Das Tabu

Politische Korrektheit und Cancel Culture haben uns in eine Sackgasse geführt ― wir können uns nur daraus befreien, wenn wir kein Blatt mehr vor den Mund nehmen.

Sprachreglementierungen geben sich den Anschein, Minderheiten und gesellschaftlich schlechter Gestellte zu schützen. Tatsächlich bringen sie die Menschen aber nicht zusammen, sondern treiben sie auseinander. Sie nützen den Spaltenden und schaden allen anderen. Jede Art von Ausgrenzung macht krank. Das Abgespaltene zieht sich in Blasen zurück und entwickelt ein Eigenleben nach Regeln, die für den Gesamtorganismus nicht von Nutzen sind. Das Unausgesprochene wirkt dann wie ein Tumor, der die ganze Gesellschaft zu zerfressen droht. Nur wenn wir es wagen, auch die ganz heißen Kartoffeln aus dem Feuer zu holen, können wir individuell und kollektiv gesunden.

Es gibt Dinge, über die spricht man nicht gern, Verdauungsprobleme, Hämorrhoiden oder Impotenz etwa. Unsere Schwächen sind uns unangenehm und wir ziehen es vor, darüber zu schweigen, so wie auch darüber, welche Einkünfte wir tatsächlich haben oder was wir wirklich voneinander denken. Es könnte ja verletzen und schlafende Hunde wecken. Der andere könnte ja Gleiches mit Gleichem vergelten und dann wäre man selbst vielleicht der Dumme. So ziehen wir es vor, bestimmte Themen gar nicht erst anzusprechen. Sicher ist sicher.

Seit den 1990er-Jahren hilft uns die politische Korrektheit bei der Wahl unserer Gesprächsthemen. Die Welle, die zunächst von der politischen Rechten ausging, schwappte schnell in linke Kreise über und hat seitdem die gesamte Gesellschaft erfasst. Es soll darum gehen, Aussagen zu vermeiden, die Gruppen von Menschen kränken, beleidigen oder diskriminieren können, um den Schutz von Minderheiten also und gesellschaftlich schlechter Gestellten. Die Absicht erscheint in edlem Gewand und appelliert an Qualitäten wie Rücksichtnahme, Toleranz, Offenheit und Großherzigkeit.

In Deutschland sind es Themen wie Asylrecht, Aussiedler, Türken oder Juden, die nur mit Samthandschuhen angefasst werden können. Wer es wagt, der marschiert über ein Minenfeld. Ganz vorsichtig muss man hier sein, um nicht zu kränken, zu beleidigen oder zu diskriminieren. Der sich im Wort Vergreifende hingegen darf nicht mit Rücksicht rechnen, Toleranz, Offenheit oder Großherzigkeit. Obwohl in der Minderheit, haben die politisch Unkorrekten ihr Recht auf Nichtdiskriminierung verwirkt.

Mit zweierlei Maß

So lavieren wir uns immer unsicherer an den Tretminen unserer Sprache vorbei. Seit Langem vermeiden wir beflissen Ausdrücke wie „Negerkuss“, „Putzfrau“ oder „Zigeuner“, achten brav auf Gendersternchen und vermeiden bestimmte Themen möglichst ganz. Wer trotzdem etwa Israels Palästinapolitik kritisiert, unbequeme Fragen zu 9/11 stellt oder die Coronamaßnahmen anzweifelt, der macht sich keine Freunde. Bei derart Unvorsichtigen wird mit abwertenden Wortkreationen, Beleidigungen und Gemeinheiten nicht gespart.

Versuchen die vom rechten Weg Abgekommenen, sich zu verteidigen, werden sie kriminalisiert oder beschuldigt, sich selbst als Opfer zu inszenieren. Hier kennen Hohn und Spott keine Grenzen.

In der politisch korrekten Welt gilt: Wer einmal Opfer war, der bleibt immer Opfer. Diese Rolle hat man oder man hat sie nicht. Hier gilt sie nicht, die Erkenntnis, dass Opfer zu Tätern werden können, wenn das leidvoll Erlebte verdrängt und nicht geklärt wird.

Unverzeihlich ist es, das Verhalten bestimmter Gruppen zu kritisieren.

Als ich mich negativ zum Wirken der Banken äußere, kündigt mir ein Professor für Politik die Freundschaft. Scharf zertrennt das Schwert der Selbstgerechten die Menschheit in Gut und Böse. Kein Erbarmen kennt es mit den allzu Direkten, den Neugierigen oder den Naiven. So sind Diskussionsrunden, in denen offen gesprochen werden kann, rar geworden. Wir sind zu Aufpassern geworden, Spitzeln und Anstandswächtern, darauf abgerichtet, keinen Fauxpas zu übersehen. Wehe dem, der die Codes nicht kennt! Anstatt einander zuzuhören und uns gemeinsam im Gespräch weiterzuentwickeln, werfen wir uns unsere (Vor-)Urteile vor die Füße oder vermeiden die Auseinandersetzung gleich ganz.

Versteckte Zerstörungsmechanismen

Immer tiefer fressen sich die spaltenden Kräfte durch die Gesellschaft und vernichten, was sie einst verband. Das Abgespaltene, das, was wir nicht sehen, nicht hören, nicht aussprechen wollen, verschwindet nicht, sondern entwickelt ein Eigenleben. Das Unausgesprochene gärt unter Verschluss vor sich hin, entwickelt Blasen und wird zum Geschwür. Ignorieren wir auch dies, verbreitet es sich im ganzen Körper. Was dann geschieht, ist bekannt: Der Organismus stirbt ab. Nicht weil das Abgespaltene „böse“ war, sondern weil wir nicht hingehört und nicht hingesehen haben.

Tabus sind die Krebsgeschwüre der Gesellschaft. Sie machen uns krank. Wenn wir verhindern wollen, dass das Verdrängte zum Tumor wird und den gesamten Organismus in Mitleidenschaft zieht, müssen wir die heißen Kartoffeln aus dem Feuer holen.

Nur so können wir individuell und als Gesellschaft gesunden und wieder zusammenwachsen. Wir müssen begreifen, dass politische Korrektheit, Meinungskorridore, Deplatforming und Cancel Culture nichts mit Rücksichtnahme und Toleranz zu tun haben, sondern verkleidete Herrschaftsinstrumente sind, die dazu dienen, den Zusammenhalt in einer Gesellschaft immer weiter zu zerstören.

In der wohlmeinenden Absicht, dieses Mal auf der richtigen Seite zu stehen, lassen wir uns seit über einem Jahr buchstäblich Maulkörbe anlegen. Haben nicht gerade wir etwas wieder gutzumachen? Kein Volk eignet sich besser als das deutsche, es mit dem Gutsein zu übertreiben (1). So stark haben wir es auf die Spitze getrieben, dass wir auf der anderen Seite wieder herauskommen. Wir sind zu Inquisitoren geworden, die ihre Mitmenschen auf das Peinlichste inspizieren: Benutzt der andere auch den richtigen Ausdruck? Schämt er sich auch für seine weiße Hautfarbe? Verwechselt er „People of Color” und „colored People”? Kann er LGBTQIA* richtig aussprechen?

Frei willig

In dem Bestreben, keine Minderheit auszulassen, wird eine ganze Gesellschaft zersetzt. Hierbei machen wir freiwillig mit. Niemand zwingt uns dazu, uns gegenseitig so zu behandeln, so wie uns auch niemand dazu zwingt, unsere ganzen persönlichen Daten preiszugeben und alltäglichsten Gesten überwachen zu lassen. Freiwillig bezahlen wir viel Geld für die Apparate und Maschinen, die hierzu notwendig sind. Auch spritzen lassen wir uns freiwillig. Wir tun es, weil wir glauben, damit frei zu werden: frei von Schuld, frei von Beschränkungen, frei von Krankheit und Tod. Dabei haben wir vergessen, dass wir frei sind. Wir müssen niemanden darum bitten, uns unsere Freiheit zu geben. Wir müssen nicht für sie bezahlen. Die Freiheit ist schon da. Wir müssen sie uns nur nehmen.

Die meisten von uns tun dies nicht. Sie haben das frei geopfert und sind willig geworden. Der Gedanke, dass jemand diese Willigkeit ausnutzen könnte, liegt ihnen fern. Haben wir nicht in allem eine Riesenauswahl? Gibt es nicht überall Einkaufszentren, in die sogar Ungeimpfte noch hineinkommen? Wir sind doch frei. Gerade haben wir gewählt und da hat uns niemand vorgeschrieben, für wen wir unsere Stimme in die Urne legen. Wir suchen uns doch aus, ob wir Alexa zu Hause haben wollen oder nicht. Wir können ja auch nicht smarte Geräte kaufen, auch wenn das immer schwieriger wird.

So frei fühlen wir uns, dass wir gerne ein paar Abstriche unserer Freiheit in Kauf nehmen. Ist ja nur für eine bestimmte Zeit. Wenn wir erst die Herdenimmunität erreicht haben, dann wird das ja alles gelockert. Vielleicht heben die dann auch endlich die lästigen Kontrollen auf, die sie seit 2001 an den Flughäfen durchziehen. Wenn das dann allerdings nicht passiert, dann, .... ja dann ist es zu spät. Wenn wir dann erst merken, dass etwas faul ist, haben wir keinen Handlungsspielraum mehr. Wie der Frosch, den man in lauwarmes Wasser wirft, das man langsam erhitzt, weil er aus heißem Wasser sofort wieder herausspringen würde, sind wir gar.

Die Grenzen des Vorstellbaren

Unsere Gutgläubigkeit nährt sich von der fixen Idee, dass in einer Demokratie kein Totalitarismus entstehen kann. Es kann nicht möglich sein, dass die vom Volk gewählten Vertreter nicht im Sinne des Volkes handeln. Vater Staat ist doch dazu da, dass er uns beschützt! Unsere Sicherheit ist seine Daseinsberechtigung. Wäre es nicht so, dann gäbe es ihn doch nicht.

Wir glauben an den Staat, wie wir vorher an Gott geglaubt haben. Dieser Gott ist spätestens seit Auschwitz für die meisten tot. An seine Stelle trat der Staat als eine Art weltlicher Übervater, dem man nicht zutraut, dass er sich gegen seine Kinder richtet.

So groß ist die Sehnsucht, sich in Sicherheit zu fühlen. Wir brauchen die schützende Hand, die sich von oben auf uns legt ― ganz gleich, ob sie göttlich oder staatlich ist. Wer diese Hand wegzuziehen versucht, der begeht ein Sakrileg und gehört geteert, gefedert und in öffentlichen Schauprozessen verbrannt. Erstickt werden muss seine Stimme, gelöscht aus allen Netzwerken. Mit allen Mitteln wird verhindert, dass der Ketzer öffentlich zu Wort kommt. Kein Talkmeister wird ihn einladen, kein Medium seine Stimme in die Welt hinaustragen, es sei denn, um sie zu diskreditieren.

Der Staat schützt seine Bürger und Impfen ist gut für die Gesundheit. Basta! Es gibt Dinge, darüber diskutiert man nicht. Gewährleistet nicht genau dieser Staat, dass so etwas wie früher nicht noch einmal passiert, dass sich nie wieder eine Vernichtungsmaschinerie wie die der Nationalsozialisten in Gang setzt? In vielen Köpfen sind sechs Millionen Menschenleben eine Barriere, die nicht überwunden werden kann. Schlimmer geht es nicht. Unauslöschlich haben sich gerade diese sechs Millionen in das kollektive Gedächtnis gegraben. Das Abscheulichste, was Menschen in der Lage sind, Menschen anzutun, ist erreicht worden.

Ein noch größeres Verbrechen sprengt unsere Vorstellungskraft. Mehr kann eine Zivilisation, die sich für fortschrittlich hält, nicht tragen. Wie damals will dieser Gedanke nicht in unsere Köpfe. Wie damals werden diejenigen, die versuchen, die Öffentlichkeit zu informieren, nicht erhört. Schlimmer: Ihnen wird vorgeworfen, den Holocaust zu verharmlosen. Massenvernichtungslager existieren nicht in einem Land, das, auch wenn es von Größenwahnsinnigen regiert wird, doch eine große Kultur ist und keine Barbarei. Was nicht sein darf, das kann nicht sein, heute wie vor achtzig Jahren. Doch heute stehen nicht sechs Millionen, sondern sieben Milliarden Menschenleben auf dem Spiel.

Jenseits der Herdenimmunität

Viele Menschen sind bereits infolge der Maßnahmen und an den Impfungen gestorben und immer noch regt sich kein breiter Widerstand. Ende September 2021 ist weit über die Hälfte der deutschen Bevölkerung vollständig geimpft. Doch ein nicht unbeachtlicher Teil davon hat sich den Repressalien und Einschüchterungsversuchen nur widerwillig ergeben und mehr als 30 Prozent weigern sich, sich impfen zu lassen.

Millionen Menschen in Deutschland geben ihre Identität nicht für eine Bratwurst her. Gemeinsam mit denen, die sich trotz Impfung ihre Menschlichkeit bewahrt haben, bilden sie ein gewaltiges Potenzial, die Vernichtungsmaschinerie zu blockieren.

Die gewünschte Veränderung, das haben wir gesehen, kommt nicht über Wahlen oder Demonstrationen. Mancher mag frustriert darüber sein, dass die ganzen Anstrengungen „nichts gebracht“ haben. Doch täuschen wir uns nicht! Wir haben einander erkannt. Wir sehen, wes Geistes Kinder wir sind. In dem Bewusstsein, wie viele wir sind, bleibt uns ein starkes Wort: Nein! Niemand kann uns zwingen, etwas zu tun, was wir nicht wollen. Man kann einen Esel zur Quelle führen. Trinken muss er selbst.

Wenn wir nicht schlucken, was man versucht, uns einzuflößen, sind die Regieführenden machtlos. Nein, ich kaufe hier nicht ein. Nein, ich arbeite hier nicht. Ich investiere hier nicht. Ich gehe dort nicht hin. Ich unterstütze das nicht. Ich mache hier nicht mit. Jedes einzelne Nein ist wichtig. Hier zählt jede Stimme. „Nein danke, ich brauche das nicht!“, heißt die befreiende Zauberformel.

Vom Vater Staat zur Mutter Erde

Was ich brauche, ist eine saubere Erde. Ich brauche frische Luft und klares Wasser. Ich brauche die Verbindung mit Menschen, mit der Natur, mit Gott. Ich brauche Liebe. Sie kann sich nur entwickeln, wenn wir einander frei und ohne Vorbehalte begegnen, offen und authentisch: So sehe ich das. So erlebe ich es. So erfahre ich diese Situation. Sagen wir es. Sprechen wir ehrlich von unseren Wünschen und Ängsten, unseren Bedenken und Träumen. Haben wir dabei keine Angst vor Fettnäpfchen und Tretminen, und sparen wir die brenzligen Themen nicht aus. Befreien wir das Ungesagte aus seinem Verlies und geben ihm die Möglichkeit, sich aufzulösen.

Wir finden nur zueinander, wenn wir uns in unserer Echtheit zeigen. Drehen wir den Moralaposteln den Rücken, die die Fahne der Rechtschaffenheit schwenken und dabei nicht merken, dass sie Verursacher von Problemen sind, die sie zu lösen vorgeben.

Genesen wir von der Normopathie, dieser schlimmen Persönlichkeitsstörung, die uns zum Herdentier macht, und lernen wir, das Eigene wieder vom Fremden zu unterscheiden. Nur so können wir einander wirklich begegnen und gemeinsam vorankommen.

Trennen wir uns von all dem Überflüssigen. Der Herbst ist eine gute Zeit dafür. Übergeben wir das, was nicht mehr gut für uns ist, dem Feuer. Behalten wir nur, was wir wirklich brauchen. So kommen wir durch den Winter. Bereiten wir uns darauf vor, dass er hart werden kann. Doch was auch passiert: Er bedeutet nicht das Ende. Wenn wir uns erneut mit der Erde verbinden, dann verspricht sie uns einen neuen Anfang, einen neuen Frühling. Für uns ist gesorgt.


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Quellen und Anmerkungen:

(1) Hierzu „Zum Verlust der Freiheit“ von Raymond Unger: https://www.rubikon.news/artikel/total-gut