Das Schlager-Schlachtfeld

Trotz aller Bekenntnisse, es gehe allein um Musik — der Eurovision Song Contest 2024 war mehr denn je mit politischen Botschaften aufgeladen.

„Merci, Chérie“, „Ein bisschen Frieden“ und natürlich „Waterloo“. Einige Siegertitel des Eurovision Song Contest bleiben im kollektiven Gedächtnis. Die meisten anderen Künstler — selbst Wettbewerbsgewinner — sind zu Recht vergessen. „Wie kann ich überhaupt noch auffallen, wenn eigentlich schon alles da war?“ Diese Frage treibt wohl viele Künstler um. 2024 scheint eine singende Person die Jahrmarkts-Geisterbahn zum Stilvorbild erwählt zu haben, eine andere sang — obwohl biologisch männlich — mit Minirock und rosa Plüschbluse. Die diesjährige Freakshow versuchte den Zuschauern die Relevanz von LGBTQ-Anliegen geradezu aufzudrängen. Gleichzeitig wurden wie nie zuvor Punkte für das korrekte oder unkorrektes Verhalten der Länder vergeben, aus denen die Darbietenden stammten. Die israelische Teilnehmerin wurde massiv gemobbt, Russland trat gar nicht erst an.

Kaum ein anderes mediales Mega-Event zeichnet den jeweiligen Zeitgeist auf so ikonische Art nach wie der Eurovision Song Contest, ehemals Grand Prix Eurovision de la Chanson. Geprägt von der brühwarm-biederen Spießigkeit der Nachkriegsjahre mit Schlagern so artig wie ein Häkeldeckchen, vorgetragen von anständig gekleideten, sorgfältig frisierten Damen und Herren unter Begleitung schwungvoller Tanzkapellen, bot er immerhin einigen die Chance zum internationalen Durchbruch.

Zweimal nacheinander trat Udo Jürgens an mit späteren Welthits. Abba startete eine beispiellose Karriere auf der Bühne des Grand Prix von 1974. Und die deutsche Sängerin Nicole rührte 1982 zu Tränen mit ihrem kleinen Liedchen über ein winziges bisschen Frieden, brav schrammelnd auf einer riesigen weißen Gitarre. Ein bisschen Frieden, ein bisschen träumen. So schlicht war die Friedensbewegung der frühen 1980er Jahre eingetütet worden in harmlosen Schlagerkitsch, den man mitsingen und mitfühlen konnte.

Im Laufe der Jahrzehnte avancierte der Wettbewerb zu einer teils skurrilen Melange aus exzessiver Spießigkeit, schriller Banalität und belangloser Dramatik.

Fast unmerklich wurde die Projektionsfläche Song Contest zum alljährlichen „Champions-League“-Finale der Homosexuellen-Szene. Oder wie Peter Rehberg, Sammlungsleiter im „Schwulen Museum Berlin“ es formulierte: „Jede Generation schwuler Männer entdeckt ihr Glück beim ESC für sich aufs Neue“ (1).

Politisch war der Wettbewerb schon immer — unterschwellig oder explizit. 2022 schloss man Russland wegen des Krieges in der Ukraine aus.

Der Ausschluss Israels wurde 2024 gefordert, doch die veranstaltende „European Broadcast Union“ entschied: „Die EBU setzt sich dafür ein, dass der Eurovision Song Contest eine unpolitische Veranstaltung bleibt, die das Publikum weltweit durch die Musik vereint“ (2). Allerdings mussten Titel und Textstellen des eingereichten Songs geändert werden. Die offene Bezugnahme auf den Terrorangriff der Hamas auf Israel durch den Songtitel „October Rain“ ging den Veranstaltern zu weit. Der Titel wurde umbenannt in „Hurricane“ und einige Textstellen mit politischen Anspielungen entschärft (3) — nicht der erste Eingriff dieser Art.

Schon zuvor waren politische Anspielungen beanstandet worden. So verzichtete Georgien 2009 freiwillig auf seine Teilnahme am ESC, weil der Songtext nach dem militärischen Konflikt mit Russland für unpassend befunden worden war, man ihn aber nicht ändern wollte (4). Russland hingegen nahm am ESC teil trotz der Besetzung der Krim (5).

Auch Künstler positionierten sich immer wieder politisch, zeigen Flaggen oder setzen Statements für die Akzeptanz von sexuellen Minderheiten (6). Ebenso geht es bei der Punktevergabe politisch zu. Aktuelle geopolitische Konfliktlinien, Sympathien und Antipathien zwischen Ländern werden sowohl vom Publikum im Televoting als auch in den Jury-Votings ausgetragen (7). Griechenland und Zypern schustern sich gegenseitig traditionell die höchste Wertung zu, ebenso drücken die Balkanstaaten und Skandinavier ihre kulturelle Nähe und Verbundenheit über die Votings aus. Großbritannien hingegen wurde nach dem Brexit 2021 abgestraft und erhielt null Punkte. 2022 solidarisierte sich das europäische Publikum mit der Ukraine und verhalf ihr im Televoting zum Sprung von Platz vier zum Sieg.

Erwartungsgemäß verlief auch der ESC 2024 alles andere als unpolitisch: Propalästinensische Linke, Islamisten und Klimaaktivisten inklusive ihrer Ikone Greta Thunberg (8) protestierten zu tausenden auf den Straßen im schwedischen Malmö gegen die Teilnahme der jungen Israelin Eden Golan. Rufe nach der Intifada und „schickt die Juden zurück nach Polen“ waren zu hören. Thunberg, eingehüllt in ein Palästinensertuch, wurde kamerawirksam abgeführt (8). Die israelische Künstlerin konnte nur unter massivem Polizeischutz zum Austragungsort gelangen, erhielt Morddrohungen und konnte zeitweise das Hotel nicht verlassen (9).

Unter den Favoriten des diesjährigen Wettbewerbs fanden sich die nichtbinäre jedoch „männlich gelesene“ Person Nemo aus der Schweiz, die Niederlande, deren Vertreter wegen eines Übergriffs gegen ein Crew-Mitglied des Veranstalters ausgeschlossen worden war (10), desweiteren Italien, Schweden, Frankreich, Griechenland und die Ukraine (11).

Der satanistisch daherkommende Act aus Irland, ebenfalls nichtbinär aber „weiblich gelesen“ und mit den Farben der Transflagge im Outfit, namens Bambie Thug, sorgte nicht nur mit einer verstörenden Performance für Aufsehen, sondern auch mit antisemitisch deutbaren Aussagen gegen die israelische Teilnehmerin. Bambie Thrug und die Teilnehmer Griechenlands und der Schweiz erschienen aus Protest nicht zu Generalprobe und Bambie Thrug äußerte in einem Interview, sie habe geweint, als sie erfuhr, dass Israel im Finale ist (12).

Queers, so auch nichtbinäre Personen, positionieren sich bekanntlich „for Palestine“. Homosexuelle allerdings verstört dies nicht ganz zu Unrecht, lässt die Toleranz für queeres Leben in islamischen Ländern doch eher zu wünschen übrig (13).

In dieser unübersichtlichen Gemengelage schien sich in der Person der israelischen Teilnehmerin Eden Golan die gesamte Tragik und Ambivalenz der aktuellen Weltlage zu manifestieren: Die 20-Jährige ist die Tochter einer jüdischen Ukrainerin und eines jüdischen Letten, die aus der UdSSR nach Israel auswanderten, später nach Moskau zogen und 2022 nach Israel zurückkehrten. Sie hat einen russischen und einen israelischen Pass (14).

Mit dem Krieg in Gaza hat sie als Person ebenso wenig zu tun, wie die vielen gecancelten russischen Künstler mit dem Krieg in der Ukraine. Für die 21-jährige Thunberg und ihre diversen Mitstreiter war Golan als Vertreterin Israels allerdings als Feindbild und Sündenbock gesetzt. Wohlfeil wurde sie für Netanyahus Kriegskabinett moralisch in Sippenhaft genommen. Dennoch lieferte Golan eine beeindruckende Performance ab, obschon die Tontechnik alle Mühe hatte, die Buhrufe aus dem Publikum herunter zu regeln (15).

Die Punktevergabe gestaltete sich wie immer zäh. Im ersten Durchgang vergaben die Länder ihre Jury-Punkte, dann folgten die Publikumspunkte aus dem Televoting. Nemo lag von Beginn an vorn. Das entscheidende Kopf-an-Kopf Rennen vor dem letzten Publikumsvotum lieferten sich der kroatische Act Baby Lasagna, der in folkloristischem Outfit optisch auf die Tradition seiner Heimat setzte, und der Schweizer Nemo, der nach den Jury-Votings einen erheblichen Punktevorsprung vorweisen konnte.

Im Split-Screen mit beiden Künstlern hätte der Kontrast zwischen der alten Welt des Kroaten in Tracht und der durch Nemo verkörperten Postmoderne größer kaum sein können.

Eden Golan war mithilfe der Publikumspunkte aus dem Televoting immerhin der Sprung auf den fünften Platz gelungen. Vielleicht war dem Publikum klar, dass der Titel der 20-jährigen Jüdin nicht nach der Politik Israels zu bewerten war und der Protest sich gegen die Regierung nicht aber gegen diese junge Frau zu richten hat.

Oder war es vom nichtbinären Nemo überfordert?

Das deutsche Publikum gab Eden Golan die volle Punktzahl. Mit insgesamt 323 Stimmen erreichte sie den zweitbesten Gesamtwert im Televoting und landete am Ende hinter der Ukraine und Frankreich.

Gewonnen hat den ESC 2024 dann schließlich der Schweizer Nemo, der mit seinem nichtbinären Outfit und dem Titel (break) „The Code“ genau auf der Reiseflughöhe des progressiven Zeitgeistes unterwegs gewesen war. Memo kassierte die meisten Jury-Punkte und konnte vom Kroaten Baby Lasagna trotz überragenden Televotings nicht eingeholt werden (16).

Jedoch — wie gewonnen, so zerronnen: Als Nemo den Siegertitel noch einmal auf der Bühne performte, zerbrach er nicht nur den Code, sondern zerdepperte auch die gläserne Trophäe. Man mag das als kleines Malheur werten oder aber als Sinnbild für den blinden, narzisstischen Eifer einer Bewegung, die linkisch einreißt, was andere aufgebaut haben. Nemo fuhr mit einer Ersatztrophäe nach Hause.

Und Deutschland? Ja, Deutschland nahm natürlich auch teil und landete farblos auf dem 12. Platz.