Das Sprachgefängnis

Cancel Culture erschüttert unsere Demokratie in ihren Grundfesten.

Wir sind ja alle total tolerant. Aber es muss auch Grenzen geben. Wenn jemand zum Beispiel ein Rechter ist. Oder ein Corona-Bagatellisierer. Oder ein Querdenker. Oder jemand aus dem Sympathisantenumfeld von Querdenken-Bagatellisierern ... Der „erlaubte“ Meinungskorridor verengt sich immer mehr. Weil wir von Denkgrenzen umzingelt sind, können wir es kaum mehr vermeiden, irgendwo anstößig zu wirken. Kolja Zydatiss neues Buch, erschienen 2021 im Solibro Verlag, beschreibt anhand von vielen Beispielen, die teilweise auch mehrere Jahre zurückliegen, eine bedenkliche Entwicklung. Die vor Kurzem initiierte Aktion der Schauspieler #allesdichtmachen und die Reaktion darauf gingen durch die Medien. Dieses Geschehen ist nur eines von vielen, welche unter den Begriff der Cancel Culture fallen und die der Autor in seinem Buch beschreibt. Hanne Hilse hat Zydatiss‘ Buch für Rubikon gelesen.

Es handelt sich um ein leicht zu lesendes Werk, das mit seiner Fallsammlung ab 2013 ein bedrückendes Fazit zieht, wo wir heute, im Jahr 2021 und nach anderthalb Jahren Pandemie-Propaganda, hingekommen sind. In dieser Verdichtung hat es mich auch erschreckt, weil aus dem Text klar wird, dass wir es schon lange mit einer demokratieunwürdigen Meinungsunterdrückung und Verfolgung zu tun haben.

Kein Vertrauen ins eigene Argument

An den Buchanfang setzt Zydatiss ein Zitat von Wolfgang Neumann: „Wer das gegnerische Wort fürchtet, der hat kein Vertrauen ins eigene Argument.“ Sowohl dieses als auch einige weitere im Buch aufgeführte Zitate beleuchten sehr passend die Kernaussagen und die Beobachtungen des Autors zum Thema.

Der englische Begriff der Cancel Culture ist nicht ganz neu, aber derzeit so aktuell wie nie. Der Untertitel des Buches — „Demokratie in Gefahr“ — scheint mehr als gerechtfertigt, gerade auch wenn man sich mit den im Buch geschilderten Fällen und den vielen anderen, die kaum publik wurden, beschäftigt.

Zur Begriffsklärung schreibt Zydatiss: „Ziel der Cancel Culture ist nicht der Diskurs, sondern die Verengung des Meinungsraumes.“

Besonders in den letzten Monaten zeigte sich das extrem deutlich, weil jedwede fundierte und begründete Kritik an den Corona-Maßnahmen abgeschmettert wurde und man diejenigen, die sie äußerten, öffentlich diffamierte.

Das Buch beschreibt, welche Bandbreite von Reaktionen auf vermeintlich falsche Meinungen es inzwischen gibt: „Wir sehen: Von der Unkultur des Mundtotmachens betroffen sein können unter anderem Wissenschaftler und Sportler, Journalisten und Politiker, Autoren und Künstler, Unternehmer und Geistliche. Es kann hochqualifizierte und geringqualifizierte Angestellte treffen sowie unliebsame Organisationen. Konsequenzen sind unter anderem klärende Gespräche, die den Betreffenden unter Druck setzen sollen, Ausladungen und Absagen von Veranstaltungen, Ausgrenzung im beruflichen Umfeld, Kampagnen in den Sozialen Medien, Jobverlust, Beschädigung des Privateigentums sowie im Extremfall sogar körperliche Angriffe. Menschen, die öffentlich als Redner auftreten, Werke ausstellen oder Bücher publizieren, kann dies die wirtschaftliche wie soziale Existenz kosten.“

Gehorsam statt Diskurs

Eine sachliche, begründete Kritik zu äußern und in einen Diskurs darüber zu gehen, das scheint immer weniger möglich zu sein und auch gar nicht erwünscht. Die beleuchteten Beispiele zeigen Situationen in Deutschland und den USA auf; in beiden Ländern gibt es ähnliche Vorkommnisse, in denen Künstler und andere Prominente sich „missliebig“ geäußert haben und daraufhin von den Medien gegrillt worden sind.

Der Autor, studierter Psychologe, erwähnt ein weiteres Phänomen, das seit Jahren beobachtbar ist, nämlich den vorauseilenden Gehorsam und die Angst, es könnte zu Problemen führen, wenn man diesen oder jenen Künstler oder Redner auftreten ließe, und ihn dann lieber gar nicht einlädt. Oder — was anscheinend auch nicht selten vorkommt — Veranstaltungen absagt wegen angekündigter Proteste seitens bestimmter gesellschaftlicher Gruppen.

Abweichendes vernichten

Zydatiss nennt den Begriff der Cancel Culture auch eine mögliche Epochenbezeichnung, vergleichbar mit „Biedermeier“ oder „Goldene Zwanziger“. Ich stimme dieser Einschätzung zu, weil er eine Entwicklung beschreibt, die sich schon vor Jahren in unseren Alltag geschlichen hat, immer mehr um sich greift und sich nun in den Jahren 2020 und 2021 zu verfestigen scheint.

Eine weitere Passage macht deutlich, worum es bei Cancel Culture wirklich geht:

„Bei der Cancel Culture geht es um Menschen, die aufgrund von rechtlich gedeckten Meinungsäußerungen, Mitgliedschaften in legalen Organisationen oder gar wegen ‚Kontaktschuld‘ (zum Beispiel Teilnahme an einer genehmigten Demo, auf der auch Extremisten anwesend waren) aus ihrem Job oder aus einer ehrenamtlichen Stellung gedrängt werden, von — mitunter unpolitischen — Veranstaltungen ausgeladen werden oder einen vielleicht existenzsichernden Auftrag verlieren.“

Der Autor nimmt auch Bezug zum Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG) von 2017, welches eine weitere Überwachung von Menschen mit unliebsamen Meinungen gestattet. Dieses Gesetz zwingt die Betreiber von Internetplattformen dazu, selbst Entscheidungen darüber zu fällen, inwiefern Äußerungen rechtswidrig sind und gelöscht werden können. Im Normalfall fällen Richter derartige Entscheidungen und nicht private Unternehmen. Mit diesem Gesetz sollen „politisch inkorrekte“ — was immer das auch sein mag — Meinungen unterdrückt beziehungsweise ausgeschaltet werden. Der neu etablierte Begriff „Hassrede“ kann willkürlich benutzt werden, um unliebsame Äußerungen zu löschen. Auch dieses Gesetz zeigt deutlich die Berechtigung des Buchuntertitels „Demokratie in Gefahr“ und ist ein weiterer Baustein der Cancel Culture.

Zensur als Fortschritt verpackt

Im zweiten Teil des Buches befasst sich Zydatiss mit der historischen Entwicklung der verschiedenen ideologischen Strömungen, die auch früher schon angetreten sind, die Welt im globalen Maßstab zu verändern. Er zitiert dazu die unterschiedlichsten Autoren von Marcuse bis zum britischen Journalisten David Goodhat (2017).

Zydatiss:

„Die ‚progressiv‘ eingestellten Teile der Gesellschaft haben allerlei Kulturkämpfe angefangen, die von der Mehrheit der Bürger nicht gewollt waren. Egal, ob es um ‚gendergerechte‘ Sprache geht, den Kampf gegen ‚Hassrede‘, das Umschreiben von beliebten Kinderliedern und Kinderbuchklassikern oder die Umbenennung von Speisen, Festen und Straßen — die geforderten Maßnahmen haben oft einen zensorischen Charakter.“

Für sehr wichtig erachte ich, dass im Buch auch die Bedeutung der Medien hervorgehoben wird, die insbesondere in dieser sogenannten Pandemie eine perfide Rolle spielen, indem sie weder sorgfältige journalistische Arbeit und Recherche vorweisen noch die gebotene Neutralität bezüglich unterschiedlicher Meinungen; sie werden lediglich als Panik und Angst schürendes Vehikel benutzt, um regierungstreues Verhalten zu erzeugen.

Der dritte Teil des Buches schließlich befasst sich mit der bereits im Untertitel erwähnten Demokratie in Gefahr. Zydatiss bezeichnet den „Aufstieg einer schwer definierbaren Ideologie“ (Zitat aus dem Text) als progressiv und zeigt auf, wie sehr diese sich festgesetzt hat in Behörden, Hochschulen, Verlagen und auch Medien. Diese „sogenannten progressiven Anliegen werden oft als Wiedergutmachung historischen Unrechts gegen Frauen, Minderheiten, kolonisierte Völker und so weiter dargestellt.“

Durch Macht usurpiert

Auch hier spannt der Autor einen historischen Bogen von den 68ern, bei denen es unter anderem um eine starke Abgrenzung gegenüber der Vergangenheit, dem „Muff unter den Talaren“ und den autoritären Strukturen des Hitler-Regimes ging, bis ins Jahr 2021. Weil die sozialdemokratischen und sozialistischen Parteien, die noch in den Sechziger- und Siebzigerjahren den Geist für Veränderungen anschoben, sich dann aber zunehmend von ihrer Basis im Volk entfremdet und abgehoben haben, entstand eine neue, gebildete und oft auch wohlhabende gesellschaftliche Gruppe, die immer mehr die Technologie- und die Digitalbranche eroberte und so an Gestaltungsmacht gewann. Diese neue aufgestiegene Macht bestimmte in der Folge auch den sogenannten Mainstream und damit die Sichtweisen zu vielen gesellschaftlichen Themen.

Was die politische Landschaft angeht, spricht der Autor von einer „programmatischen Entkernung und Angleichung der Parteien“, die immer mehr dazu führte, dass nur noch bestimmte Haltungen und Aussagen in der Öffentlichkeit akzeptiert wurden und die Vorgaben und unausgesprochenen Regeln deutlich rigider wurden.

Er beschreibt, dass die von ihm als progressive Kreise bezeichneten Gruppierungen oft ein gespaltenes Verhältnis zur Demokratie hätten. Sie scheinen zu befürchten, dass das Volk nicht selbst in der Lage ist, die richtigen Entscheidungen zu treffen, und deshalb geleitet und angeleitet werden muss. Und ebenso müssen deshalb „falsche Meinungen“ bekämpft werden.

Dazu gehört mittlerweile auch der sogenannte Kampf gegen rechts, wobei die Definition davon, was rechts ist, extrem großzügig ausgelegt wird. Im Deutschland von heute lässt sich mit diesem inflationär gebrauchten Kampfbegriff eine große Vielfalt von missliebigen Meinungen bekämpfen, und auch das ist einer Demokratie nicht zuträglich. Vor allem, wenn der Diskurs und die freie Meinungsäußerung mit derartigen Totschlagargumenten verunmöglicht werden. Zydatiss:

„Als Demokrat muss man akzeptieren, dass sich öffentliche Auseinandersetzungen stets in die eine oder die andere Richtung entwickeln können.“

Totalitarismus demaskieren

Am Ende des Buches ruft der Autor dazu auf, die Ideologie, die hinter der Cancel Culture steht, zu entlarven und die dabei oft aktiv mitwirkenden Akteure wie zum Beispiel die Antifa und andere, die gegen die Meinungsfreiheit mobilisieren, ins Licht zu schieben. Die im Mainstream sich festsetzende Überzeugung, dass es Diskurswächter und Meinungsmonopole geben sollte, bedient einen gefährlichen Trend, der einer Demokratie nicht würdig ist, ja, sie von innen aushöhlt. In diesem Zusammenhang erwähnt Zydatiss auch beispielhaft eine wunderbare Initiative zur Eindämmung der Cancel Culture und zur Förderung echter Demokratie, nämlich den „Appell für freie Debattenräume“, gegründet von Gunnar Kaiser und Milosz Matuschek.

Wer vor der Lektüre noch nicht so wirklich überzeugt war, ob oder in welchem Ausmaß es Cancel Culture wirklich gibt, der ist danach eines Besseren belehrt. Mir hat das Buch sehr gefallen — ein wichtiger Beitrag zum Verständnis dieser Zeit grundlegender Veränderung und ein Warnhinweis, den wir ernst nehmen müssen, wenn wir in einer demokratischen Gesellschaft leben wollen.