Das spirituelle Jahrhundert
Nur ein Bewusstsein tiefer Verbundenheit mit allem Lebendigen kann die Menschheit in naher Zukunft von ihrem Weg in die Selbstzerstörung abbringen.
Die herkömmlichen religiösen Sinnangebote haben an Glanz und Glaubwürdigkeit verloren. Ganz offensichtlich hat ein rein materialistisches Weltbild, das Menschen ohne jedes geistige Zentrum in ein leeres und zielloses Universum stellt, jedoch auch seine Tücken und löste schwerwiegende kollektive Verirrungen aus. Bis hin zu einem Nihilismus, der bis zur Selbstzerstörung der gesamten Menschheit führen kann. Was aber ist Spiritualität in einem positiven Sinn? Wichtig ist zunächst, ein Missverständnis auszuräumen: Der spirituelle Mensch gibt nicht vor, alles über Gott, das Jenseits, über Gut und Böse und die Bestimmung des Universums zu wissen. Im Gegenteil macht er sich erst einmal leer von allen Vorstellungen und jeder vermeintlichen Gewissheit und beginnt seine Umgebung ohne Benennung und Urteil wahrzunehmen. Daran knüpft sich ein Impuls des Staunens an, schließlich entstehen Liebe und ein tieferes Verständnis. Wir erkennen, dass wir dem, dem wir gegenüberstehen — dem Gegenstand oder auch dem Mitgeschöpf — auf das Engste verbunden sind. Daraus ergibt sich dann auch der Verzicht auf spaltende Meinungen, destruktive Gefühlsregungen und Gewalt. In diesem Verständnis ist Spiritualität tatsächlich lebenswichtig, nicht nur, um den weiteren Verlauf dieses Jahrhunderts erträglich zu gestalten, sondern auch, damit es für uns überhaupt eine Zukunft auf diesem Planeten gibt.
„Das 21. Jahrhundert wird religiös sein — oder es wird nicht sein“, sage André Malraux.
Wie sollen wir das verstehen?
Weil ich davon überzeugt bin, dass der französisches Kulturphilosoph recht hat, will ich eine Antwort versuchen.
Ein spirituelles Weltbild, was heißt das? Der Weltverständnisse gibt es viele, und sie haben sich im Laufe der Geschichte immer wieder verändert.
Welches ist heute angesagt?
Die Naturvölker etwa fühlten sich fraglos eingebunden ins Leben, in die Natur, mit der sie sich existentiell verbunden fühlten. Ihr Leben und Sterben stand ganz in Übereinstimmung mit dem Schöpfergeist. Sie fühlten sich in seiner Obhut geborgen.
Später fiel der Mensch — Schritt für Schritt — aus dieser selbstverständlichen Zugehörigkeit heraus. Ein schrittweises Erwachen zum Selbstbewusstsein ging damit einher.
Was zuvor niemals hinterfragt wurde, beschäftigte die Menschen nunmehr, wurde in Frage gestellt. Bei den Griechen kann man das gut beobachten. Das berühmte „Erkenne dich selbst!“ rief die Leute dazu auf, sich auf sich selbst zu besinnen. Die „Geburtsstunde der Philosophie“ hatte geschlagen und gipfelte in Sokrates’ Einsicht: „Ich weiß, dass ich nichts weiß.“
Sokrates mahnte zu einem Neuanfang. Sein Ansinnen entsprach auch einem Aufruf zur Selbstkritik und zum eigenständigen, kritischen Denken. Er wurde aufgrund seiner für die damalige Zeit „unerhörten“ Äußerungen zum Tod verurteilt. Damit konfrontiert war er nicht bereit, seine Erkenntnisse zu widerrufen — und ergriff den tödlichen Schierlingsbecher.
Später, in der Zeit der „Aufklärung“ nahm der „geistige Aufwachprozess“ seinen Fortgang. Das „Wissenszeitalter“ brach an. Die Menschen wollten verstehen, tiefgründiger verstehen, was die Zusammenhänge der Lebenserscheinungen angeht.
Die Naturwissenschaft, so wie wir sie heute kennen, kam auf. Ich erinnere an Leonardo da Vinci, der Kunst und Wissenschaft in sich vereinte. Wenn er nachts unbeobachtet in Leichenhallen eindrang und Verstorbene sezierte, trieb ihn ein unbändiges Interesse an anatomischen Fragen.
Einem modernen Wissenschaftler läge es fern, mit Sokrates einzugestehen, dass er „nichts weiß“. Ganz im Gegenteil. Alles, was er erforscht hat, erfüllt ihn verständlicherweise mit einem gewissen Stolz.
Und dennoch stellten sich auch da Zweifler ein.
Der namhafte Physiker Werner Heisenberg meinte in diesem Zusammenhang einmal: „Die Naturwissenschaft hat (zumeist) recht mit dem, was sie sagt, und unrecht mit dem, was sie verschweigt.“
Zählen und Messen prägen die sogenannt exakten Wissenschaften, und was sich als nicht messbar erweist, wird messbar gemacht.
In Anbetracht der beneidenswerten Erfolge der Naturwissenschaft blieb das unvoreingenommene Staunen über die „Wunder der Schöpfung“ auf der Strecke.
Im Rausch der Machbarkeit entfernte sich der Mensch mehr und mehr vom „Urgrund“ des Seins.
Was ist die Bestimmung des Menschen? Heute in dieser Welt, wie sie nun einmal ist.
Im Neuen Testament findet sich eine Stelle, die uns dazu aufruft, schöpferisch an der immerwährenden Neugestaltung der Welt mitzuwirken. Und es kommt noch „dicker“:
„Ihr seid Götter!“, ruft Christus den Menschen zu.
Eine kühne Vision? Ein Wunschtraum? Oder: ein verheißungsvoller Auftrag?
Ich plädiere für das Letztere. Nur: Was sind die Voraussetzungen, die gegeben sein müssten, um dieser Aufgabe gerecht zu werden?
Der Begriff der „Selbstermächtigung“ hat, in Anbetracht eines übergriffigen Staats, nicht umsonst Einzug gehalten im Sprachgebrauch unserer Zeit. Auch von „Selbstbestimmung“ ist oft die Rede.
Gerade die letzten Jahre haben uns dahingehend ganz schön herausgefordert. Und genau an dieser Stelle müssten wir zurückkehren zu Malrauxs Aussage.
Was macht ein Jahrhundert zu einem spirituellen? Wie gewinnt der Mensch Zugang zur Spiritualität? Und was hieße das für den Lebensalltag?
Was vielleicht gar simpel klingt, ist die Einsicht:
Am Anfang allen Erkennens steht das Staunen, die Ergebung.
Wer staunt, öffnet sich gegenüber den großen Wundern der Welt und des Lebens, die uns tagein tagaus begegnen. Nichts ist selbstverständlich. Alles hat seinen tieferen Sinn, den wir anfänglich nur erahnen können.
Wer zu staunen vermag, was uns Zeitgenossen keineswegs leichtfällt, macht sich innerlich „leer“. Jegliche Voreingenommenheit muss weichen. Das „sokratisch verinnerlichte Nichtwissen“ schafft erst Raum für Ungeahntes.
Kein spirituelles Erkennen ohne Hingabe oder Ergebung. Kein Wunder, ist uns ausgerechnet diese „Haltung“ fremd geworden. Es gilt sie neu zu beleben und zu üben. In der Tat ist es in erster Linie ein Üben, ein Einüben hin zu einer noch wenig vertrauten Sichtweise.
#Und genau da liegt der Anfang jeglicher Spiritualität. So einfach und doch so anspruchsvoll ist das!
Ich will ein Beispiel machen: Wir stehen vor einem Baum, einem mächtigen. Wir stehen da, der Baum dort. Er, der Baum, bleibt vorerst „Gegenstand“ unseres Betrachtens, verbleibt somit außerhalb unserer selbst. Vielleicht erkennen wir ihn als Eiche und sind beeindruckt. Als lebendiger Baum, als Baumwesen bleibt er uns aber vorerst noch fremd.
Wie können wir einander näherkommen?
Indem wir alles beiseitelegen, was wir von der Eiche wissen und mal einfach hinschauen und … ins Staunen kommen.
Wir finden manches staunenswert, im ersten Moment. Selten gelingt es uns aber, in dieser offenen, offenbarenden Haltung zu verbleiben. Einfach einmal staunend wahrnehmen, was ist. Schon alleine das Feststellen, dass es sich um eine Eiche handelt, kann den unverstellten Wahrnehmungsprozess abrupt zum Stillstand bringen. Peter Rosegger, der Dichter, bezeichnete einmal die wissenschaftlichen Bezeichnungen mancher Naturgegenstände als ihren „Totenschein“.
Als wir noch Kinder waren, haben wir — in Abwesenheit des Wissens — noch über dieses „reine“ Wahrnehmen verfügt. Weil die Begriffe fehlten.
Was wir an erster Stelle wahrnehmen könnten: Er, der Baum, lebt. Und wir? Wir leben auch. Hat dieser Umstand allein nicht schon etwas zutiefst Verbindendes?
Darüber hinaus stellen wir fest, dass sich sein Leben in mannigfachen Zeichen (Farben, Formen, in seiner eichenartigen Gestalt) offenbart.
Jetzt gehen wir einen Schritt weiter: Für unser beidseitiges Leben ist das Wirken unsichtbarer Kräfte, Gestaltungskräfte unabdingbar. Ohne diese nimmt nichts in dieser Welt Gestalt an.
Materie ohne Geist ist undenkbar. Die beiden gehören zusammen wie Sonne und Erde.
In einem weiteren Schritt wird uns deutlich, dass auch wir — so etwa in unserer Leiblichkeit — auf die Wirksamkeit dieser gestaltenden Kräfte angewiesen sind.
An dieser Stelle kann in uns ein neues Verbundenheitsgefühl (mit dem Baum) aufleuchten: Eine Art Verbrüderung hat stattgefunden.
Dieses sorgsame „Sich-einander-Annähern“ ermöglicht erst den spirituellen Zugang zum Gegenstand unserer Betrachtung, sei es ein Baum, eine Blume, ein Tier und — natürlich am naheliegendsten — ein anderer Mensch. An dieser Stelle von einer spirituellen Beziehung zu sprechen wäre angemessen.
Oft sind es spontane Gefühle (Sympathie oder Antipathie), die uns in der Begegnung im ersten Moment irreführen. Wir sind gefordert, wenn wir diese als solche erkennen und zurückhalten, denn sie trüben unseren Blick, ohne dass wir uns dessen bewusst sind.
Spirituelles Leben ist immer darauf aus, Verbindung zu schaffen, das Gemeinsame anstatt das Trennende zu suchen, fern jeglicher Selbstaufgabe.
Das sich daraus ergebende Lebensgefühl erweist sich bald einmal als enormer Kraftquell.
Die neue Sicht der Dinge kann ungeahnte Lebensfreude, auch Lebensmut und Lebenssicherheit spenden und uns auf völlig neue Art in dieser Welt beheimaten.
Was uns über alle Schranken hinweg dauerhaft verbindet, ist das Leben, das unmittelbare Leben mit all seinen Wundern und Gefahren.
Und dieses „Sich-verbinden-Wollen“ — als Übung im Alltag — nenne ich spirituell.