Das politisch korrekte Märchen
Das Rotkäppchen-Märchen gendergerecht zu erzählen, ohne dabei sensible Gefühle zu verletzen, ist ein sprachlich kniffliges Vorhaben, an dessen Ende ein skurriler Text herauskommt.
Rotkäppchen-Parodien und -Travestien haben eine lange Tradition. Vor allem in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden Ideologien und Zeitströmungen mit einer Rotkäppchen-Fassung beglückt, ironisiert oder beerdigt. Ganz in dieser Tradition liefert Martin Bloem die Version, die auch im Zeitalter der digitalen Totalüberwachung im Bücherregal stehen bleiben darf.
Es war einmal ein wenig lebenserfahrener Mensch mit Uterus, diese*r lebte mit einem Elternteil am Rand eines Biotops. Sie/er trug, wenn sie/er unter Menschen ging, stets eine rote FFP2-Maske, daher wurde sie/er Rotmäskchen genannt. Eines Tages sagte das Elternteil zu seinem Kind:
„Rotmäskchen, bringe doch bitte deinem Großelternteil, das im Biotop lebt, eine Flasche Mineralwasser und einen Dinkelkuchen, um den Familienzusammenhalt und das Zugehörigkeitsgefühl zu stärken. Achte aber bitte darauf, während des Aufenthalts im Heim des Großelternteils stets einen Mund-Nasen-Schutz zu tragen, wie unsere Regierung es uns empfiehlt, um den lebenserfahrenen Menschen vor gefährlichen Viren zu schützen. Bleibe zum Schutze der Natur immer auf dem gekennzeichneten Weg, und lasse dich nicht von alten, weißen Männern ansprechen.“
Rotmäskchen versprach, dem Rat seines lebenserfahreneren Elternteils zu folgen, und machte sich auf den Weg. Auf dem Weg zum Haus seines Großelternteils wurde Rotmäskchen jedoch von einem Querwolf angesprochen. Aufgrund seiner mangelnden Lebenserfahrung konnte Rotmäskchen die negativen Absichten des Tieres jedoch nicht erkennen und sagte arglos: „Ich bringe meinem Großelternteil eine Flasche Mineralwasser und einen Dinkelkuchen, den mein Elternteil zubereitet hat.“
Der Querwolf trachtete danach, einen Vorteil aus dieser Situation zu ziehen. Unter Missachtung sämtlicher Regeln lief er, abseits des Weges, durch das Biotop und zerstörte dabei viele unter Naturschutz stehende Pflanzen. Er drang — ohne Mund-Nasen-Schutz — in das Haus des Großelternteils ein und machte das Großelternteil zu seiner Mahlzeit. Danach zog er die Kleidung des Großelternteils an und legte sich in dessen Bett.
Als Rotmäskchen, nachdem es seinen Mund-Nasen-Schutz aufgesetzt hatte, das Haus des Großelternteils betrat, rief es: „Großelternteil, mein Elternteil lässt grüßen und hat mich mit der verantwortungsvollen Aufgabe betraut, dir ein paar gesundheitsfördernde Lebensmittel zukommen zu lassen.“
Der Querwolf, der sich der Identität des Großelternteils bemächtigt hatte, sagte leise: „Komme nur näher, Rotmäskchen.“
Als Rotmäskchen den Querwolf erblickte, wunderte es sich sehr: „Großelternteil, warum trägst du keinen Mund-Nasen-Schutz?“ „Ich habe aufgrund meines fortgeschrittenen Alters Atemprobleme und daher eine ärztliche Befreiung von der Verpflichtung zum Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes erhalten.“ „Aber Großelternteil, warum hast du so eine große Nase?“ „Damit ich den Duft der Pflanzen des Biotops besser wahrnehmen kann.“ Dies war jedoch nicht die einzige optische Veränderung, die Rotmäskchen trotz seiner geringen Lebenserfahrung wahrnahm. „Großelternteil, warum hast du so große Ohren?“ „Damit ich die stets sinnvollen Anweisungen unseres geschätzten Gesundheitsministers besser hören kann.“ „Großelternteil, warum hast du so große Augen?“ „Damit ich besser sehen kann, wenn meine Nachbarn gegen die Corona- und Naturschutzregeln verstoßen und dies als verantwortungsvolle*r Bürger*in den zuständigen Behörden melden kann.“ „Aber Großelternteil, warum hast du so große Zähne?“ „Zur Erleichterung der Nahrungsaufnahme“, sagte der Querwolf und fraß Rotmäskchen. Danach legte er sich ins Bett, schlief und schnarchte laut.
Dies hörte ein benachbarter Ingenieur für erneuerbare Energien, und trat — selbstverständlich, nachdem er einen Mund-Nasen-Schutz aufgesetzt hatte — in das Haus seine*r lebenserfahrenen Nachbar*in ein. Statt dieser fand er jedoch das Tier vor, das sich des Bettes des lebenserfahrenen Menschen bemächtigt hatte. Da er den Schutz des Lebens des mutmaßlich traumatisierten Tieres gewährleisten wollte, holte er eine*n Notärzt*in.
Diese*r narkotisierte den Querwolf und schnitt den Bauch des Tieres fachpersönlich auf. Da stellte er/sie fest, dass sowohl Rotmäskchen als auch sein Großelternteil überlebt hatten. Sie beschlossen daraufhin, den Querwolf nach seinem Erwachen zu resozialisieren und über den neuesten Stand der Wissenschaft aufzuklären. Der Querwolf sah ein, dass er einem Irrweg gefolgt war. Er ließ sich umgehend mit dem neuesten mRNA-Impfstoff impfen, und das Großelternteil erklärte sich daraufhin bereit, das Tier mit dem erwünschten Impfstatus als neue*n Mitbewohner*in aufzunehmen.