Das Presseorganversagen
Zwischen den traditionellen Medien und den Mächten, über die sie berichten sollen, gibt es keinerlei Distanz mehr. Exklusivauszug aus „Journalisten und ihre Schatten“.
Unabhängiger Journalismus, der sich dem Wohl der Bürger verpflichtet fühlt, steht und fällt mit seinem Verhältnis zur Macht. Betrachten sich Politiker und Medienvertreter als Angehörige ein und desselben Milieus oder gar einer gemeinsamen weltanschaulichen Überzeugungsgemeinschaft, ist es vorbei mit der Fiktion einer Presse, die die Regierung kontrolliert. Nicht wenige Kampagnen der letzten Zeit haben das unappetitliche Schauspiel von Journalisten geboten, die der Macht geradezu hörig zu sein schienen. Eine Lösung könnte in der Stärkung der Alternativmedien liegen, die im Zeitalter des Internets boomen und schwerer in ihrer Gesamtheit zu kontrollieren sind. Allerdings müssten diese noch einen Reifungsprozess durchlaufen. Exklusivauszug aus „Journalisten und ihre Schatten: Zwischen Medienkonzernen und unabhängiger Berichterstattung“.
Ich habe noch nie viel von goldenen Zeiten gehalten, und schon gar nicht habe ich sie erlebt. Eine Zeit lang, mitten im Kalten Krieg, glaubten viele Journalisten, dass sie nach den Kompromissen der Vierziger-, Fünfziger- und Sechzigerjahre damit begonnen hätten, die verlorene Integrität ihres Berufs wiederherzustellen. Es gab die beste Vietnam-Berichterstattung, die Veröffentlichung der Pentagon Papers, die Aufdeckung des Watergate-Skandals. Etwas abseits davon gab es eine lebendige „alternative“ Presse. Unter den Journalisten der großen Tageszeitungen und der großen Rundfunkanstalten kam der Gedanke auf, dass die Nachrichtenmedien von innen heraus durch jene Mitarbeiter, die ihre Redaktionen bevölkern, verändert werden könnten. Ein goldenes Zeitalter, nein. Aber ein solcher Optimismus lag in der Luft, als ich mich aufmachte, Journalist zu werden.
Damals gab es einen Raum im Mainstream, wenn auch keinen großen, für Journalisten, die an den Idealen, Grundsätzen und Zielen festhielten, die die Menschen gewöhnlich in diesen Beruf ziehen. Aber dieser Bereich begann sich zu schließen, als die Niederlagen in Südostasien/Vietnam 1975 die amerikanische Psyche so schwer verletzten und die Machtelite verunsicherten. Dann verschwand er, mehr oder weniger vollständig, als die Jahre des Kalten Krieges dem Triumphalismus nach dem Kalten Krieg wichen, der die Neunzigerjahre prägte. Es folgten die Ereignisse des Jahres 2001. Sie waren ein entscheidender Moment für die Rückkehr unserer Medien zu den schlimmsten der vielen schlechten Gewohnheiten, die sie in den Fünfzigerjahren angenommen hatten.
Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 in New York und Washington nahm Amerika eine Verteidigungshaltung ein, eine kämpferische Haltung der Verwundeten und Verunsicherten. Seine Führer schienen sich gleichzeitig von der Welt ab und gegen sie zu wenden. Sie interessierten sich nicht mehr dafür, wie die Ereignisse aus anderer Sicht aussehen könnten : Die amerikanische Perspektive war die einzige Perspektive, die zählte. Presse und Rundfunk spiegelten diesen stürmischen Hurrapatriotismus wider, als sie sich selbst und ihre Leser und Zuschauer erneut für die Sache des nationalen Sicherheitsstaates einspannen ließen. Ihr Ziel war es nicht mehr, die Öffentlichkeit zu informieren, sondern die Institutionen, über die sie angeblich berichteten, vor den Blicken der Öffentlichkeit zu schützen – zunächst auf subtile Weise, dann aber immer deutlicher.
15 Jahre nach den Ereignissen von 2001 kam es zu dem Fiasko, das wir „Russiagate“ nennen. Ich werde auf diesen Seiten noch viel über diese heiß umstrittene Episode berichten. Für den Moment nur so viel : Russiagate verschlimmerte das, was 2016 bereits eine Krise nicht nur in unseren Medien, sondern in unserem Gemeinwesen war. Eine unreflektierte Autoritätshörigkeit hat Wurzeln geschlagen — und zwar als paradoxe Reaktion auf die zunehmende Inkohärenz unserer Institutionen, unserer Vorstellung von uns selbst und unserem Platz in der Welt, unseres nationalen Lebens insgesamt. Das Verhalten der Presse hat sich als ausschlaggebend dafür erwiesen, dass die Amerikaner in diesen beklagenswerten Zustand geraten sind.
Hätte es einen Kalten Krieg gegeben, wenn die amerikanische Presse ihn nicht so eifrig gefördert hätte ? Zumindest ist dies eine interessante Frage. Würden wir uns heute in einem zweiten Kalten Krieg — und einem heißen Stellvertreterkrieg in der Ukraine — befinden, wenn unsere Medien nicht fünf Jahre lang aufgrund von fadenscheinigsten Hinweisen und meistens ohne jeden Beweis darauf bestanden hätten, dass Russland irgendwie unsere Wahlen manipuliert hat, um die Kontrolle über das Weiße Haus zu erlangen ?
Ist der Zustand unserer Presse heute weniger extrem als zu Zeiten des Kalten Krieges, ist er in etwa vergleichbar, oder ist er schlimmer ? Über diese Frage habe ich seit 2001 viele Male nachgedacht, allein, mit mir und mit anderen. Ich neige zur letzten der drei Möglichkeiten. Wir leben heute mit einem Zensurregime, das durch die enthusiastische Unterstützung vieler Journalisten, die für große Zeitungen und Sender arbeiten, noch perverser wird.
Die großen Tageszeitungen und die Nachrichtenagenturen berichten routinemäßig über die Behauptungen von Regierungsvertretern, als ob diese Behauptungen allein schon ein Beweis für deren Wahrheitsgehalt wären.
Im Fernsehen treten ehemalige Geheimdienstmitarbeiter und Militäroffiziere als unparteiische Nachrichtenanalysten auf. Ich führe dies zu einem großen Teil auf die Paranoia zurück, die unsere Medien während des Russiagate-Wahns geschürt haben und die so sehr an die fünfziger Jahre erinnert. Die Krise in der Ukraine hat dies noch verstärkt — sie hat verschlimmert, obwohl viele von uns dachten, dass es nicht mehr schlimmer werden könnte.
Wer kann an diesem Punkt ein Ende der Degeneration unserer Medien und unseres öffentlichen Diskurses erkennen ? Das eine treibt das andere zu neuen Stufen der Degradierung und Inkohärenz an. Diejenigen, die sich für die Verteidigung des ersten Verfassungszusatzes einsetzen, werden als „Absolutisten der Redefreiheit“ abgetan. Jetzt werden wir von angeblich verantwortungsbewussten Kommentatoren mit einer neuen Forderung konfrontiert, diejenigen, die in allen Fragen, die mit Russland zu tun haben, von der fremdenfeindlichen Orthodoxie abweichen, zu verhaften und unter dem Vorwurf des Landesverrats vor Gericht zu stellen.
Als ich diese Seiten schrieb, gab das Ministerium für Innere Sicherheit bekannt, dass es ein „Disinformation Governance Board“ (Lenkungsausschuss für Desinformation) gebildet hat. Es sollte ermitteln, was es als Bedrohung durch Falsch- und Desinformation in russischen Medienberichten und Berichten von überall her betrachtet, die „das öffentliche Vertrauen in unsere demokratischen Institutionen untergraben“. Keine der großen Tageszeitungen oder Fernsehsender veröffentlichte eine Kritik an der neuen DHS-Behörde (Department of Homeland Security), als das Ministerium — nachträglich — bekannt gab, dass es sie eingerichtet hatte.
Es war schwierig, den allgemeinen Vorwurf zu widerlegen, dass es sich hierbei um nichts anderes als ein Wahrheitsministerium im Orwell’schen Sinne handelte, was dazu führte, dass das DHS-Projekt in der Folge „ausgesetzt“ wurde, offenbar als Reaktion auf die dadurch ausgelöste Empörung. Aber der Plan des Ministeriums war nur eine besonders ungeheuerliche Manifestation dessen, was wir heute „Desinformationsindustrie“ nennen. Die großen Social-Media-Plattformen sind engagierte Teilnehmer an diesem bösartigen Unternehmen. Sie bestehen auch aus selbst ernannten Gruppen, die in der Regel von ehemaligen Geheimdienst- und Strafverfolgungsmitarbeitern besetzt und beraten werden und als privatisierte Versionen des kurzlebigen Governance Board dienen. Obwohl sie vorgeben, Agenten der russischen Propaganda und Desinformation zu entlarven, ist es in Wahrheit ihre Absicht, Andersdenkende zu diskreditieren oder anderweitig zu unterdrücken. Die Geschichte all derer, deren Ruf diese Gruppen geschädigt haben — darunter auch meinen — macht dies deutlich.
Wie groß ist die Kluft zwischen unseren traditionellen Medien und den Mächten, über die sie berichten sollen, noch ? Ich sehe so gut wie keine.
Propaganda hat für die meisten Amerikaner einen Hauch von Fremdheit, denn sie halten es für eine Krankheit, die korrupten oder despotischen Gesellschaften eigen ist, die weit von der unseren entfernt sind. Aber ich bin nicht allein, wenn ich behaupte, dass die amerikanischen Medien inzwischen den Zwecken der offiziellen Propagandisten dienen. Wer diesen Gedanken schockierend oder übertrieben findet, muss zugeben, dass er die Geschichte nicht kennt, die wir meines Erachtens unbedingt verstehen müssen. Die Presse und die Rundfunkanstalten, wie wir sie haben, kehren einfach zu den Gewohnheiten zurück, die sie in jenen Jahrzehnten hatten, von denen wir glauben, sie lägen weit hinter uns.
Die Ukrainekrise, die sich Anfang 2022 zu einem offenen Konflikt ausweitete, hat verschiedene dieser harten Realitäten deutlich gemacht. Unsere großen Medien reproduzieren unkritisch das, worüber Regierungsbehörden selbst — das Außen- und das Verteidigungsministerium — öffentlich eingestehen, es sei Propaganda im Rahmen eines „Informationskrieges“. Die Mainstreammedien machen die Ukrainekrise zum ersten Konflikt in der modernen Geschichte ohne irgendeine objektive Berichterstattung über die täglichen Ereignisse und deren Kontext.
Ich habe das Bedürfnis der Amerikaner erwähnt, zu glauben, dass ihnen eine prinzipienfeste, unabhängige Presse dient. Dieses Bedürfnis hat sich nach den Ereignissen vom September 2001 noch verstärkt — eine Folge der psychologischen Desorientierung, die seither eingetreten ist. Und es verstärkt sich weiter. So beunruhigend wir das Fehlverhalten unserer Medien bei der Berichterstattung über den Ukrainekonflikt auch finden mögen, so besorgniserregend ist es, dass die Öffentlichkeit ihre Unkenntnis der Ereignisse duldet. „Sagt uns, was wir denken und glauben sollen“, scheinen viele Amerikaner zu sagen, „und wir werden es denken und glauben. Zeigt uns ein paar Bilder, denn Bilder sind alles.“
Während des Kalten Krieges gab es so etwas wie digitale Medien nicht. Es gab eine unabhängige Presse, aber ihre Reichweite war begrenzt und ihre Ressourcen waren es noch mehr. Die großen Tageszeitungen, The New York Times an der Spitze, haben sich damit begnügt, sie zu ignorieren. In meinen Anfangsjahren bei unabhängigen Zeitungen und Magazinen haben wir dies als gegeben hingenommen und unsere Arbeit gemacht, auch wenn wir nur wenige Leser hatten und das Geld knapp war. Die Verbreitung digitaler Medien hat nun mehr oder weniger alles verändert. Die unabhängigen Medien, über die ich schreiben werde — lebendig, unerschrocken in ihren Recherchen, mit wachsendem Einfluss — wären ohne die digitalen Technologien, die ihnen die Veröffentlichungsplattformen bieten, nicht möglich. Aber wie so oft gehen mit dem Erfolg auch Verpflichtungen einher. Es ist die zunehmende öffentliche Präsenz und Wirkung dieser Medien, die in hohem Maße das Übel der Zensur verursacht, das uns jetzt heimsucht.
Seit dem Aufruhr um Russiagate sind die sozialen Medien zum Schlachtfeld geworden, auf dem die Konzernpresse und die Technologiemonopole — Letztere unter ständigem Druck vom Capitol Hill — einen Krieg um die „Kontrolle des Narrativs“ führen. Dies ist ein Kampf, den die Mainstreammedien noch nie zuvor führen mussten, denn sie mussten noch nie ihr Informationsmonopol in der Öffentlichkeit verteidigen. Ihn als erbittert zu bezeichnen, wäre noch zu milde ausgedrückt. Viele Existenzen und Reputationen sind dadurch bereits verloren gegangen. Unabhängige Journalisten, zu denen auch ich gehöre, werden routinemäßig von den sozialen Medien „gecancelt“ oder „deplatformed“ — auf gut Deutsch : verbannt. Die oft jahrelange Arbeit unabhängiger Fachleute kann innerhalb weniger Minuten aus dem Blickfeld der Öffentlichkeit verschwinden. Einmal mehr müssen wir uns an die Vorgeschichte des Kalten Krieges erinnern, wenn sich dieses antidemokratische Spektakel im Namen der Demokratie und zur Verteidigung gegen das, was so leichtfertig als „Desinformation“ bezeichnet wird, abspielt. Wie ich soeben angedeutet habe, kommt dies der Eliminierung aller abweichenden Meinungen sehr nahe.
Diese Aufregung überrascht mich nicht. Wenn Veränderungen jeglichen Ausmaßes und jeglicher Tragweite zunächst einmal unmöglich erscheinen, so sind sie auch nicht leicht zu bewerkstelligen. Was sich festgesetzt und bewährt hat, wird sich zwangsläufig dem widersetzen, was es zwingt, die Dinge anders zu machen. Das ist unsere Situation. Das ist es, was wir sehen, wenn wir aufmerksam sind, eine Debatte zwischen dem, was vergangen ist, und dem, was kommen wird. Die Kämpfe, deren Zeuge wir werden, können auf diese Weise als ein Vorstoß, als eine Maßnahme der Bewegung in eine neue Richtung verstanden werden.
Es ist noch viel zu früh. Die ersten unabhängigen Publikationen, die digitale Technologien nutzten, erschienen Mitte der Neunzigerjahre, und lange Zeit gab es nur wenige von ihnen. Aber sie werden eine immer wichtigere Rolle bei der Information der Amerikaner spielen. Auch wenn es zum jetzigen Zeitpunkt höchst unwahrscheinlich ist, müssen wir die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass die Arbeit engagierter unabhängiger Publikationen schließlich die Konzernpresse und die Rundfunkanstalten dazu inspirieren — oder zwingen — wird, sich das zurückzuholen, was sie vor langer Zeit aufgegeben haben.
Die besten unabhängigen Medien bringen bereits wichtige und sorgfältig recherchierte Ereignisse ans Licht, die von den Mainstreammedien falsch oder gar nicht wiedergegeben werden. Um diesen Gedanken im weitesten Sinne zu betrachten :
Unabhängige Journalisten haben das Zeug dazu, kritisches Denken wieder in unseren Diskurs einzubringen, die Fähigkeit zur Urteilsbildung und zum eigenständigen Denken zu fördern und nicht zuletzt eine neue, wahrhaftige Auseinandersetzung mit uns selbst zu ermöglichen — ein neues Narrativ, von dem ich überzeugt bin, dass die meisten von uns es gerne hätten und danach leben würden.
Will ich damit sagen, dass wir endlich am Vorabend eines goldenen Zeitalters stehen ? Noch einmal nein. Unabhängige Publikationen müssen noch viel weiter wachsen, viel mehr reifen. Im Garten muss Unkraut gejätet werden. Es gilt, Erfahrungen zu sammeln, Fehler zu machen und aus ihnen zu lernen, Ressourcen zu mobilisieren, einen guten Ruf aufzubauen, Egos zu zähmen und Amateure zu fördern, die auf der Strecke bleiben. Aber ich sehe in den unabhängigen Medien das Versprechen einer Wiederbelebung. In den besten ihrer Arbeiten steckt ein neues Verständnis für die Stellung des Journalisten zwischen den Lesern und Zuschauern einerseits und den Mächten, über die er oder sie berichtet, andererseits.
Macht : Das Verhältnis des Journalisten zur Macht ist in einem Satz das Thema dieses Buches. In den unabhängigen Medien sehe ich eine Chance für den Berufsstand, sich neu zu konstituieren, indem er die Macht zurückerobert, die ihm allein vorbehalten ist.
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