Das Tahiti-Projekt

Die Zerstörung der Welt oder Leben im Ökoparadies? Begleiten Sie den Hamburger Spitzenjournalisten Cording auf seiner Reportagereise. Teil 5.

Eine Vorschau auf das Jahr 2022 — aufgeschrieben mehr als ein Jahrzehnt früher: Die Welt droht in einem Chaos aus natürlichen und menschengemachten Katastrophen unterzugehen. Nur auf Tahiti wächst ein neues ökologisches Paradies heran. Omai, der junge Präsident der Insel, versucht, sein Land zu beschützen. Der Hamburger Spitzenjournalist Cording lässt sich vom Idealismus Omais anstecken und wird unversehens in eine Affäre ungeheuren Ausmaßes hineingezogen. Denn die Mächtigen der Welt haben es auf die Rohstoffvorräte Tahitis abgesehen. Manova veröffentlicht jede Woche ein Kapitel aus Dirk C. Flecks visionärem und spannendem Roman. Hier finden Sie alle vorherigen Teile.

Die Ankunft

Cording hasste Wartezeiten auf Flughäfen. Und dabei war dies erst der Anfang der Reise, er war gerade mal in London, ein Katzensprung von Hamburg entfernt. Immerhin durfte er Businessclass fliegen. Das hing vermutlich damit zusammen, dass sie ihm den Sohn der Chefredakteurin aufs Auge gedrückt hatten. Dem verwöhnten Zögling war die Billigklasse nicht zuzumuten. Gut so.

Er suchte die Lounge auf, in der er seinen jugendlichen Begleiter in Empfang nehmen sollte. Aber selbst hier entging er den nervenden Lautsprecherdurchsagen nicht, wenn sie auch in etwas gedämpfterer Form daherkamen. Als besonders abstoßend empfand er die Aufrufe an verspätete Fluggäste, die im barschen Befehlston aufgefordert wurden, sich endlich zum Check-in zu begeben. „Your aircraft is ready to depart, and all other passengers are waiting for you!“

Zum Glück verfügte die Lounge über eine Raucherzone. Er kramte die Schachtel hervor: drei Zigaretten waren übrig. Die würde er sich noch gönnen und dann war Schluss mit der Qualmerei. Eigentlich hatte er schon vor Tagen aufhören wollen, um den Entzug während des Fluges erträglicher zu gestalten, aber dazu war er nicht in der Lage gewesen. Er inhalierte so tief, dass selbst sein Nachbar mit der dicken Zigarre irritiert aufblickte. An den Panoramafenstern zogen die bunt bemalten Heckflossen der Verkehrsmaschinen vorbei wie in einem Haifischbecken. „Mrs. Elisa Wallace from Birmingham, Alabama, your aircraft is ready to depart, and all other passengers are waiting for you!“

„Mr. Cording?“

Vor ihm stand ein Mann in grauer Livree, der eine Chauffeursmütze in seinen Händen hielt.

Cording drückte die Zigarette aus. „Ah, Sie bringen mir den Jungen, richtig? Wo ist er denn?“

„Er sitzt dort drüben, Sir. Er kann den Qualm nicht vertragen.“

„Asthma?“

„Nein, Sir, Mr. Steve Parker ist Nichtraucher.“

Warum nur bewegte sich die Sachlichkeit der Engländer immer an der Grenze zur Arroganz? Er stand auf, nahm die letzten beiden Zigaretten aus der Schachtel und warf sie in den Aschenbecher. Dann folgte er dem Chauffeur am Buffet vorbei bis in den letzten Winkel der Lounge, wo ein schlaksiger Bursche vor seinem Laptop hockte.

„Hi!“, sagte Cording.

„Hi!“, antwortete der Junge ohne aufzublicken.

Der Chauffeur wünschte einen guten Flug und verabschiedete sich.

„... and all other Passengers are waiting for you!“

Cording warf einen Blick auf den Laptop.

„Was für ein Spiel ist das?“ fragte er.

Steve strich sich die Strähnen aus der Stirn und blickte ihn spöttisch an.

„Sie müssen sich nicht krampfhaft um eine Unterhaltung mit mir bemühen.“

Das fing ja gut an.

„Ich würde mich aber gerne mit dir unterhalten“, entgegnete Cording,

„immerhin habe ich dir meine letzten beiden Zigaretten geopfert ...“

Der Junge ignorierte die Bemerkung. Er starrte auf den Schirm, als erwarte er eine verschlüsselte Botschaft. Cording zuckte mit den Achseln und ging hinüber zum Kaffeeautomaten. Mit der Tasse in der Hand drehte er noch eine Runde ums Buffet und betrachtete seinen seltsamen Begleiter aus der Ferne. Schöne Augen hatte er. Schöne Hände auch. Seine Haltung war nicht ohne Anmut. Die schroffe Art, mit der Steve ihm begegnete, war zwar gewöhnungsbedürftig, hatte aber durchaus seine Vorteile. Immerhin war er soeben davon befreit worden, lästigen Smalltalk betreiben zu müssen.

Cording setzte sich wieder zu ihm und schwieg. Er hatte den Eindruck, dass er sich in diesem Schweigen schwerer einzurichten wusste, als Mrs. Parkers Sohn, der eine fabelhafte Fähigkeit bewies, die Außenwelt auszublenden. Nach einer Stunde wurde ihr Flug endlich aufgerufen. Die Stewardess, die ihnen die Plätze zuwies, schenkte dem gut aussehenden jungen Gentleman an seiner Seite ein strahlendes Lächeln. Cording hingegen nickte sie nur flüchtig zu, obwohl auch ihm laut Dienstvorschrift ein Lächeln zugestanden hätte ...

„Wie lange fliegen wir nach Auckland?“, fragte Steve, als er sein Gepäck verstaute.
„Siebzehn Stunden“, antwortete Cording.

Manche Dinge offenbaren ihren wahren Schrecken erst, wenn man sie ausspricht. Die Vorstellung, die nächsten siebzehn Stunden mit achthundert Menschen in zehntausend Metern Höhe gefangen zu sein, war ihm ein Gräuel. Außerdem wusste er nicht, wie er mit den heftigen Entzugserscheinungen fertig werden würde, die sein zickiger Nikotin-Dämon für ihn bereit hielt. Cordings Füße fühlten sich schon jetzt an, als seien sie mit explosivem Sternenstaub gefüllt. Er versuchte zu lesen, legte das Buch jedoch schon kurz darauf frustriert beiseite. Seine Augen fraßen Zeilen, deren Inhalt sich ihm nicht erschließen wollte.

Steve ließ sich nichts anmerken, wenn sein Begleiter wieder einmal zu einem seiner zahlreichen Spaziergänge aufbrach. Auch die Passagiere aus der Economyclass hatten sich längst an den seltsamen Wanderer gewöhnt. Manch einer der Eingepferchten fragte sich vermutlich, was den Mann, der da auf Socken durch die Gänge schlich, dazu bewogen haben mochte, sein komfortables Refugium zu verlassen, um sich ihre Ellbogen in die Seite rammen zu lassen. Inzwischen hatten die meisten ihre Augenmasken aufgesetzt und quälten sich durch einen unerquicklichen Halbschlaf.

Trotz aller Nervosität, wuchs bei Cording die Vorfreude auf Tahiti. Er freute sich auf das Wiedersehen mit Omai, der das Heft des Handelns damals so entschieden in die Hand genommen hatte. Kurz vor seiner Machtergreifung hatte der junge Rebellenführer die Bekanntschaft zweier Reisender gemacht, einem Elsässer und einem Deutschen, die ein sozioökologisches Wirtschaftsmodell entwickelt hatten, das sie „Equilibrismus“ nannten. Omai war fasziniert gewesen von den aufgezeigten Möglichkeiten, die für eine autarke Inselgesellschaft wie geschaffen schienen. Grundgehalt für jeden Bürger, Arbeitsplatzgarantie, ein preiswertes Transportsystem, billige Energieversorgung auf regenerativer Basis — das waren die Eckpunkte seines Programms. Sie klangen utopisch, doch da die Lage prekärer kaum noch werden konnte, stellte er das Projekt in einer Volksabstimmung zur Wahl. Mit dem Ergebnis, dass er zum Präsidenten der neu ausgerufenen „Ökologischen Konföderation Polynesiens“ gewählt worden war, ausgestattet mit allen Vollmachten und auf zehn Jahre. Seine erste Amtshandlung hatte darin bestanden, die Franzosen aus ihrer Zahlungsverpflichtung zu entlassen.

Der Schachzug war genial. Dadurch, dass Polynesien auf weitere Entschädigungszahlungen verzichtete, sorgte Paris im Gegenzug dafür, dass sich die EU des Inselprojekts annahm und es auf neun Jahre großzügig unterstützte — ohne zwischenzeitliche Kontrollen über den Verbleib der Gelder. Diese neun Jahre waren nun um. Polynesiens Regierung lud zur Besichtigung ein. Sie wollte Rechenschaft abgelegen — wie seinerzeit mit Brüssel vereinbart.

Cording betrachtete die Weltkarte auf dem Videoscreen, auf der ihre Position verzeichnet war. Sie befanden sich über der Südspitze Indiens und nahmen Kurs auf Sri Lanka, diesem ausgebrannten, vom Bürgerkrieg zerstörten Land. Er mochte sich kaum vorstellen, welche Tragödien sich in diesem Augenblick unter ihm abspielten. Der kollektive Tod, das Aus für alle, für Opfer und Peiniger, für Gerechte und Ungerechte, für Reiche und Arme — das war wohl der Lauf, den die Menschheitsgeschichte nehmen würde.

„Aotearoa — Land der langen weißen Wolke“ leuchtete es an der Stirnwand der Gepäckausgabe. Steve wartete bereits am Zoll, während sich Cording weiterhin in Geduld üben musste. Das Leben hielt für jeden Menschen einige ungeschriebene Gesetze bereit, und für Cording galt, dass sein Gepäck immer als letzter aufs Förderband verladen wurde. Das Dumme war nur, dass er sich daran nicht gewöhnen mochte. Wieder einmal starrte er ungläubig auf die Gummilaschen, unter denen ein nicht abreißender Strom von Reisetaschen, Surfbrettern und Rucksäcken zum Vorschein kam. Und wieder einmal hatte er das Gefühl, vom Schicksal verarscht zu werden. Dass er sich vor Erschöpfung kaum auf den Beinen halten konnte, machte die Sache nicht besser. Als sein Koffer endlich kam, zerrte er ihn mit solcher Wucht vom Band, dass der Griff aus der Halterung riss.

Die Hartgummirädchen quiekten erbärmlich, als Cording den Koffer hinter sich her zog und quer durch die Halle Richtung Zoll marschierte. Warum mussten sie überhaupt durch den Zoll? Wieso lud man das Gepäck nicht einfach um? Er hatte nicht die Absicht, im Land der weißen Wolke zu verweilen, weshalb also mussten sie diese Prozedur auf sich nehmen?

Man drückte ihnen einen Stoß Formulare in die Hand und forderte sie auf, die Papiere Punkt für Punkt auszufüllen. Er hatte von dem Wahn der neuseeländischen Behörden gehört. Nichts fürchteten diese mehr, als das Eindringen sogenannter „Bio-Terroristen“. Damit waren Leute gemeint, die — meist unabsichtlich — fremde Pflanzen oder unerlaubtes Saatgut einführten, eben alles, was das ökologische Gleichgewicht der beiden Inseln aus der Balance bringen konnte.

Vierzehn klein gedruckte Seiten umfasste der Fragebogen. Es wurde nach der Krankengeschichte des Reisenden gefragt, danach, welche Länder der verehrte Gast in den letzten fünf Jahren besucht hatte und zu welchem Zweck. Mit welchen Tieren und Pflanzen er während dieser Zeit in Berührung gekommen war. Ob er je Pflanzen oder Tiere im- oder exportiert hätte und wenn ja, welche. Sogar die Essgewohnheiten mussten offen gelegt werden. Vegetarier oder Fleischesser? Natürlich wurde nach dem Zweck der Reise gefragt, nach Kontaktpersonen im Lande, dem Aufenthaltsort und der voraussichtlichen Aufenthaltsdauer. „30 Minuten“ trug Cording ein, setzte seine Unterschrift unter das Ganze und schenkte seinen Kugelschreiber einem Japaner, der auf der Suche nach einem Schreibgerät durch die Gegend irrte.

Sie gaben die Fragebögen mitsamt der Pässe wie vorgeschrieben am „Welcome-Counter“ ab, wo man ihnen eine horrende Flughafengebühr abverlangte. Cording hatte mittlerweile resigniert, ihm mangelte es einfach an der nötigen Kraft, um gegen die Demütigungen, denen sie hier ausgesetzt waren, aufzubegehren. Sie folgten den gelben Pfeilen, die im Boden eingelassen waren und gelangten in den Terminal 1, der in Hüfthöhe von weißen Bändern durchzogen war. Die Bänder markierten schmale Wege, auf denen sich die Reisenden im Zickzackkurs den Abfertigungsschaltern näherten. Jeder dieser Wege war andersfarbig gekennzeichnet. Wer in die Vereinigten Staaten flog, musste den roten Pfad wählen, blau stand für Europa, grün für Asien, weiß für Australien, Orange für Afrika und lila für Mittel- und Südamerika. Aber dann gab es da noch diese reizenden, aufs schwarze Linoleum geklebten Abbildungen der Hibiskusblüte, die eine ganz andere Richtung wiesen. Sie führten im sanften Bogen an dem absurden Labyrinth vorbei, in dem die schwer beladenen Fluggäste wie Vieh verladen wurden.

In der Abflughalle wurden sie von einer jungen Tahitianerin empfangen, deren Lächeln die Strahlkraft des Blumenschmucks, den sie im Haar trug, noch übertraf. Das Mädchen hängte ihnen einen köstlich duftenden Kranz aus weißen Tiaré-Blüten um den Hals und hieß sie in ihrer Landessprache willkommen.

„Maeva!“ (1)

In dem Raum hielten sich etwa vierzig bis fünfzig Personen auf. Ihrem Habitus nach zu urteilen, handelte es sich um Kollegen, um jene Journalisten also, die außer Cording ebenfalls eingeladen waren, das „Tahiti-Projekt“ zu begutachten. Zu seiner Überraschung waren erstaunlich wenige Frauen darunter.

Aus den Deckenlautsprechern plätscherten sanfte Südseemelodien. Eine Dame in Uniform fragte höflich nach den Tickets und kam wenig später mit den Bordkarten und den Pässen zurück.

„Ihr Gepäck ist bereits verladen“, sagte sie. „Wünschen Sie eine Entspannungsmassage vor dem Weiterflug?“

„Gern“, antwortete Cording.

„Und der junge Mann?“

Steve errötete, schüttelte verlegen den Kopf und öffnete seinen Laptop.

„Was ist das für eine Massage?“, fragte Cording.

„Eine Romi-Romi-Nui-Massage. (2) Wird Ihnen gut tun nach der langen Reise. Ich sage Ihnen Bescheid, wenn Sie an der Reihe sind.“

Die Wartezeit verbrachte Cording damit, sich am Früchtebuffet zu bedienen. Steve wusste ja nicht, was ihm entging! Das köstliche Aroma von Ananas und Papaya weckte die Lebensgeister. Mit einem Schlag sprengten seine Geschmacksnerven sämtliche Fesseln, die ihnen der genmanipulierte Dreck aus den heimischen Supermärkten jahrelang auferlegt hatte. Wenig später geleitete ihn die uniformierte Dame nach nebenan, wo er von einer jungen Masseurin erwartet wurde.

Cording entledigte sich der Kleider, duschte und legte sich auf die mit bunten Tüchern abgedeckte Massagebank. Seine Knochen fühlten sich an wie geschreddert. Die Tahitianerin verrieb ein herrlich duftendes Öl auf seiner Haut. Dann begann sie, seine Zehen auseinander zu ziehen, sie zu kneten und zu streicheln, bis sie ihr ursprüngliches Bewusstsein wiedererlangt hatten, welches ihnen sagte, dass sie mehr waren, als unbedeutende Mitglieder einer geknebelten Fünferformation, die dazu verdammt waren, ihr Leben in engen, spitz zulaufenden Schuhen zu fristen.

Die Masseurin drückte fest auf die Fußballen, aus denen ein verkappter Schmerz entwich. Sie strich die Mulden links und rechts der Sehne aus, als säubere sie sie von lästigen Ablagerungen. Er inhalierte den kühlen, duftenden Film auf seiner Haut und registrierte, wie die Finger der Tahitianerin, einer Egge gleich, tiefe Spuren in seine Waden zeichneten. Anschließend bearbeitete sie die Oberschenkel und wirbelte dabei ganze Brocken aufgestauter Energie auf. Die frei gewordenen Elementarteilchen schienen sich mit der lieblichen Musik zu vermählen. Dies war der Zeitpunkt, da sich Cording endgültig seinen Träumen ergab. Die herrlichsten Landschaften taten sich vor ihm auf, er spielte auf Instrumenten, von denen er gar nicht wusste, dass es sie gab. Gedanken formulierten sich in seinem Kopf, die auf immer unaussprechlich bleiben würden, weil sie das Wort nicht ertrugen. Er träumte von Tahiti. Als er schließlich sanft an den Schultern gerüttelt wurde und über sich das lächelnde Antlitz der jungen Frau entdeckte, war er mit der jüngsten Tochter eines stolzen Häuptlings verheiratet, hatte zweimal den Dorffrieden gerettet und war drauf und dran, den Heiligen Berg zu besteigen ...

Die meisten Journalisten, die dem Bodenpersonal der tahitianischen Airline „Tahiti Nui“ (3) über das Rollfeld folgten, quittierten den Anblick der viermotorigen Propellermaschine mit der weißen Tiaré7 auf der blauen Heckflosse mit hämischen Kommentaren. Nach dem Motto: Seht her, so sieht die Zukunft der Menschheit aus! „Ich will zu meiner Mutti!“ schrie jemand, als der Kapitän erklärte, dass die Maschine mit kalt gepresstem Pflanzenöl flog. Die beiden Stewardessen sahen lächelnd über diese Unverschämtheit hinweg.

Cording und Steve hatten es sich in den hintersten Reihen bequem gemacht. Das Flugzeug war nur zur Hälfte besetzt und so war es möglich, Distanz zu dem lästigen Reporterpack zu wahren. Wie lange würden sie unterwegs sein? Als Cording das letzte Mal auf Tahiti gewesen war, wurde Papeete noch von Großraumjets angeflogen. Aber selbst damals hatte der Flug von Auckland mehr als fünf Stunden gedauert. Er schaute auf sein Ticket. Die Ankunftszeit war mit ein Uhr nachts angegeben. Das wären dreizehn Stunden! Dann fiel ihm ein, dass sie die Datumsgrenze überflogen, daher die großem Zeitverschiebung. Er blickte aus dem Fenster. Draußen ertrank die Sonne goldspeiend im Meer und machte einer rotglühenden Dämmerung Platz.

Während er das verglimmende Farbenspektakel betrachtete, hörte er sich Gauguins „Noa-Noa“ -Geschichte (4) an.

„Nach einer 63tägigen Reise, 63 Tagen fieberhafter Erwartung, bemerkten wir am 8. Juni in der Nacht seltsame Feuer, die sich im Zickzack auf dem Meere bewegten. Von dem dunklen Himmel löste sich ein schwarzer Kegel mit zackigen Einschnitten. Wir umschifften Moorea und hatten Tahiti vor uns ...!“

Er beugte sich über die Sessellehne zu Steve. „Den wievielten haben wir heute?“, fragte er.

„Den 8. Juni.“

„Hör dir das an“, sagte Cording und reichte ihm den earPod. „Nur die ersten Sätze ...“

Steve horchte kurz in den Text und gab das Gerät zurück. „8. Juni. Na und? So etwas soll es geben.“

„63 Tage waren die damals unterwegs. Und wir meckern schon über eine Reise von 30 Stunden!“

„Ich meckere nicht“, antwortete Steve und ließ den Curser über den Bildschirm gleiten, „Sie sind es, der meckert ...“

Cording ließ sich entnervt zurückfallen. Das Verhältnis zu diesem Jungen war ein einziges Missverständnis. Er schaltete den Recorder wieder ein, diesmal verzichtete er auf die Ohrstöpsel. Das Propellergeräusch war laut genug, dass sich niemand durch den Text gestört fühlen musste. Als sich Gauguin in den Bergen beim Fällen eines Rosenholzbaumes den Zivilisationsfrust von der Seele kloppte, schlief Cording ein. Der Recorder lag neben ihm und erzählte die wunderbare Geschichte des Malers, der nach Tahiti aufgebrochen war, um endlich unter Menschen zu sein. Der Text wiederholte sich, denn er hatte aus Versehen auf Autoreverse gedrückt ...

„Stehen Sie auf!“, rief Steve und rüttelte an Cordings Schulter. „Wir sind da!“
Cording reagierte nicht. Steve drehte den Ton lauter.

„Wohin willst Du?“, fragte mich eine schöne, etwa 40jährige Maori.

„Ich will nach Hitiaa.“

„Wozu?“

„Um dort eine Frau zu suchen“, antwortete ich.

Die Journalisten im hinteren Bereich klatschten Beifall.
„Lauter!“ brüllte einer.

Steve tat ihm den Gefallen.

„In Faaone gibt es viele und hübsche. Willst Du eine von ihnen?“

„Ja.“

„Wohlan. Gefällt sie Dir, so will ich sie Dir geben. Es ist meine Tochter.“

„Ist sie jung?“

„Ja.“

„Ist sie hübsch?“

„Ja.“

„Ist sie gesund?“

„Ja.“

„Gut, so bringe sie mir.“

Der Junge stellte den Recorder aus und Cording schreckte hoch.

„Ach so geht das“, kommentierte Steve lachend. Die Mitreisenden erhoben sich und klatschten Beifall.

„Ist sie jung?“, rief der Schreihals von vorhin.

„Ja!!!“, antworteten andere im Chor.

„Ist sie hübsch?“

„Ja!“

„Ist sie gesund?“

„Ja!“

„Gut, so bringe sie mir!“

„Wir sind da“, wiederholte Steve, dem das von ihm inszenierte Spektakel nun sichtlich peinlich war. „Wir müssen uns anschnallen ...“

„Hab ich etwa die ganze Zeit gepennt?“

„Ja. Sie haben sogar die Zwischenlandung auf Rarotonga verpasst.“

Cording blickte aus dem Fenster. Außer den regennassen Schlieren auf der Scheibe war vom Südseeparadies nichts zu entdecken.


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