Das Recht auf Selbstbestimmung

Wladimir Putin und Xi Jingping veröffentlichten eine gemeinsame Erklärung, die der Einmischung des Westens in Angelegenheiten anderer Länder Grenzen setzen will.

Am 4. Februar 2022 gaben der russische Präsident Putin und der chinesische Präsident Xi eine gemeinsame Erklärung ab. In dieser verwiesen sie auf die grundlegende Bedeutung der Charta der Vereinten Nationen und forderten die Einhaltung dieser völkerrechtlichen Regeln vonseiten aller Staaten. Ganz konkret verlangten sie die Achtung vor der Souveränität, das heißt die Einhaltung des festgeschriebenen Rechts eines jeden Volkes, selbst zu entscheiden, wie es leben möchte. Das meint vor allem die Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten souveräner Staaten. Mit diesen Forderungen erteilten sie dem „Wertewesten“, der unter dem Deckmantel des Kampfes für Demokratie und Menschenrechte überall versucht, seine seit Jahrhunderten andauernde Herrschaft über andere Nationen aufrechtzuerhalten, eine klare Absage.

In Teil 1 dieses Artikels wird die gemeinsame Erklärung von Putin und XI vorgestellt. Um die Tragweite dieser Erklärung zu verdeutlichen, ist es notwendig, einen Blick in die Geschichte und die aktuelle Weltlage zu werfen. Deshalb wird in Teil 2 des Artikels die Entwicklung des definierten Rechts auf Selbstbestimmung sowie dessen ungenügende Umsetzung bei den Völkerbundverhandlungen nach dem Ersten Weltkrieg dargestellt. In Teil 3 wird gezeigt, dass die Vereinten Nationen (UN), die Nachfolgeorganisation des Völkerbundes, ebenso als Instrument der Großmächte dienten, um deren Macht zu erhalten.

Zum Abschluss werden in Teil 4 die aktuellen geopolitischen Veränderungen betrachtet, die sich allein in den letzten anderthalb Jahren nach beziehungsweise infolge der gemeinsamen Erklärung von Putin und Xi vom 4. Februar 2022 ergeben haben.

Die gemeinsame Erklärung von Putin und Xi und ihre Bedeutung

Gemeinsame Erklärung von Putin und Xi vom 4. Februar 2022 in Peking

Zeitpunkt und Ort waren sehr gut ausgewählt. Vertreter aus Staaten der ganzen Welt waren in Peking zur Eröffnung der Olympischen Spiele in Peking am 4. Februar 2022 anwesend, als der russische Präsident Wladimir Putin und der chinesische Präsident Xi Jinping mit einer gemeinsamen Erklärung an die Welt in die Öffentlichkeit traten. In ihrer Erklärung benennen sie die drei Minimalvoraussetzungen für eine gerechte und stabile multipolare Weltordnung, und zwar:

  1. die Souveränität und Selbstbestimmung der Völker,
  2. keine Einmischung in die inneren Angelegenheit souveräner Staaten und
  3. die Anerkennung der Autorität der UN und die Aufrechterhaltung der auf dem Völkerrecht beruhenden Weltordnung.

Der Rest der mehrseitigen Erklärung ist dann eine detaillierte Beschreibung weiterer Forderungen, die sich aus diesen Minimalforderungen ergeben.

Sie stellten in ihrer Erklärung zunächst fest, dass sich weltweit „Phänomene wie Multipolarität“ entwickeln, dass die „Umgestaltung des Systems der Weltpolitik und der Weltordnung“ zunimmt und dass „eine Tendenz zur Neuverteilung des Gleichgewichts der Weltmacht“ Gestalt annimmt.

Des Weiteren sagten sie, dass „(…) bestimmte Minderheitskräfte auf der Welt (…) sich in innere Angelegenheiten anderer Staaten zum Nachteil ihrer legitimen Rechte und Interessen (…) mischen und die menschliche Entwicklung und den Fortschritt behindern, was den Unmut der internationalen Gemeinschaft hervorruft“.

Deshalb appellierten sie an alle Staaten, „die universellen Werte (…) der Gleichheit, der Gerechtigkeit, der Demokratie und der Freiheit aufrechtzuerhalten (…), die Souveränität (…) der Staaten zu achten (…) und die auf dem Völkerrecht basierende Weltordnung zu verteidigen“.

Weiterhin erklärten sie, dass jedes Volk das souveräne Recht hat, „(…) je nach der soziopolitischen Struktur, der Geschichte, den Traditionen und den kulturellen Besonderheiten (…) die Formen und die Methoden der Umsetzung der Demokratie zu wählen, die den Besonderheiten des Staates entsprechen. Nur die Bevölkerung eines Staates hat das Recht, zu beurteilen, ob es sich um einen demokratischen Staat handelt oder nicht“, denn „(D)die Demokratie wird nicht nach Schablonen aufgebaut“.

„Die Versuche einzelner Staaten, anderen Ländern ihre ‚demokratischen‘ Standards aufzuzwingen, ein Monopol auf die Beurteilung demokratischer Kriterien zu beanspruchen (…), sind in Wirklichkeit Beispiele für die Missachtung der Demokratie und die Abweichung von ihrem Geist und ihren wahren Werten.“

Russland und China wenden sich „(…) gegen die Einmischung in die inneren Angelegenheiten souveräner Staaten unter dem Vorwand des Schutzes von Demokratie und Menschenrechten“ und rufen die „(…) internationale Gemeinschaft auf, das Recht der Völker verschiedener Länder auf Selbstbestimmung zu achten“ (1).
Putin und Xi erklärten, dass Russland und China entschlossen seien, „(…) für das internationale System einzutreten, in dem die Vereinten Nationen die zentrale koordinierende Rolle bei internationalen Angelegenheiten spielen, die auf dem Völkerrecht beruhende Weltordnung, einschließlich der Ziele und Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen, aufrechtzuerhalten“.

Sie wandten sich gegen die Versuche einzelner Länder, die international anerkannten Grundsätze des Völkerrechts durch Regeln zu ersetzen, die einzig den eigenen Interessen dienen.

Dabei verwiesen sie auf die Charta der Vereinten Nationen und die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, die „(…) hehre Ziele im Bereich der universellen Menschenrechte definieren und Grundprinzipien verankern, die von allen Staaten befolgt und umgesetzt werden müssen“.

Es zeigt sich also, dass Putin und Xi in ihrer Erklärung keine neuen Forderungen stellen. Vielmehr verweisen sie auf international anerkannte Regeln und fordern nicht mehr und nicht weniger als die Einhaltung dieser Regeln vonseiten aller Staaten.

Putin und Xi zum Recht auf Selbstbestimmung der Völker

Das Selbstbestimmungsrecht der Völker ist eines der Grundrechte des Völkerrechts. Es besagt, dass ein Volk das Recht hat, frei über seinen politischen Status, seine Staats- und Regierungsform und seine wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung zu entscheiden. Dies schließt seine Freiheit von Fremdherrschaft ein (2).

Putin und Xi haben hierzu in ihrer Erklärung aus gutem Grund sehr ausführlich Stellung bezogen. Denn trotz bestehender Regeln, die jedem Volk ein Selbstbestimmungsrecht zusichern, versucht der Westen nach wie vor, die Welt rücksichtslos seinen Interessen entsprechend zu gestalten. Insbesondere die USA, die nicht müde werden, ihre Führungsrolle in der Welt zu betonen, mischen sich in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten ein. Die Versuche der USA, als Hegemon aufzutreten, so Putin und Xi, stellen eine ständige Bedrohung für den globalen Frieden dar. Sei es durch Erpressung, sei es durch „Farbrevolutionen“ oder sei es durch kriegerische Invasion.

Die Brisanz der gemeinsamen Erklärung

Die gemeinsame Erklärung von Putin und Xi ist insofern von besonderer Bedeutung, als sich die geopolitischen Verhältnisse in der Welt in den letzten Jahrzehnten grundlegend verändert haben. Russland und China können den traditionell weltbeherrschenden Großmächten nun aus einer Position der Stärke entgegentreten und sich mit einer solchen Erklärung gegen deren Weltpolitik wenden. Genau diese Tatsache hat eine starke Signalwirkung auf die bislang unterdrückten Nationen. Denn Erklärungen dieser Art sind nicht neu, blieben jedoch bisher ungehört.

So legte Lenin bereits im Jahr 1917 mit seinem „Dekret über den Frieden“ eine ähnliche Erklärung vor (3). Auch diese Erklärung setzte die damaligen Großmächte unter Handlungsdruck. Allerdings hatte Sowjetrussland zu diesem Zeitpunkt noch keinen ausreichenden internationalen Rückhalt. Auch China wurde zu diesem Zeitpunkt mit seinen Forderungen ignoriert und den Interessen der Großmächte untergeordnet (4).

Heute hingegen genießen sowohl Russland als auch China als ernst zu nehmende Großmächte weltweit ein hohes Ansehen. Denn beide Länder haben sich seit Langem als politisch beziehungsweise wirtschaftpolitisch glaubwürdige und faire Partner für viele Länder gezeigt.

Die sambische Politikerin Chundama brachte es auf den Punkt, als sie sagte, dass sich Afrika nicht mehr den „schlechten Angeboten“ des Westens beugen müsse, denn „Afrika will nun als gleichberechtigter Partner am Tisch behandelt werden, und Russland und China bieten Afrika dies an“ (5).

Immer mehr Entwicklungsländer werden sich der Tatsache bewusst, dass der Westen seinen räuberischen Charakter nie verlieren wird, und sie begehren offen gegen ihn auf. Dabei wenden sie sich immer zahlreicher einer Partnerschaft mit Russland und China beziehungsweise neuen Staatengemeinschaften wie beispielsweise den BRICS- oder SOZ-Staaten zu. Mit der Erklärung von Putin und Xi bietet sich die Möglichkeit, Partner im Kampf gegen die alten, immer noch vorhandenen kolonialen Herrschaftsstrukturen des Westens und für eine bessere, friedlichere Welt zu gewinnen und zu vereinen.

Dem Westen ist bewusst, dass sein Reichtum und Wohlstand auf der kolonialen und neokolonialen Ausbeutung des globalen Südens beruhen. Gleichzeitig ist dem Westen bewusst, dass mit der Forderung nach Multipolarität und der Anerkennung der Selbstbestimmung der Völker vonseiten starker Mächte wie Russland und China die Gefahr einhergeht, Macht und Kontrolle über den globalen Süden und damit die Grundlage des eigenen Wohlstands zu verlieren.

Und so versucht man die Verschiebung der Machtverhältnisse mit allen Mitteln zu verhindern. Die Zeit und die gegenwärtige Dynamik zeigen jedoch, dass diese Verschiebung unaufhaltsam ist.

Die gemeinsame Erklärung von Putin und Xi wurde weltweit mit großer Aufmerksamkeit wahrgenommen. Insbesondere aufseiten des globalen Südens traf sie auf großes Interesse. Die Brisanz dieser Erklärung für den Westen hingegen zeigt sich vor allem darin, dass diese Erklärung in den Mainstreammedien des Westens nicht nur kaum Erwähnung fand und gut „versteckt“ wurde, sondern auch lediglich negativ-manipulierende Kommentare dazu abgegeben wurden.

Allerdings ist es in Zeiten des Internets vorbei mit der alleinigen Deutungshoheit des Westens, denn der Text der gemeinsamen Erklärung kann heuteschnell über andere, alternative Medien veröffentlicht, übersetzt und gelesen werden. Heute, im IT-Zeitalter, können sich öffentliche Erklärungen wie diese binnen Sekunden über die ganze Welt verbreiten. So kann sich jeder sein eigenes Bild machen, ohne auf die gelenkten Medien angewiesen zu sein.

Die Besonderheit der gemeinsame Erklärung von Putin und Xi

Was unterscheidet nun die gemeinsame Erklärung von Putin und Xi von den zahlreichen vorangegangenen Erklärungen? Denn bereits in den Verlautbarungen des Völkerbundes und der UN wurde ja das Selbstbestimmungsrecht der Völker diskutiert und geregelt.

Die Qualität und die Dimension dieser gemeinsamen Erklärung sind deshalb beispiellos, weil sie erstmals von zwei starken Mächten kommt, die über einen langen Zeitraum weltweit Vertrauen erworben haben. Russland und China vertreten ihre Interessen, haben jedoch keine kolonialen Ansprüche im Blick. Vielmehr fordern sie die Einhaltung der verbindlichen völkerrechtlichen Regeln, in denen das Selbstbestimmungsrecht eines jeden Staates festgeschrieben steht.

Im Gegensatz dazu zeigte und zeigt sich, dass sowohl die Mandatserklärungen des Völkerbundes als auch die Treuhandregelungen der UN primär darauf abzielten, die Macht der ehemaligen Kolonial- beziehungsweise Großmächte abzusichern.

Und nicht nur das:

Bis heute, in einer Zeit, wo Kolonialismus völkerrechtlich als strafbare Handlung und völkerrechtliches Verbrechen bewertet wird (6), verfolgen die westlichen Großmächte mithilfe unterschiedlichster Instrumente und Praktiken weiterhin eine koloniale Politik. Verbindliche Regeln, wie in der UN-Charta und den UN-Resolutionen enthalten, werden dabei permanent unterlaufen beziehungsweise ignoriert.

Ein Blick in die Geschichte gibt darüber Aufschluss, dass der Kampf um die Durchsetzung dieses Grundrechts der Völker auf Selbstbestimmung eine lange Geschichte hat. Es ist zugleich auch die Geschichte eines bis heute andauernden Kampfes der früheren Kolonialmächte um die geopolitische und ökonomische Kontrolle über die einstigen Kolonien und über die gesamte Welt. Über viele Jahrhunderte haben die westlichen Mächte die Geschicke der Welt diktiert und immer wieder Mittel und Wege gefunden, um ihre Macht abzusichern (7).

In Teil 2 und Teil 3 dieses Artikels soll beispielhaft gezeigt werden, wie dies konkret praktiziert wurde. Teil 2 setzt sich mit der Entwicklung des Selbstbestimmungsrechts als definiertes Recht der Völker und der interessensgeleiteten Umsetzung dieses Rechts bei den Völkerbundverhandlungen beziehungsweise im Regelwerk des Völkerbundes nach dem Ersten Weltkrieg auseinander. In Teil 3 geht der Blick auf die Veränderungen seit dem Zweiten Weltkrieg und die neue, neokoloniale Politik der alten Kolonialherrscher.

Zum Abschluss werden in Teil 4 die aktuellen geopolitischen Veränderungen betrachtet, die sich allein im letzten Jahr nach der gemeinsamen Erklärung von Putin und Xi vom 4. Februar 2022 bereits gezeigt haben.


Quellen und Anmerkungen:

(1) Совместное заявление Российской Федерации и Китайской Народной Республики о международных отношениях, вступающих в новую эпоху, и глобальном устойчивом развитии (Gemeinsame Erklärung der Russischen Föderation und der Volksrepublik China zu den internationalen Beziehungen auf dem Weg in die neue Ära und zur globalen nachhaltigen Entwicklung (deutsche Übersetzung des Verfassers, Original in Russisch)), Peking, 4. Februar 2022, Seite 2 bis 3, in: http://kremlin.ru/supplement/5770, Zugriff 24. Juni 2023
(2) Joachim Bentzien: Die völkerrechtlichen Schranken der nationalen Souveränität im 21. Jahrhundert, Seite 45, Frankfurt am Main, 2007
(3) Lenin (1972 (1917), Seite 239 folgende), Wladimir Iljitsch: Dekret über den Frieden, in: Rede über den Frieden 26. Oktober (8. November neuer Kalender) 1917, in: Lenin Werke 26, September 1917 -Februar 1918, Seiten 239 bis 243, Berlin 1972, Dietz Verlag (Herausgeber), http://www.max-stirner-archiv-leipzig.de/dokumente/LW26.pdf, Zugriff 11. März 2022
(4) Jörn Leonhard: Der überforderte Frieden, Versailles und die Welt 1918-1923, Seiten 929 folgende, München 2018
(5) Akende M'membe Chundama im Interview, 14. Juni 2023, in: https://de.rt.com/afrika/172580-sambische-politikerin-afrika-wird-ausbeutung-durch-den-westen-nicht-zulassen/, Zugriff 16. Juli 2023
(6) Héctor Gros Espiell: Der Begriff des Selbstbestimmungsrechts der Völker in heutiger Sicht, in: Vereinte Nationen 2/82, Zeitschrift für die Vereinten Nationen und ihre Sonderorganisationen, German Review on the United Nations, Koblenz 1982, Seiten 54 bis 58, Seiten 54 folgende, https://zeitschrift-vereinte-nationen.de/publications/PDFs/Zeitschrift_VN/VN_1982/Heft_2_1982/03_Beitrag_Espiell_VN_2-82.pdf, Zugriff 5. Juni 2023
(7) Antje Lüth: Der Völkerbund und die nationale Selbstbestimmung. Die nach den Prinzipien des Völkerbundes praktizierte Politik am Beispiel der Kolonie Deutsch-Ostafrika, in: https://www.grin.com/document/1370754, Zugriff 13. Juli 2023


Teil 2
Teil 3