Das Scheinversprechen
Das Konzept der Diversität verschleiert gravierende Ungerechtigkeit.
Vielfalt, Gleichberechtigung, Toleranz – all das schwingt bei dem Begriff Diversität mit. Welcher aufgeklärte Geist könnte daran kritteln? Chris Hedges nimmt die Diversität in den USA unter die Lupe und aufs Korn. Er kritisiert: Hinter der ubiquitären Diversitätsmaske steckt die alte Rassenungerechtigkeit. Heute sind mehr Schwarze arm und abgehängt als zu Martin Luther Kings Zeiten.
Als schwarze Studenten 1970 das Büro des Dekans der Harvard Divinity School besetzten, um dagegen zu protestieren, dass es keine afroamerikanischen Wissenschaftler an ihrem Fachbereich gab, war die weiße Verwaltung gezwungen zu reagieren und schwarze Kandidaten zu Bewerbungsgesprächen einzuladen.
Sie baten James H. Cone, den bedeutendsten Theologen seiner Generation, zu einem Treffen nach Cambridge, Massachusetts. Doch die weiße Machtstruktur hatte nicht die Absicht, Cone eine Stelle anzubieten. In ihren Augen war es schlimm genug, schwarz zu sein. Schwarz, brillant und dazu leidenschaftlich unabhängig zu sein stieß ihnen auf. Und so erhielt die Stelle ein anpassungsfähiger, afroamerikanischer Kandidat, der noch nie ein Buch geschrieben hatte. Ein Umstand, der sich auch in den mehr als drei Jahrzehnten seiner Lehrtätigkeit in Harvard nicht ändern sollte.
Harvard bekam, was es wollte. Mittelmäßigkeit im Namen der Diversität. Es war ein klassisches Beispiel dafür, wie der weiße Machtapparat farbige Menschen einsetzt. Er entscheidet, wen er fördert und wen er zum Schweigen bringt. Als der damalige Major Colin Powell 1968 das Massaker an etwa 500 Zivilisten im vietnamesischen Mỹ Lai zu vertuschen half, war ihm eine glanzvolle militärische Karriere garantiert. Als sich Barack Obama der Chicagoer Politmaschine, der Wall Street und dem Establishment der Demokraten als fügsam erwies, wurde er in den U.S.-Senat und ins Präsidentenamt befördert.
Nur ein Werbetrick
Diversität in den Händen der weißen Machtelite – sowohl in der Politik als auch im Unternehmertum – ist ein Werbetrick. Ein neues Gesicht, eine Marke, wird nach vorne gebracht, begleitet von der üppigen finanziellen Entlohnung, die es mit sich bringt, wenn man dem weißen Machtapparat dient und dessen Spiel mitspielt. Es gibt keinen Mangel an Frauen (Hillary Clinton, Nancy Pelosi und Donna Brazile), Latinos (Tom Perez und Marco Rubio) oder Schwarzen (Vernon Jordan, Clarence Thomas und Ben Carson), die ihre Seele verkaufen, um von der Macht zu kosten.
In seinem Buch „We Were Eight Years in Power: An American Tragedy“ (Wir waren acht Jahre an der Macht: eine amerikanische Tragödie) schreibt Ta-Nehisi Coates: „Barack Obama ist direkt verantwortlich für den Aufstieg einiger schwarzer Autoren und Journalisten, die während seiner beiden Amtszeiten an Bedeutung gewonnen haben.“ Doch das trifft nur für jene schwarzen Autoren wie Coates oder Michael Eric Dyson zu, die sich als unterwürfige Cheerleader Obamas erwiesen. Wenn man aber, wie Cornel West, schwarz war und Obama kritisierte, wurde man isoliert und von Obama-Stellvertretern als Rassenverräter angegriffen.
Nach Obama
„Für die, die Obama nicht unterstützten, war es eine einsame Zeit“, sagte mir kürzlich Glen Ford, Chefredakteur von Black Agenda Report. „Es ist wie vor und nach Christi. Vor Obamas Zeiten spiegelte meine Politik die eines schwarzen Kommentators innerhalb eines vertretbaren schwarzen politischen Spektrums wider. Ich schaue auf ein Fax: ‚NAACP, 8. September 2007. NAACP-Regionalleiter.‘ Das habe ich bekommen, nachdem ich in Little Rock eine Grundsatzrede gehalten habe, zur Erinnerung an das Jahr 1957, als die ersten Afroamerikaner die dortige High-School besucht haben. Sie verstehen, was ich meine? Das konnte ich selbst 2007 noch machen. Dann kam Obama. Es war eine wunderbare Zeit für Leute, die Obama unterstützt haben. Wenn man Obama nicht unterstützte, war man in der Gesellschaft verboten. Plötzlich war man geächtet.“
Das Fehlen echten politischen Inhalts in unserem nationalen Diskurs hat diesen degradiert zu einer Debatte zwischen Rassisten und Leuten, die nicht als Rassisten gelten wollen. Die einzigen Gewinner in diesem selbstzerstörerischen Zickenkrieg sind Konzerne wie Goldman Sachs, gegen deren Interessen kein Amerikaner stimmen kann, und Eliteinstitutionen, die sich dem Erhalt der Plutokratie verschrieben haben. Drew G. Faust, die erste Präsidentin der Harvard-Universität, deren Ernennung einen Triumph für die Diversität darstellte, wurde mit Beginn ihres Ruhestands in den Vorstand von Goldman Sachs berufen und wird in dieser Rolle eine Vergütung von mehr als einer halben Million Dollar pro Jahr erhalten. Eine neue und „diversifizierte“ Gruppe von Kandidaten der Demokratischen Partei, mehr als die Hälfte davon rekrutiert aus CIA, Nationalem Sicherheitsrat und Außenministerium, hoffen auf einen Aufstieg zu politischer Macht, die auf dem alten Diversitätsschwindel beruht.
„Es ist eine Beleidigung der organisierten Bewegungen von Menschen, die diese Institutionen angeblich miteinbeziehen wollen“, meinte Ford. „Diese Institutionen schreiben das Drehbuch. Es ist ihr Drama. Sie wählen die Schauspieler, nach ihrem Gusto schwarze, braune, gelbe, rote Gesichter.“
„Ich glaube nicht daran, dass eine schwarze Linke auch nur das geringste politische Kapital oder Energie investieren sollte, um weitere Barack Obamas nach Harvard zu bringen“, sagte Ford weiter. „Sie sollte auch nicht glauben, dass sie Harvard oder irgendeine der Universitäten der herrschenden Klasse von innen heraus transformieren kann, genauso wenig wie sie die Demokratische Partei von innen heraus transformieren können.“
Ford weist darauf hin, dass die weißen Machteliten „positive Diskriminierung Schwarzer“ (affirmative action, Begünstigung) durch „Diversität“ ersetzt haben. Diese beiden Konzepte sind seiner Meinung nach grundlegend verschieden. Das Ersetzen von positiver Diskriminierung durch Diversität „negiert die afroamerikanische Geschichte als rechtliche Grundlage für Wiedergutmachung.“
Neue Rassentrennung
Seit der Supreme Court in seinem Urteil zum Bakke-Prozess von 1978 „Quoten“ für ethnische Minderheiten für ungültig erklärte, sind führende Institutionen von der Pflicht befreit, Programme zur positiven Diskriminierung durchzuführen, die eben jenen traditionellerweise ausgeschlossenen Menschen einen Platz garantiert hätten.
Kürzlich hat die Trump-Regierung eine Richtlinie aus der Obama-Ära zurückgezogen, nach der Universitäten die Zugehörigkeit zu einer ethnischen Minderheit als Faktor bei der Aufnahme von Studenten berücksichtigen sollten. Diese Rücknahme ist der Versuch, selbst Diversität zu tilgen. Präsident Trump und seine rassistischen Wegbereiter, darunter Bildungsministerin Betsy DeVos, führen in Amerika gerade eine erneute Rassentrennung durch.
„Man lässt keinen Mann, der jahrelang durch Ketten behindert worden ist, frei und stellt ihn an die Startlinie zu einem Wettrennen mit den Worten ‚Du kannst mit all den anderen frei konkurrieren‘, und hält sich dabei immer noch für fair ...“, sagte Präsident Lyndon Johnson 1965 zum Abschlussjahrgang der Howard University in Washington, D.C.. „Dies ist die nächste und weitergehende Phase im Kampf um Bürgerrechte. Wir erstreben nicht bloß Freiheit, sondern Chancen und Möglichkeiten – nicht bloß gesetzliche Gleichheit, sondern menschliche Befähigung – nicht bloß Gleichberechtigung als Gesetz und Theorie, sondern Gleichberechtigung als Fakt und Ergebnis.“
Johnsons Anspruch wurde, ebenso wie der von Martin Luther King Jr., von weißen, liberalen Eliten in kürzester Zeit sabotiert, indem diese ethnische Gerechtigkeit von ökonomischer Gerechtigkeit trennten. Weiße Liberale konnten mit Gesetzen leben, die Rassentrennung verbieten, doch nicht mit der Aufgabe ihrer finanziellen und sozialen Privilegien.
„Weiße Liberale streben nicht nach Gerechtigkeit“, meinte Ford. „Sie streben nach Absolution. Alles, was sie von der Verantwortung für das losspricht, was diese Gesellschaft getan hat, heißen sie willkommen. Sie lechzen geradezu danach.“
„Sowohl die gesetzliche als auch die moralische Grundlage für positive Diskriminierung findet sich im Verschulden der USA und all seiner Regierungsebenen an der Versklavung der Afroamerikaner und der noch immer bestehenden Rassenhierarchie – eine einmalige Geschichte von der Unterdrückung einer bestimmten Menschengruppe, die institutionelle Wiedergutmachung erfordert“, schreibt Ford. „Andernfalls wird sich das Erbe dieser Verbrechen in wechselnden Formen bis in alle Ewigkeit reproduzieren. Sobald die Klage der schwarzen Amerikaner nicht länger in seiner Besonderheit wahrgenommen wurde, wurde positive Diskriminierung zur allgemeingültigen Patentlösung für verschiedene historische Vergehen. Ihres Kerns beraubt, mutierte positive Diskriminierung zu ‚Diversität‘, ein Sammelbegriff für unterschiedliche benachteiligte Gruppen, der politisch vielseitig verwendbar war (und besonders nützlich für die aufstrebenden schwarzen Geschäftemacher in Wahlkampf- und Unternehmenspolitik), doch nicht länger verwurzelt in der Realität der schwarzen Bevölkerung. Die von Dr. Martin Luther King und Präsident Johnson angestrebte positive Diskriminierung war eine Reparationsleistung, eine Form der Wiedergutmachung für bestimmtes und in hohem Maße dokumentierbares Leid, das man Afroamerikanern als ethnischer Gruppe angetan hatte. Man verstand sie als soziale Verpflichtung, die man einer definierten Klasse schuldete.“
Reine Symbolpolitik
„‚Diversität‘ hingegen“, so schreibt Ford, „kennt keine solche Verpflichtung gegenüber einer bestimmten Bevölkerungsgruppe, ja überhaupt irgendeiner Bevölkerungsgruppe gegenüber. Stattdessen fußt ihre gesetzliche Grundlage im ‚zwingenden Interesse‘ öffentlicher Einrichtungen an einer diversifizierten Studentenschaft (oder Fakultät).“
Diversität zwingt den weißen Machtapparat nicht dazu, gegen Rassenungerechtigkeiten anzugehen oder Veränderungen in der schwarzen Unterschicht zu bewirken. Diese Vortäuschung von Diversität wurde, wie Ford hervorhebt, durch elitäre Schwarze unterstützt, die für sich selbst Positionen im Machtapparat fanden, dafür daß sie sich von den Armen und Marginalisierten abwandten.
Ford bezeichnet diese schwarzen Eliten als „Repräsentationalisten“, die „ein paar Schwarze in allen Führungsebenen und allen Gesellschaftsbereichen repräsentiert sehen wollen. Sie wollen schwarze Wissenschaftler. Sie wollen schwarze Filmstars. Sie wollen schwarze Wissenschaftler in Harvard. Sie wollen Schwarze an der Wall Street. Aber das ist rein symbolisch. Mehr nicht.“
Die Diversitätsseuche liegt im Kern unserer politischen Dysfunktion. Die Demokratische Partei begrüßt sie. Donald Trumps Republikaner lehnen sie ab. Doch als politische Richtlinie ist sie eine Ablenkung. Diversität hat wenig zur Linderung des Leids der schwarzen Unterschicht beigetragen. Den meisten Schwarzen geht es schlechter als damals, als Martin Luther King aus Selma losmarschierte.
Seit dem Finanzkollaps 2008 haben Afroamerikaner aufgrund fallender Wohneigentumsquoten und fehlender Jobs mehr als die Hälfte ihres Vermögens verloren. Mit 27,4 Prozent haben sie die höchste Armutsrate, gefolgt von Latinos mit 26,6 Prozent und Weißen mit 9,9 Prozent. 45,8 Prozent der schwarzen Kinder unter sechs Jahren leben in Armut, dagegen nur 14,5 Prozent der weißen Kinder in dieser Altersgruppe. 40 Prozent der Obdachlosen im ganzen Land sind Afroamerikaner, obwohl diese insgesamt nur 13 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachen. Fünfmal mehr Afroamerikaner als Weiße sitzen zurzeit in Gefängnissen.
Deckmantel für Ungerechtigkeit
Diversität hält weder das Beschneiden unserer bürgerlichen Freiheiten auf, noch die Angriffe auf unser Ökosystem oder die verheerenden Auswirkungen verordneter Sparmaßnahmen und Deindustrialisierung. Sie tritt dem Imperialismus nicht entgegen. Diversität ist Teil der kolonialistischen Funktionsweise. Ein wahrer Revolutionär, Patrice Lumumba, 1960 der erste Premierminister der heutigen Demokratischen Republik Kongo, wurde durch den fügsamen und korrupten Mobutu Sese Seko ersetzt. Beide waren schwarz. Doch der eine kämpfte gegen koloniale Tyrannen und der andere dienten ihnen. Eine politische Agenda, die allein um das Schlagwort „Diversität“ gestrickt wird, ist ein Deckmantel für Ungerechtigkeit.
Der Sieg von Alexandria Ocasio-Cortez über den einflussreichen demokratischen Abgeordneten Joe Crowley bei einer parteiinternen Vorwahl der Demokraten in Brooklyn im Juni 2018 ist kein Sieg für Diversität, obwohl Ocasio-Cortez eine Farbige mit puertoricanischen Wurzeln ist. Es ist ein Sieg politischer Substanz gegenüber der leeren Rhetorik der Demokratischen Partei.
Ocasio-Cortez trotzte dem Partei-Establishment als erklärtes Mitglied der Demokratischen Sozialisten Amerikas. Im Vorfeld der Wahlen konnte sie nicht einmal die Unterstützung ihres Mentors Bernie Sanders gewinnen, der als Gegenpart zu Chuck Schumer als Mephisto den Faust spielt.
Ocasio-Cortez setzt sich ein für eine allgemeine staatliche Gesundheitsversorgung, für die Abschaffung der US-Einwanderungsbehörde, für ein Jobprogramm auf Bundesstaatenebene und für ein Ende der Kriege im Nahen Osten; zudem hat sie Israels Massaker an unbewaffneten Palästinensern verurteilt. Sie steht für etwas. Und nur dann, wenn wir für etwas einstehen, einschließlich Reparationsleistungen für Afroamerikaner, haben wir eine Chance, die Tyrannei der Konzerne zu zerschlagen.
„Ich hatte immer das Gefühl, dass in den frühen 60ern, als ich noch ein Kind war, der stille, manchmal widerwillige und doch treue Partner der Bürgerrechtsbewegung jene Unternehmen waren, die einen einheitlichen Markt wollten“, sagte Ford. „Jim Crow, der als Symbol für die fortwährende Diskriminierung von Afroamerikanern steht, stand der Schaffung eines einheitlichen Marktes in den USA im Wege. Mit ihm ist die Skyline von Atlanta mit ihren fantastischen Aufzügen undenkbar. Mit ihm könnte Atlanta nicht nur keine internationale Stadt, sondern auch keine nationale Stadt sein. Die unternehmerischen Kräfte wollten Jim Crow zu Fall bringen und mit ihm die eindeutige Diskriminierung von Farbigen. Das standardisierte den Markt. Das ist, was Kapitalisten tun. Die Demokratische Partei verhält sich kein bisschen anders als die Unternehmen in den letzten fünfzig Jahren.”
„Ich mache mir keine Sorgen über das Trump-Phänomen“, meinte Ford. „Das macht mir keine Angst. Es ist beunruhigend. Aber es macht mir keine Angst. Der Raum, den es den Konzernen gibt, macht mir viel mehr Angst. Sie profitieren davon. Trump definiert den parteilichen Spielraum des weißen Mannes. Und der ist riesig. Das ist kein Witz. So ein Phänomen kann Präsidentschaftswahlen gewinnen. Es kann erneut gewinnen. Es braucht Geld von republikanischen Unternehmern, aber mehr braucht es nicht von ihnen. Die Partei des weißen Mannes definiert den Spielraum, den die Demokraten beanspruchen, wesentlich deutlicher. Das beinhaltet jeden, der kein offenkundiger Rassist ist.“
„Ich glaube nicht, dass Trump jemals Obamas Abschiebungsrekord überbieten wird“, meinte Ford weiter. „Wir sollten die US-Einwanderungspolitik bekämpfen. Doch das passt nicht zu Trump. Wir sollten uns zusammenschließen, um zu verhindern, dass Amazon eine ganze Stadt übernimmt. Doch das passt nicht zu Trump. Wird Trumps nächste Wahl für einen Posten im Supreme Court sich in irgendeiner Weise von der Wahl unterscheiden, die ein Republikaner treffen würde? Fürwahr, weil er verrückt ist, wird er es vielleicht vermasseln und eine Wahl treffen, die schlecht für ihn selbst ist. Er hat nicht genug Tiefgang, um den schlimmsten Kandidaten zu wählen. Er hat die Federalist Papers, die die Grundlage für das Verständnis des amerikanischen Staates, ja der Demokratie selbst sind, nicht gelesen.“
Redaktionelle Anmerkung: Dieser Text erschien zuerst unter dem Titel „The Con of Diversity". Er wurde vom ehrenamtlichen Rubikon-Übersetzungsteam übersetzt und vom ehrenamtlichen Rubikon-Korrektoratsteam lektoriert.