: Was hat diese Frau in der AfD zu suchen, und vor allem wie kommt sie an deren Spitze?“, heißt es immer wieder.

Man spürt deutlich den Tenor, der lautet: Sie ist doch eine von uns! Was will sie bei diesen dumpfen, stupiden Rechtsproleten, die doch überhaupt nicht ihrem Niveau und ihren Lebensumständen entsprechen!

Und so geht es dahin über die „Rechten“ und die AfD: Peinlich für Deutschland, schädlich für Deutschland, sie spalten, sie hassen, sie wollen millionenfach Ausländer deportieren, ihre Anhänger und Wähler sind „brauner Bodensatz“, und selbst wenn dreißig, ja wenn fünfzig Prozent sie wählen, muss die Partei verboten werden. Dann hat die Demokratie mal Pause zu machen, um die Demokratie zu schützen, wie zu Corona-Zeiten die Freiheit pausierte, um die Freiheit zu bewahren. Bei solchen Aussagen denkt man an Bertolt Brecht und sein Gedicht „Die Lösung“, in dem es sinngemäß heißt: „Das Volk hat das Vertrauen der Regierung verscherzt. Wäre es da nicht doch einfacher, die Regierung löste das Volk auf und wählte ein anderes?“

Was mir zudem auffiel: Es ist immer nur von Deutschen und Ausländern die Rede. Als gäbe es lediglich zwei Länder auf der Welt — „Deutschland“ und „Ausland“. Im Laufe der Zeit habe ich festgestellt, woran das liegt: Diese Elitenbürger kennen, abgesehen von ausländischen Geschäftspartnern und anderen Personen auf Augenhöhe, keine „Normalo“-Ausländer — außer dem türkischen Gemüsehändler und dem Wirt ihres Stammitalieners.

Was will der Kanake hier?

Im November 2020 veröffentlichte die Band Extrabreit nach 12 Jahren Pause ihr 13. Studioalbum „Auf EX!“, das den Song „Gib mir mehr davon“ enthält. Ein Lied über Jugendfreunde und was aus ihnen geworden ist im Laufe der Jahre und Jahrzehnte mit dem Satz: „Nelly ist immer noch ultralinks — in ’ner Eigentumswohnung in Berlin.“ In einem längeren Interview für die Sendung „Zwischen deinen Zeilen“ vom Gastgeber darauf angesprochen, dass links und reich kein Widerspruch sein müssten, äußerte Autor und Sänger Kai Havaii, der selbst eine extrem linke Vergangenheit hat:

„Es ist heute so, dass Linkssein sich in erster Linie über moralische Dinge definiert. ‚Wir sind im Besitz der absoluten Moral, alle anderen sind böse Menschen oder Menschenverächter.‘ (…) Ich habe eigentlich auch immer gedacht, dass Linkssein — so war es zumindest früher — was damit zu tun hat, dass man sich um die sozialen Belange auch gerade benachteiligter Menschen kümmert, dass man sich dafür interessiert. (…) Ich beobachte allerdings bei einigen, dass das eher in eine gewisse Weltfremdheit oder in ein Desinteresse mündet.“

Dies entspricht meinen Beobachtungen bei den erwähnten Abendgesellschaften. Man spürt kein Interesse an sozialen Problematiken, an Armut, an „bildungsfernen Schichten“ — ob deutsch oder nichtdeutsch beziehungsweise ob schon länger oder noch nicht so lange hier lebend. Entscheidend ist es, die als korrekt ausgegebene Haltung einzunehmen, die Meinung zu äußern, die als „anständig“ gilt und Solidarität zu simulieren mit pseudomoralgetränkten und pathetischen Statements auf X, während gerade der schlechtbezahlte syrische Pizzabote klingelt.

Gerne beteiligt man sich auch an plakativen Aktionen, bei denen in den Chor eingängiger, gefälliger Slogans oder Parolen einzustimmen ist. Wobei dies durchaus Tradition hat: Im August 1992 zum Beispiel — nach den Ausschreitungen gegen die Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber und ein Wohnheim in Rostock-Lichtenhagen — verzichteten am letzten Vorrunden-Spieltag alle Fußball-Bundesligisten auf die übliche Trikotwerbung. Der Schriftzug des jeweiligen Sponsors wurde durch den Slogan „Mein Freund ist Ausländer“ ersetzt. Eine typische Aktion — Dauer lediglich neunzig Minuten — zur Schärfung des eigenen Profils.

Für den Ausländerfreund ist die Kampagne überflüssig, den Ausländerfeind wird sie nicht umstimmen, vielleicht sogar noch dessen Furor steigern.

Aber man selbst, sei es als Organisation oder als Individuum, gab ein prächtiges Bild ab, obwohl die Freunde Frank, Sabine und Hans-Joachim hießen.

In einem Straßeninterview Anfang Februar 2024 schilderte ein junger Türke oder Deutscher mit türkischen Wurzeln eindrucksvoll seine Eindrücke als Zeuge einer Demonstration „gegen Rechts“ in Berlin:

„Aber das hier ist meiner Meinung nach etwas heuchlerisch. Gefällt mir nicht. Diese Demonstration gefällt mir absolut nicht. Die Leute scheinen so dämonisiert zu sein (…). Wenn ich jetzt in die U-Bahn steigen würde, würden sich die Leute, die jetzt hier protestieren — die Hälfte davon — sowieso von mir wegsetzen. Das ist für mich eine Doppelmoral, also sehr heuchlerisch. (…) Als ich da vorbeigelaufen bin, haben sie mich alle schief angeguckt — so nach dem Motto: ‚Was will der Kanake hier?‘ So, dann ist einmal meine Frage: Protestiert ihr gegen rechts oder was macht ihr hier eigentlich? Was macht ihr hier? Was tut ihr hier?“

Stadionrassisten

Vor meiner Nebentätigkeit als Warenverräumer arbeitete ich elf Jahre nebenberuflich bei einem Sicherheitsdienst in den Fußballstadien meiner Stadt. Da hier drei Vereine in den Ligen eins bis drei spielen plus zwei zweiter Mannschaften in den Spielklassen darunter, komme ich nach all den Jahren in der Addition auf weit über fünfhundert Spiele Erfahrung, in denen ich bei jedem Einsatz mit Ausländern zusammenarbeitete. Ein Erlebnis ist mir in diesem Zusammenhang besonders in Erinnerung geblieben. Zu jenem Zeitpunkt war ich bereits Abschnittsleiter für die Haupttribüne in einem der Stadien, mein Team an diesem Abend bestand aus etwas mehr als zwanzig Personen. Es handelte sich um ein Lokalderby, bei dem erfahrungsgemäß Emotionen und Aggressionen besonders rasant und abrupt emporschnellen.

Allerdings kam es während des Spiels zu keinerlei nennenswerten Vorfällen im Tribünenbereich — so schien es jedenfalls. Das Spiel war abgepfiffen, die Zuschauer strebten zu den Ausgängen, als mich bei meinem Kontrollgang durch die Reihen ein Kollege hektisch und laut rufend herbeiwinkte. Der Mitarbeiter — arabischer Herkunft offensichtlich — war vor der ersten Sitzreihe postiert gewesen mit stetem Blick aufs Publikum, um zu verhindern, dass Zuschauer aufs Spielfeld laufen, oder Fans zu identifizieren, die Gegenstände in Richtung Spieler oder Schiedsrichter werfen.

Er berichtete mir Folgendes: In der ersten Reihe wären zwei Fans des Gastvereins während des Spiels immer wieder aufgestanden und auch über längere Zeit stehen geblieben, sodass den unmittelbar hinter ihnen sitzenden Zuschauern die Sicht aufs Geschehen versperrt war. Diese forderten die beiden vergeblich auf, sich wieder hinzusetzen und auch sitzen zu bleiben. Daraufhin schaltete sich der Kollege mit derselben Forderung ein, was zur Folge hatte, dass die beiden ihn rassistisch beleidigten und einer von ihnen den Ordner mit dem Mobiltelefon filmte. Das Video lud der Zuschauer unmittelbar danach im Internet hoch. Als dieser nach Abpfiff eilig die Tribüne verlassen wollte, versuchte mein Mitarbeiter ihn festzuhalten, woraufhin ihm der Mann auf den Arm schlug, sich losriss und davonlief. Eventuell befinde er sich noch vor dem Stadion, mutmaßte der Kollege und lief voller Zorn nach draußen.

Die Situation war heikel. Ich verfügte über reichlich Erfahrung mit solchen Situationen, denen eine ganz eigene Dynamik innewohnt, und betreibe seit über 25 Jahren Kampfsport und Selbstverteidigung in mehreren Disziplinen — Boxen, Taekwondo, Krav Maga, Free Fight —, und wusste deshalb um die Risiken und möglichen Konstellationen, die entstehen können. Der Ausgangsbereich war eng, schwach beleuchtet und nun, nach Spielende, voller Menschen. Ich hatte keinerlei Kenntnis über das kämpferische Können des Kollegen: Würde er im Fall des Falles eine Unterstützung sein oder eher eine Belastung, weil ich ihm dann mit nicht unerheblichem Risiko zu Hilfe kommen musste? Wenn wir den Täter noch sehen würden und ihn festhalten wollten, was würde passieren? Wie weit würde die Situation eskalieren? Anzunehmen war, dass er sich wehrt und sich der Situation entziehen will. Ist er bewaffnet? Kommt es zu Solidarisierungen durch andere Fans des Gastvereins? Und gleichzeitig war aus rechtlichen Gründen die „Verhältnismäßigkeit der Mittel“ zu wahren — die Maßnahmen hatten geeignet, erforderlich und angemessen zu sein.

Während ich dem Kollegen folgte, setzte ich einen Funkspruch ab mit der Bitte um zügige Unterstützung durch Kollegen und Polizei. Aber keiner antwortete. Im Ausgangsbereich angekommen, konnte der immer noch sichtlich aufgelöste und entrüstete Kollege den Täter nicht entdecken. Dafür trafen wir auf das Ehepaar, das hinter den Tätern gesessen und sich beschwert hatte. Sie schilderten mir den Vorfall und wie mein Kollege verbal absolut korrekt eingeschritten sei. Während die Zeugin ihren Namen und ihre Telefonnummer auf einem Zettel notierte, wurde mir erst richtig gewahr, dass auf meinen zweimal per Funk abgesetzten Notruf niemand reagiert hatte. Kein Kollege, keine Polizei. Es war ihnen offensichtlich egal.

Der Arier und der Kameltreiber

Wir gingen wieder Richtung Tribüne und sahen dort den zweiten der beiden Gästefans tatsächlich noch auf seinem Platz sitzen. Auf den Vorfall angesprochen, meinte er, er kenne den anderen gar nicht und im Übrigen sei das doch alles gar nicht so schlimm gewesen. Ich funkte die Sicherheitszentrale abermals an und diesmal kam tatsächlich eine Antwort. Um den Vorfall auf der Tribüne aus erster Hand mitzuteilen, hielt ich das Funkgerät in Richtung meines Mitarbeiters, sodass er das Geschehene unmittelbar ins Mikrofon schildern konnte.

In diesem Moment kam der Veranstaltungsleiter des Heimvereins hinzu, der die Funkmitteilung nur halb gehört hatte. So berichtete ich ihm und sagte, dass nicht klar sei, ob der noch vor uns sitzende Fan den anderen wirklich nicht kenne — es sich also um eine neunzigminütige Stadionbekanntschaft handelte —, und im Übrigen hätte ja auch er rassistische Beleidigungen gegenüber meinem Kollegen geäußert. Es wäre wohl doch angebracht, meinte ich, hier die Polizei hinzuzuziehen, denn immerhin liegen im vorliegenden Fall die Delikte Körperverletzung, Beleidigung sowie Verletzung des Rechts am eigenen Bild vor. Der Clubverantwortliche reagierte vollkommen ungehalten, ja fassungslos. „Wegen sowas die Polizei rufen, also wirklich nicht, auf keinen Fall!“, äußerte er und eilte empört davon, als wäre er mit etwas vollkommen Absonderlichem und Abwegigem belästigt worden. In diesem Moment riss sich mein arabischer Kollege seine Sicherheitsweste vom Leib, drückte sie mir in die Hand und sagte: „Ich arbeite hier nicht mehr! Ich habe hier keine Rechte!“ und lief davon.

So verständlich seine Reaktion und das Geäußerte waren, so unzutreffend war die Schlussfolgerung. Nicht seine Staatsangehörigkeit oder seine Herkunft waren der Grund dafür, über „keine Rechte“ zu verfügen, sondern sein sozialer Status. Und das betraf auch mich. Wir beide waren die exakten Abbilder der negativ besetzten Klischees.

Ihm sah man seine arabische Herkunft sofort an, ich messe knapp ein Meter neunzig und bin blond. Der Arier und der Kameltreiber. Trotz dieses massiven Unterschiedes wurden beide im Stich gelassen, keiner hat auf meinen wiederholten Funkspruch reagiert, sogar die Kollegen nicht. Ich kassierte übrigens im Nachgang noch eine massive Rüge, weil ich meinen Mitarbeiter in das Funkgerät hatte sprechen lassen. Also ein Verstoß gegen die „Funkdisziplin“. Selbstverständlich hätte ich meinem Vorgesetzten am liebsten gesagt, wohin er sich seine Funkdisziplin stecken kann, aber das wäre das Ende meiner Anstellung gewesen. Das konnte ich mir nicht leisten. Ja, der Arier und der Kameltreiber — beide übten sie denselben Bullshitjob aus, und beide wurden sie behandelt wie Bullshit.

Kampffische

Und an diesem Abend, so schien es mir, fand ich den ganz privaten, höchstpersönlichen Beweis für die Aussage, dass hinter oder vielmehr über allen gesellschaftlichen Konflikten ein Konflikt steht, von dem nicht die Rede sein darf. Also gewissermaßen die Mutter — und meinetwegen auch der Vater — aller Konflikte: nämlich der Kampf oben gegen unten. Nicht Deutsche gegen Ausländer, nicht der Norden gegen den Süden, nicht Linke gegen Rechte, und auch nicht Dortmund gegen Schalke. Schließlich finden sich in allen Berufen und Tätigkeitsbereichen „Ausländer“ — als Angestellte, als Selbstständige, als Unternehmer, als Geringverdiener, Normalverdiener, Besserverdiener, Nochbesserverdiener und somit nicht generell als Underdogs, wie es gerne erzählt wird.

Der Kampf oben gegen unten. Investor Warren Buffet meinte ja: „Der nächste Krieg wird ein Krieg sein Arm gegen Reich. Und meine Klasse, die der Reichen, wird diesen Krieg gewinnen. Nicht, weil wir Recht haben oder besser sind, sondern, weil wir das Geld haben.“

Aber eigentlich handelt es sich um gar keinen Kampf oder sogar Krieg, maximal um ein Mismatch, bei dem der Ausgang klar ist. Wie heißt es doch auf diesen Kalauer-T-Shirts: Ich Chef, du nix. Und so sät man von oben noch ein wenig Missgunst, inszeniert Konflikte, schürt das Feuer und betrachtet erfreut das Ergebnis. Schon Aristoteles schrieb über die Zementierung der Tyrannei: „Weiter gehört dazu, Leute gegeneinander aufzubringen und Zwietracht unter Freunden (…) zu säen.“ Pack schlägt sich, Pack verträgt sich. Letzteres aber besser nicht, denn die Feindschaften und Auseinandersetzungen sollen ja nie erlöschen. Erfreut betrachtet man von oben, wie die Käfer sich gegenseitig auffressen.

Zu Schulzeiten hatte ich einen Klassenkameraden, der hielt sich im Aquarium einen Siamesischen Kampfisch — Betta splendens; sehr attraktive Fische mit schönen, unterschiedlich langen und abwechslungsreichen Flossenformen, die mit intensiven bunten Farben beeindrucken. Allerdings sind insbesondere die Männchen aufgrund eines ausgeprägten Revierverhaltens, auch innerartlich, sehr aggressiv und sollten daher einzeln gehalten werden.

Mein Mitschüler besaß ein Männchen und erzählte mir, er kaufe regelmäßig vom Taschengeld ein weiteres hinzu, um die beiden Fische beim Kämpfen zu beobachten. Einmal lud er mich ein. Er hatte zuvor in der Zoohandlung einen zweiten Kampffisch erworben und setzte diesen nun mit einem Netz ins Aquarium zum anderen. Da sich die Fische in diesem nicht wie in der Natur großräumig ausweichen konnten, gingen sie zügig aufeinander los. Bald schwammen Flossenteile im Becken. Die Kämpfe zögen sich lange hin, berichtete mir mein Klassenkamerad, manchmal endeten sie tödlich, manchmal nicht. In letzterem Fall nehme er danach einen Fisch aus dem Aquarium, setze ihn zunächst in ein separates Becken und lasse ihn dann am nächsten oder übernächsten Tag erneut zum zweiten Fisch ins Wasser. Dies führe er so lange fort, bis einer der beiden tot sei. Bald danach kaufe er sich einen neuen.

So saßen wir also im Zimmer meines Klassenkameraden vor dem Aquarium und beobachteten den Kampf der Fische. Er bewirtete mich mit Cola und Keksen. Sein hämisches Lächeln beim Betrachten der sich stets aufs Neue attackierenden Fische habe ich bis heute nicht vergessen.