Das Tahiti-Projekt

Die Zerstörung der Welt oder Leben im Ökoparadies? Begleiten Sie den Hamburger Spitzenjournalisten Cording auf seiner Reportagereise. Teil 4.

Eine Vorschau auf das Jahr 2022 — aufgeschrieben mehr als ein Jahrzehnt früher: Die Welt droht in einem Chaos aus natürlichen und menschengemachten Katastrophen unterzugehen. Nur auf Tahiti wächst ein neues ökologisches Paradies heran. Omai, der junge Präsident der Insel, versucht, sein Land zu beschützen. Der Hamburger Spitzenjournalist Cording lässt sich vom Idealismus Omais anstecken und wird unversehens in eine Affäre ungeheuren Ausmaßes hineingezogen. Denn die Mächtigen der Welt haben es auf die Rohstoffvorräte Tahitis abgesehen. Manova veröffentlicht jede Woche ein Kapitel aus Dirk C. Flecks visionärem und spannendem Roman. Hier finden Sie alle vorherigen Teile.

Cording ging nicht mehr aus dem Haus, seitdem die USA Kirgisien mit Krieg drohten. Offiziell hieß es, dass die acht kirgisischen Hochschulen getarnte atomare Forschungsstätten seien, an denen mit Hilfe pakistanischer Wissenschaftler der Bau einer eigenen Neutronenbombe vorangetrieben werde. In Wahrheit ging es um die neu entdeckten Ölvorkommen im Ferganabecken. The same old story. Jeder wusste es, niemand sprach es aus. Stattdessen spielten pensionierte Generäle wieder einmal auf allen Kanälen den zu erwartenden Erstschlag durch. In Computersimulationen und an Taktik-Tischen wurden Raketen abgeschossen und die Zahl der Opfer kalkuliert.

Cording war sprachlos geworden, er verzichtete sogar auf seinen täglichen Spaziergang. Die Einsamkeit war zu seinem natürlichen Klima geworden. Die meiste Zeit lag er auf der Couch vor der Videowand. Wenn er per Sprachbefehl die Nachrichtensendungen aufrief, um sich über den Stand der Mobilmachung zu unterrichten, war ihm, als schrumpften Arme und Beine zu Wurmfortsätzen und der Kopf wäre nur eine Plastik aus aufgeblähtem Informationsmüll. Er fühlte sich ohnmächtig, wie betäubt angesichts dieser Diskussion, bei der die Mediengesellschaft das Wort Krieg in ihren Händen wog wie einen Kohlrabi auf dem Gemüsemarkt.

Von den zwei Wochen Urlaub, die Mike ihm zugestanden hatte, war eine bereits verstrichen. Von Erholung konnte keine Rede sein. Mit jedem Tag hatte er das Gefühl, sich von seiner Arbeit ein Stück weit zu entfremden. Wenn er nicht die Kurve kriegte und sich nach seiner Rückkehr willfähriger denn je zur Verfügung stellte, lief er Gefahr, dass man ihn rausschmiss.

Vor ein paar Tagen hatte ihm sein ehemaliger Kollege Helge Zimmermann eine Expressmail geschickt. Helge war einer von den siebzehn EMERGENCY-Reportern der ersten Stunde, die entlassen worden waren. In der Mail bat er dringend um ein Treffen, er hätte ihm etwas Wichtiges mitzuteilen. Da der Mann zu Übertreibungen neigte, hatte es Cording nicht für nötig befunden, sich zu melden.

Warum sich Helge ausgerechnet an ihn wandte, wollte Cording nicht einleuchten. Sie hatten während ihrer gemeinsamen Zeit bei EMERGENCY keinerlei vertraulichen Umgang gepflegt, im Gegenteil, ihr Verhältnis war eher unterkühlt gewesen. Aber plötzlich fiel ihm die Adresse ein, unter der sein ehemaliger Kollege zu erreichen war: Osdorfer Born. War das nicht eine jener Trabantenstädte, in die man die Arbeitslosen abschob? Konnte die Information, die ihm Helge stecken wollte, etwas mit der Situation der Ausgemusterten zu tun haben?

Er nahm die U-Bahn. Mit dem Auto konnte man sich am Osdorfer Born nicht sehen lassen, wenn man auf allen vier Rädern zurückkommen wollte. Die trostlose Vorstadt war nicht nur jenen vorbehalten, die aus dem Arbeitsprozess ausgestoßen worden waren, sie galt auch als Hamburgs Drogenhochburg. Auf zehntausend Quadratmetern rund um den Ole-von-Beust-Platz war ein Mikrokosmos entstanden, in dem der Überlebenskampf der Crackjunkies seine eigenen Gesetze schrieb.

Die Bewohner dieses gespenstischen Reiches bewegten sich wie in schweren dunklen Wassern. Aufflammende Pfeifen illuminierten die Hauseingänge, als hätten die Glühwürmchen den Drogensumpf zu ihrem Dorado erkoren. Die flackernden Augen in den jungen Pergamentgesichtern waren Ausdruck eines absurden Alltags zwischen Paranoia und Gier, wobei die Gier immer die Oberhand behielt. Die Cracksüchtigen vegetierten am Rande der Erschöpfung, ihre blaustichige Haut spannte auf den Knochen.

Grell geschminkte, abgemergelte Prostituierte säumten Cordings Weg, die Köpfe geneigt wie Blumen, die zu lange im modrigen Wasser gestanden hatten. Er beschleunigte seine Schritte, bis er den elenden Bannkreis durchquert hatte. Helge wohnte am Bloomkampring. Die Fassaden der hohen Häuser bröckelten, viele der Fenster waren geborsten und notdürftig mit Pappe, Zeitungspapier oder Sperrholz geflickt.

Vor der Eingangstür der Nummer Neunzehn hockten zwei Kinder nebeneinander und rührten apathisch im Matsch. Das Treppenhaus stank nach Urin. Der Fahrstuhl war außer Betrieb, also musste sich Cording die zwölf Stockwerke zu Fuß erobern. Oben angekommen, stützte er sich erschöpft auf die Knie und schaute sich um. Zimmermann. Während die Namen der übrigen Hausbewohner auf die Türen geschmiert waren, wies sich Helge durch ein blitzblankes Messingschild aus.

Cording klingelte. Zweimal lang, dreimal kurz, wie vereinbart Er hörte, wie an den Schlössern gefummelt wurde. Das dauerte. Schließlich ging die Tür auf. Vor ihm stand ein junges Mädchen in einem zerschlissenen Bademantel. Sie wischte sich die fettigen Strähnen aus dem Gesicht und fixierte ihn als halb verhangenen Augen. Dann wich sie zur Seite. Sie wusste offenbar von seinem Besuch. Die Bude war geschmackvoll und teuer eingerichtet. Weiße Couchgarnitur, Acryltisch, Perser, Musikanlage und an der Wand Helges Samuraischwert. Für einen Arbeitslosen, der keinerlei finanzielle Unterstützung vom Staat bezog, war das ein erstaunlich hoher Lebensstandard. Arbeitslose wohnten umsonst in diesen Buden, sie bezogen eine limitierte Menge Strom zum Nulltarif und bekamen täglich drei kostenlose Mahlzeiten in den Gemeinschaftsküchen. Über eigene Mittel verfügten sie in der Regel nicht.

„Helge ist nicht da“, nuschelte das Mädchen. „Wir können ihn aber besuchen gehen. Ich bin übrigens Piroschka ...“

Sie streckte Cording zur Begrüßung ihre schlaffe Hand entgegen und verschwand im Bad. Nach zehn Minuten kehrte sie zurück, wach und blühend, die Füße in Schnallenstiefeletten, die dürren Schultern von einer schwarzen Lederjacke gnädig verhüllt.

Sie führte ihn ins „Chatte Noire“, eines der zahlreichen Stundenhotels rund um den Ole-von-Beust-Platz. Die Rezeption war verlassen. Im Flur hing ein Zettel an der Wand: „Handel und Konsum jeglicher Drogen verboten. Die Geschäftsleitung“. Darunter schlief ein Mädchen, den Strohhut ins Gesicht gezogen, eine Crack-Pfeife in der Hand. Cording schaute sich unbehaglich um.

„Ach nee!“ hörte er Helge sagen, der mit einer Kiste Bier vor dem Bauch die schmale Stiege hinterm Tresen emporgestiegen kam. „Du bist also doch noch gekommen. Schön! Moment, bin gleich bei dir.“

Er begann das Geld in der Blechkassette zu zählen. Anschließend klemmte er die Liste mit den säumigen Mädchen an die Wand und nahm auf dem Barhocker hinter dem Empfangspult Platz. Von hier aus hatte er alles im Blick. Eingang und Treppenaufgang über einen Monitor, den Flur über einen runden Spiegel.

„Meine Schicht fängt gerade an“, entschuldigte er sich. „Geh doch mit Piroschka schon mal voraus, ich komm gleich nach“.

Als das Mädchen die Tür zu einem der Steigenzimmer öffnete, löste sich die goldene sieben und fiel zu Boden. Cording hätte am liebsten auf dem Absatz kehrt gemacht. Die zerrissenen Tapeten, der vom Schmutz festgebackene Linoleumboden, das demolierte Waschbecken, die herumliegenden Spritzen, Pfeifen, Messerchen, das schimmelnde Mauergerippe rund um den Türrahmen, der grässliche braune Vorhang, der tropfende BH am Handtuchhalter, das eindringende Geschrei von Straße und Flur — das alles ekelte ihn an. Es bedurfte schon einer speziellen Neigung, um diesen Platz freiwillig aufzusuchen.

Piroschka warf sich aufs Bett.

„Hast du ein bisschen Geld für mich?“ fragte sie gurrend. „Ich gebe es dir nachher wieder, ehrlich. Wenn du willst, können wir heute Nacht schön zusammen bleiben“.

Cording reichte ihr einen Fünfziger.

„Hier, aber mehr gibt’s nicht.“

„Mehr gibt’s nicht, mehr gibt’s nicht!“, äffte sie ihn nach. Dann quälte sie sich hoch. „Du bist ein Schatz“, sagte sie, „lass niemand rein, bin gleich zurück. Nicht weglaufen!“

Cording schaute aus dem Fenster. Vor dem Eden-Hotel legte ein breitschultriger Mann eine dürre Frau auf den Stufen ab. Ein vergitterter Mannschaftswagen fuhr im Schritttempo vorbei.

Kurz Zeit später war Piroschka zurück. Er hatte sie nicht kommen hören. Sie zog die Spritze auf, band sich den Arm ab und suchte in gekrümmter Haltung nach einer geeigneten Einstichstelle in der vernarbten Vene. Nach einer endlosen Stocherei, deren Anblick er kaum ertrug, ließ sie sich rücklings auf die Matratze fallen. Cording hatte genug. Er wollte gerade gehen, als Helge im Zimmer erschien.

„Die Weiber sind dermaßen blöd“, sagte er mit Blick auf seine schwer atmende Freundin, „die denken nicht von hier bis an die Wand.“

„Was machst du hier?“, fragte Cording. „Ich meine, was hast du in diesem Dreck zu suchen?“

„Geld verdienen“, gab sein Ex-Kollege grinsend zur Antwort.

„Als Wirtschafter eines Stundenhotels?“

„Als Wirtschafter und als Hausdealer. Ich hab heute mehr Knete in der Tasche, als mir der Verlag jemals bezahlen konnte. Fang jetzt bloß nicht an, moralisch zu werden.“

Er kramte ein Kochgeschirr aus der einer Plastiktüte.

„Da drin ist Erbseneintopf. Verabreicht in der Gemeinschaftsküche. Vielleicht ist Dir aufgefallen, dass die Leute hier wie betäubte Zombies durch die Gegend schleichen, als sei ihnen die Antriebsschwäche mit Beginn der Arbeitslosigkeit eingetrichtert worden. Piroschka war genauso, als sie noch in der Gemeinschaftsküche gegessen hat — und glaub mir, das lag nicht an den Drogen!“.

„Woran dann?“

„An diesem kostenlosen Fraß.“ Er hielt er den Topf triumphierend in die Höhe. „Ich hab einen Freund, der ist Chemiker. Der hat diesen Fraß untersucht. Sie mischen irgendein Zeug da rein. Ich komm jetzt nicht auf den Namen ... jedenfalls macht es die Menschen hochgradig apathisch. Ich sag dir, da läuft eine Riesensauerei! Die Volksspeisung ist in erster Linie dazu da, den Protest dieser Leute im Keim zu ersticken, sie kollektiv ruhig zu stellen.“

Er angelte die Plastiktüte von der Matratze, steckte das Kochgeschirr hinein und überreichte sie Cording.

„Lass das untersuchen und dann rede mit Mike. Du bist der Einzige, auf den er noch hört. Wir müssen diese Bombe unbedingt zum Platzen bringen! Halte mich auf dem Laufenden, okay?“

Cording wunderte sich, warum ihm dieser Mann eine solch brisante Story anvertraute, ohne dafür die geringste Gegenleistung zu verlangen. Ausgerechnet Helge, der die Schwäche der Menschen in diesem Revier schamlos ausnutzte, sollte sich plötzlich zu ihrem Anwalt aufschwingen?

„Die Leute hier sind meine Familie“, grinste sein ehemaliger Kollege süffisant, als könnte er Gedanken lesen. Dann verschwand er nach nebenan, wo man bereits verzweifelt nach ihm rief.

Cording verabschiedete sich, Piroschka interessierte das wenig, sie stocherte wieder in der Vene. Der Ole-von-Beust-Platz war jetzt menschenleer. Nur das Mädchen mit dem Strohhut huschte ihm mit spastischem Schritt hinterher, bis er sie mit unwirschen Handbewegungen verscheuchte wie ein Huhn. Sieben Ampeln kreuzten seinen Weg zum Taxistand. Sobald er den Fuß vom Gehweg auf die Fahrbahn setzte, sprangen sie auf rot — als löste sein Schritt einen elektrischen Impuls aus.

Helges Verdacht hatte sich bestätigt. Cording mochte das Untersuchungsergebnis kaum glauben. Selbst das Labor zeigte sich über die Zusammensetzung der Essensprobe verblüfft. Offenbar hatte man den Bakterien ein artfremdes Gen eingepflanzt. Heteroeloge Übertragung nannte man das. Die Genmikroben produzierten dabei eine seltene Aminosäure, wie sie eigentlich nur in Schlafmitteln enthalten war. Alles deutete darauf hin, dass die Arbeitslosen in Hamburg ohne ihr Wissen als staatliche Versuchskaninchen missbraucht wurden.

Cording war bewusst, dass es heute kaum noch eine Nutzpflanze gab, die gentechnisch nicht verändert worden wäre. Nicht umsonst waren die Umsätze der Biotech-Konzerne in den letzten dreißig Jahren explodiert: von fünf Milliarden auf 300 Milliarden Euro pro Jahr. Die gewaltigen Gewinne waren möglich geworden, weil die Regierungen diese Zukunftstechnologie durch immer freizügigere gesetzliche Regelungen abgesegnet hatten, um im internationalen Wettbewerb bestehen zu können. Inzwischen waren die Manipulateure in der Lage, Geschmack, Konsistenz und Nährgehalt von Pflanzen und Fleisch gezielt zu verändern. Über die Risiken wurde nicht diskutiert. Dabei beklagten Mediziner seit Jahren, dass die verspeisten Gen-Organismen den Krankheitserregern in der Darmflora die Abwehrformel gegen Antibiotika verrieten und damit neuen Krankheiten Tür und Tor öffneten. Im vorliegenden Fall handelte es sich allerdings nicht um einen der üblichen Betriebsunfälle, wie sie die Branche immer wieder zu verzeichnen hatte, sondern um einen gezielten Anschlag des Staates auf seine Bürger!

Cording rief seinen Chefredakteur an und informierte ihn in aller Kürze über die ungeheuerliche Entdeckung. Zu seiner Überraschung war Mike sofort bereit, ihn in seiner Privatvilla an der Elbchaussee zu empfangen. Er hatte sie im vergangenen Jahr von einem bankrotten Reeder erstanden, dessen Schiffsflotte durch Piraterie erheblich dezimiert worden war.

Im Haus verstummte das Geräusch eines Staubsaugers. Eine untersetzte Südamerikanerin in blau-weiß karierter Schürze und gelben Gummihandschuhen öffnete die Tür. Mike empfing ihn in der Bibliothek. In Häusern wie diesem waren Bibliotheken Pflicht. Während sein Gastgeber die Drinks mixte, setzte Cording den antiken Globus in Bewegung und überlegte, wie es ihnen gelingen könnte, die Schweinerei rund um die Volksspeisung so hieb- und stichfest zu machen, dass man damit im großen Stil an die Öffentlichkeit gehen konnte. Immerhin legten sie sich mit Kalibern wie der GENius Corporation an, die am Medienkonzern Matlock einen zwanzigprozentigen Anteil hielt.

„Ich will dir nichts vormachen“, sagte Mike und prostete Cording zu, „die Geschichte, auf die du gestoßen bist, ist mir seit langem bekannt.“

Cording verschlug es die Sprache. Hatte er richtig gehört?

„Beim Osdorfer Born handelt es sich um ein Pilotprojekt, das im Erfolgsfall auf ganz Deutschland ausgedehnt werden soll,“ fuhr Mike ungerührt fort. „Natürlich ist garantiert, dass die Betroffenen keinerlei gesundheitliche Schäden davontragen werden.“

Cording musste lachen. Was war in seinen Freund gefahren? Er hatte offenbar seinen skurrilen Humor wieder gefunden, den er nach der Ernennung zum Redaktionsleiter verloren zu haben schien.

„Vor drei Jahren“, hörte er Kühling sagen, „kurz bevor die Gettoisierung der Arbeitslosen in Hamburg per Gesetz beschlossen wurde, hatten sich Vertreter der Pharmaindustrie mit hochrangigen Politikern und an einen Tisch gesetzt, um ein Projekt zu abzusegnen, das nur in einer konzertierten Aktion zum Erfolg führen konnte. Damals haben sich die großen deutschen Verlage dazu verpflichtet, Stillschweigen zu bewahren. Diese Verpflichtung gilt bis heute. Am besten ist es, du vergisst die Angelegenheit.“

Da hatte Helge Cordings Einfluß auf Mike aber gehörig überschätzt. Auch Cording hatte sich in Mike getäuscht, der Mann war Teil dieses ungeheuerlichen Deals. Seine Worte taten Cording körperlich weh — als würde jemand den Resonanzboden seiner Seele mit der Spitzhacke bearbeiten. Das Blut pulsierte in den Schläfen. Sein Freund war nur noch als Schemen zu erkennen. Cording beobachtete den endlosen Sturz des Whiskeyglases, das ihm aus den Fingern geglitten war. Mit sanftem Plop landete es auf dem Teppich. Es war nicht umgekippt, es stand da wie abgesetzt.

„Warum?“, unterbrach Cording seinen Redaktionsleiter, der einfach nicht aufhören wollte, sich zu rechtfertigen. „Warum machst du diese Sauerei mit?“

„Das versuche ich dir doch gerade zu erklären: wenn es uns nicht gelingt, das immer größer werdende Potential der Frustrierten und Betrogenen in diesem Land zu befrieden, fliegt uns unsere zweigeteilte Gesellschaft in Kürze um die Ohren. So gesehen kommen die Medien nur ihrer gesellschaftspolitischen Verantwortung nach. Betrachte es mal von der Seite.“

Cording mochte kaum noch hinhören, er schüttelte nur fassungslos den Kopf. Er hatte keine Lust, auf diesen Schwachsinn zu antworten. Mike wusste sehr genau, dass das Stillschweigeabkommen nichts anderes bedeutete, als die endgültige Kapitulation der freien Presse vor dem großen Geld. Eine hundsgemeine Komplizenschaft hatte sich da gebildet. Während er diesem Gedanken nachhing, glaubte er aus Mikes andauerndem Redeschwall mehrmals das Wort Tahiti heraus zu hören.

„Was ist mit Tahiti?“, fragte er.

„Mein Gott, hörst du mir überhaupt zu! Du fliegst nach Tahiti! Dein nächster Job! Tahiti! Ökoparadies! Klingelts? Sie laden eine ausgewählte Schar internationaler Journalisten ein, um sie von den Vorzügen ihres neuen Gesellschaftsmodells zu überzeugen. In Wirklichkeit geht es wohl darum, durch eine positive Berichterstattung Druck auf die EU auszuüben. Du weißt, dass Brüssel die Zuschüsse für das Tahiti-Projekt einfrieren will. Lass dich aber nur nicht einlullen. Ich erwarte eine überaus kritische Auseinandersetzung mit dieser Politsekte, die sich in der Südsee mit unseren Geldern durchs Leben schmarotzt.“

Tahiti. Cording war vor neun Jahren schon einmal auf der Insel gewesen. Es war die Zeit, als Französisch Polynesien seine Unabhängigkeit erkämpfte. Die Spätfolgen der Atomversuche hatten Frankreich an den Rand der Zahlungsfähigkeit gebracht, die Regressforderungen der einheimischen Opfer waren in ungeahnte Höhen geschossen. Um ihnen weiterhin nachkommen zu können, hatte die französische Regierung den Verkauf der Inseln Raiatea und Bora Bora an einen chinesischen Konzern erwogen, der auf ihnen ein Ferienparadies für Geschäftsfreunde errichten wollte. Als die Pläne bekannt geworden waren, sah sich Paris einer Protestbewegung ungeahnten Ausmaßes gegenüber. Raiatea gilt den Polynesiern von je her als heilige Insel. Zuvor waren bereits zwei kleinere Eilande an amerikanische Milliardäre verscherbelt worden. Nach und nach drohte den Gesellschaftsinseln der totale Ausverkauf.

Zentrum des erbitterten Widerstandes war Tahiti gewesen. Als den Franzosen nichts Besseres einfiel, als ihre im Südpazifik stationierten Truppen gegen die Aufständischen in Stellung zu bringen, kam es im Hafen von Papeete zum alles entscheidenden Eklat. Eine französische Fregatte pflügte vier Kanus unter, 23 tahitianische Demonstranten starben. Obwohl die Regierung in Paris nicht müde wurde zu betonen, dass es sich um einen tragischen Unfall gehandelt habe, führten die weltweiten Proteste und Solidaritätsbekundungen dazu, dass sich Frankreich aus Polynesien zurückzog und die Inseln 2013 in die Unabhängigkeit entließ.

„Du fliegst über London“, sagte Mike und händigte Cording einen Aktenkoffer mit Unterlagen aus. „In London nimmst du den Sohn unserer Chefredakteurin in Empfang. Lydia Parker ist schwer erkrankt, sie macht es vermutlich nicht mehr lange. Sie möchte nicht, dass der Junge sie leiden sieht. Gib ein wenig auf ihn Acht.“

Na toll. Jetzt hatte er auch noch einen achtzehnjährigen Jungen am Hals. Er konnte mit Teenagern nichts anfangen, und die Vorstellung, für den verwöhnten Zögling das Kindermädchen zu spielen, schreckte ihn. Aber was sollte er machen? Er würde sich mit dem Knaben irgendwie arrangieren müssen.

Es kam nicht häufig vor, dass NSA-Chef Francis D. Copland das Hauptquartier in Fort Meade/Maryland ohne Leibwächter verließ. Um genau zu sein, war es erst einmal vorgekommen, vor einem Jahr. Damals war er ebenfalls inkognito nach Dallas unterwegs gewesen. Und wie heute hatte er auch damals den Zug anstelle des Flugzeugs genommen. Er konnte es sich nicht leisten, eine Datenspur zu legen.

Copland starrte in Gedanken versunken auf die vorüberziehenden Weizenfelder. Beim letzten Treffen in Dallas hatte er sich kaufen lassen. Er hatte sich dazu verpflichtet, einem geheimen Projekt von Global Oil den Schutz der National Security Agency angedeihen zu lassen, ohne Wissen des Präsidenten. Zwanzig Millionen Dollar hatte er dafür kassiert. Soweit, so gut. Aber bereits der erste Einsatz war gründlich in die Hose gegangen Robert McEwen, Vizpräsident von Global Oil, war darüber sicher nicht erfreut. Warum sonst hätte er ihn nach Dallas zitieren sollen?

Copland trat wie verabredet auf der Westseite des Bahnhofs ins Freie, wo sich für ihn die rückwärtige Tür einer heran rollenden Stretchlimousine öffnete.

„Die Züge sind pünktlicher als die Flieger“, bemerkte die füllige Erscheinung auf der Rückbank und bedeutete ihm, Platz zu nehmen. „Hatten Sie eine gute Fahrt?“

„Alles Bestens“, brummte Copland und stieg ein.

Der Wagen glitt durch das Gewirr von übereinander gestapelten Freeways Richtung Stadtgrenze. McEwen sagte kein einziges Wort, er verstand es, eine unerträgliche Spannung zu schüren. Aber plötzlich brach es aus ihm heraus:

„Was für ein Mist ist da passiert auf Bornholm?!“, schrie er Copland an. „Können Sie mir das erklären?! Da stürzen Ihre Killer in ein Schlafzimmer, bringen eine Frau und ein paar unschuldige Kinder um und machen sich vom Acker. Aber keiner Ihrer Mitarbeiter ist auf die Idee gekommen, die Bettdecken anzuheben, um sich zu vergewissern, ob sie den Richtigen erwischt haben. So viel Dilettantismus ist mir in meinem ganzen Leben noch nicht untergekommen. Sie sollten Rasmussen erledigen, Francis! Niemand hat Ihnen den Befehl gegeben, seine Familie abzuschlachten!“

Erst jetzt gab McEwen seinem Fahrer das Zeichen, die Trennscheibe hochzufahren. Copland rieb sich die verschwitzten Hände. Er hatte seine Ehre und somit die Autorität des Amtes an diesen Mann verpfändet, er war nicht mehr Herr seiner selbst.

„Ich warte immer noch auf eine Erklärung!“, hakte McEwen nach.

„Unsere Agenten sind eben auch nur Menschen“, antwortete Copland kleinlaut. „Wir töten normalerweise keine Kinder. Aber dass man in einem solchen Fall schon mal die Nerven verlieren kann, ist doch nachvollziehbar. Okay, Sie haben recht, das ändert natürlich nichts an den Tatsachen&bsp;...“

Robert McEwen atmete tief durch.

„Ich kann Ihnen nur eines raten, Francis“, sagte er schließlich, „finden Sie diesen Rasmussen. Finden Sie ihn, bevor er unsere Unterlagen in der Chefetage eines großen Fernsehsenders ausbreitet. Ich lasse Sie erbarmungslos hochgehen, wenn das passiert, mein Lieber.“

Er klopfte mit dem Whiskeyglas gegen die Scheibe, der Wagen fuhr rechts ran.

Copland verstand nicht, was das zu bedeuten hatte.

„Hier trennen sich unsere Wege fürs Erste“, sagte McEwen, ohne den Chef des mächtigen NSA auch nur ins Blickes zu würdigen. Der Fahrer stieg aus, ging um den Wagen und öffnete die Tür.

Im nächsten Moment fand sich der mächtige Geheimdienstchef inmitten einer trostlosen Industrielandschaft wieder. Er straffte die Schultern, als müsse er sich erst einmal wieder sammeln. Dann schritt er fröstelnd zur gegenüber liegenden Bushaltestelle.

Cording öffnete den Aktenkoffer und breitete den Inhalt vor sich auf dem Boden aus. Er studierte den Flugplan, den das verlagseigene Reisebüro für ihn zusammengestellt hatte. Donnerstag ging es los. Das war übermorgen! Hamburg-London, London-Auckland, Auckland-Papeete. Insgesamt 22 Stunden Flug. Rechnete man die Umsteigezeiten dazu, war er gut 30 Stunden unterwegs. Er wunderte sich, warum sie nicht über Los Angeles flogen, war aber wegen der extremen Kontrollen im dortigen Transitbereich ganz froh darüber. Die Amerikaner verhafteten einen ja schon, wenn ihnen der Name der Zahnpasta nicht geläufig war, die man bei sich trug.

Das Rückflugticket war auf den 8. September datiert. Die Redaktion gab ihm also volle drei Monate auf Tahiti! Drei Monate! Natürlich war Cording bewusst, dass es Mike in erster Linie darum ging, ihn für eine Weile aus der Schusslinie zu nehmen, aber das war ihm egal. Er freute sich auf die Reise. Gab es einen besseren Weg, dem komprimierten Wahnsinn seines beruflichen Alltags wirkungsvoll zu entfliehen, als drei Monate Südsee?

Cording erinnerte sich sehr gut an den allgemeinen Freudentaumel, den die Proklamation der Unabhängigkeit auf Tahiti ausgelöst hatte. Er war damals mit einem der Wortführer des Widerstands bekannt geworden, einem jungen charismatischen Mann namens Omai.

Omai war trotz seiner 27 Jahre mit erstaunlicher Weitsicht ausgestattet. Er begriff sehr schnell, dass nach dem ersten Schritt ein zweiter, viel weit reichender folgen musste, wenn man sich nicht erneut in die Abhängigkeit einer fremden Macht begeben wollte. Nach Abzug der Franzosen explodierten die Energiekosten, die Arbeitslosigkeit stieg sprunghaft an, das Müllproblem geriet außer Kontrolle, die Infrastruktur drohte zusammenzubrechen und der Tourismus tendierte gegen Null. Zu allem Überfluss machte sich ein kriminelles Milieu breit, das man auf Tahiti so noch nicht kannte. Die Entschädigungszahlungen der Franzosen hatten eine Kluft in die Gesellschaft geschlagen, das Gefälle zwischen Arm und Reich war einfach zu groß geworden.

Cording war gespannt, wie Omai und seine Mitstreiter mit diesen Problemen fertig geworden waren. Mikes abfällige Meinung über den Lebensentwurf der Tahitianer teilte er ganz und gar nicht.

Er betrachtete die Einladung, die vom Präsidenten persönlich unterzeichnet war. Der Text klang außerordentlich herzlich. Fast hatte er den Eindruck, dass es sich um mehr handelte als das bloße Standardschreiben, das außer EMRGENCY noch fünfzig anderen Redaktionen in aller Welt zugeschickt worden war. Konnte es sein, dass sich Omai an ihn erinnerte? Er legte die Musik auf, die ihm dieser damals zum Abschied geschenkt hatte.

„O’Tahiti, here here vau ia oe“, murmelte Cording in den wiegenden Rhythmus hinein. „Je t’aime, Tahiti,“ wiederholte er leise. Sein Französisch war recht gut und ein paar Brocken Tahitianisch konnte er auch noch. Er würde sich mit den Menschen am deren Ende der Welt ausgezeichnet verstehen ...


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