Das Omen von Sylt

Das Neun-Euro-Ticket hatte einen Billigtourismus-Ansturm auf die Nobelinsel zur Folge — das könnte erst der Anfang von ernst zu nehmenden Verwerfungen sein.

Sylt wurde diesjährig zum Ballermann. Das Neun-Euro-Ticket machte es möglich. Punker auf den Straßen von Westerland und Ballermann-Touristen am Strand. Bier aus der Dose statt Champagner aus der Flasche. Was auf den ersten Blick amüsant anmutet, entpuppt sich bei näherer Betrachtung als unheilvolles Vorzeichen. Das Billigticket, welches dieses Aufeinandertreffen erst ermöglichte, ist selbst der künstlich erzeugten Knappheitskrise entsprungen. Insofern sind die Sylt-Chaostage von Pfingsten als Krisenphänomen zu deuten, als Startschuss für weitere Verwerfungen, die dann allerdings nicht länger in einem Party-Kontext stattfinden, sondern bitterernst sein werden. Das Neun-Euro-Ticket ist eine Art Beruhigungspille, ehe uns ab Herbst die großen finanziellen und sozialen Krisen ins Haus stehen. Es steht zu befürchten, dass der Anblick von Menschen, die auf der Straße campieren, zum Alltag wird — jedoch nicht aus Gründen der Partylaune, sondern bedingt durch Obdachlosigkeit.

Sylt erlebte zum Pfingstwochenende eine ganze eigene „neue Normalität“. Dem Neun-Euro-Ticket sei Dank war die Zugfahrt über den Hindenburgdamm mit einem Male auch für einkommensschwächere Teile der Gesellschaft erschwinglich. Neben der Ballermann-Klientel zog es insbesondere unzählige Punker auf die sonst den „Reichen und Schönen“ vorbehaltene Nordseeinsel.

Um die wegfallende Finanzhürde einmal zu verdeutlichen: Eine Zugfahrt von der nächstgelegenen Großstadt Hamburg nach Sylt und wieder zurück kostet mindestens 60 Euro. Mit dem Neun-Euro-Ticket ist das eine Ersparnis von mindestens 85 Prozent.

Ohne hierbei in irgendeiner Weise eine verspottende Abwertung vornehmen zu wollen, sei beim Neun-Euro-Ticket schlicht auf das monetäre Verhältnis zu einer „Währung“ bei Punkern verwiesen. Neun Euro — das entspricht dem Dosenpfand von 36 Bierdosen. Da sind die Fahrtkosten nach Sylt schnell zusammengekratzt. Die Unterkunft samt der damit verbundenen Kosten entfiel insbesondere für die angereisten Punker, die auch sonst keine Berührungsängste mit einem Schlafplatz auf der Straße haben. Darüber hinaus gaben es die sommerlichen Temperaturen her, unter dem freien Nordseehimmel zu nächtigen.

Die Klassenkampffahrt

„Bevor die Deutschen Sylt einnehmen, kaufen sie sich ein Neun-Euro-Ticket“, witzelt ein Lenin-Meme auf Social Media. Ja, es kann von einem regelrechten Sturm auf Sylt gesprochen werden. Und das ist nicht meteorologisch zu verstehen. Mit dem Neun-Euro-Ticket ist die finanzielle Hürde weggefallen, die die gut betuchte „Sylt-Bourgeoisie“ sonst von dem — wenn man so will — „Mallorca-Proletariat“ trennt. Das geschah zuletzt 1995 bei den Chaostagen auf Sylt, als Mitglieder der autonomen Szene aus Hamburg damals mit dem 15-Mark-Ticket der Deutschen Bahn Sylt stürmten. Dabei kam es zu mehreren Verhaftungen und einem Sachschaden bei der Bahn in Höhe von rund 30.000 Mark. Dieses Ereignis trug sich jedoch in einer Zeit wirtschaftlicher und sozialer Stabilität zu. Im gesellschaftlich labilen Jahr 2022 trafen diese beiden Einkommensklassen erneut aufeinander. Das Ergebnis: filmreif!

Unzählige Angehörige der Punkerszene, die die Straßen Westerlands besetzten, das Möwengeschrei mit Punkrock aus JBL-Boxen unterlegten und mit aufgepumpten Luftmatratzen im Brunnen plantschten. Nebst dieser Gruppe kamen jene Feierwütigen, die sonst den Ballermann unsicher machen, und ließen ihre Feierlaune nun an der nördlichsten Spitze Deutschlands raus. Dass in Sylt das Nacktbaden Teil der Kultur ist, kommt den Partywütigen sicherlich entgegen.

Auf den ersten Blick mutet das Ganze irgendwie amüsant an, ja es liefert geradezu Stoff für eine seichte, deutsche Komödie. Es fehlt eigentlich nur noch die noble Sylt-Besucherin, die sich in ihrem versnobten Umfeld eingeengt fühlt und sich dann in den coolen, aus Hamburg angereisten Punker verliebt. Herrlich!

Doch bei genauerer Betrachtung stellt sich die Sache dann doch viel ernster dar, als sie auf den ersten Blick wirkt. Denn was wir hier auf Sylt sehen, könnte im Grunde genommen der Startschuss einer neuen gesellschaftlichen Eskalation sein.

Wir müssen bei dieser Betrachtung bei dem Neun-Euro-Ticket beginnen. Wie jeder halbwegs wachsame Beobachter des Zeitgeschehens weiß, gibt es auf dem Spielfeld der Politik — und auch vielfach abseits dessen — nichts geschenkt. So haben die immensen Fahrkartenersparnisse ein ebenso immenses Preisschild, welches sich teils gleich, teils erst später zeigen wird. Die Katerstimmung wird sich nicht nur bei den Sylt-Besuchern einstellen.

Wenn der Bürger nun eine Reise-Flatrate erhält, kann man sich in etwa ausmalen, was für finanziell schwerwiegende Entbehrungen auf diesen spätestens im kommenden Herbst warten.

Die Spritpreise könnten ins Unermessliche steigen, die Energiekosten explodieren, die Mieten unbezahlbar werden und die Restgeldbestände auf dem Girokonto durch die immer weiter steigende Inflation gefressen werden. Lieferketten könnten einbrechen und im schlimmsten Fall sogar der Strom über einen längeren Zeitraum ausfallen.

Sylt könnte bald überall sein

Im Grunde genommen sehen wir hier eine soziale chemische Reaktion. Zwei Elemente stoßen aufeinander, die sich für gewöhnlich fernbleiben. Einkommensstarke treffen auf Einkommensschwache, gepflegte Straßen werden zu Partyschlachtfeldern und idyllische Strände zu Feldern, die mit Alkoholleichen übersät sind. Kurzum: Das Bild des Ortes verändert sich. Wenn auch diese Chaostage nur vorübergehend waren, liefern uns diese Bilder einen Vorgeschmack dessen, was diesem Land bei anhaltender Abwärtsentwicklung blüht.

Auf Sylt sahen wir hierbei nur einen temporären Skid-Row-Effekt. Skid Row ist ein Viertel in Los Angeles, in welchem sich der westliche Abstieg im Zeitraffer beobachten lässt. War das Viertel zwar noch nie wohlhabend, so zeichnete sich dennoch in den vergangenen zehn Jahren ein Prozess des rapiden Verfalls ab. Sahen die Straßen zu Beginn der 2010er-Jahre noch relativ ordentlich und gepflegt aus, so haben sich die Bürgersteige binnen weniger Jahre in Zeltstädte verwandelt.

Bild

Skid Row 2012 versus Skid Row 2022. Bildquelle: © Google maps

Auch Sylt war am Pfingstwochenende — temporär —nicht wiederzuerkennen.

Bild

Die Maybachstraße (ja, sie heißt wirklich so) auf Sylt 2021 versus die gleiche Straße im Ausnahmezustand 2022. Bildquelle: © Google maps / Dagmar Schlenz

Brachte das Neun-Euro-Ticket eine Party-Orgie mit sich, so könnten die mit dem Ticket behelfsmäßig retuschierten Verwerfungen am Horizont ein noch viel größeres Chaos hervorbringen. Hier seien nur wenige Faktoren aufgezählt: Das massenhafte Absterben mittelständischer Betriebe — zu denen auch Einzelhändler zählen — wird zu einem Fortschreiten des Innenstadtsterbens führen. Die leerstehenden Ladenflächen werden entweder mit Filialen von Heuschreckenunternehmen besetzt — beispielsweise Gorilla oder Flink — oder fallen Randalierern zum Opfer, werden mit Graffiti beschmiert und verwahrlosen.

Die steigenden Lebensmittelpreise oder gar einbrechende Lieferketten werden zwangsläufig zu einer Steigerung der Kriminalität führen, in Form von Ladendiebstählen und Wohnungseinbrüchen.

Durch explodierende Mietpreise wird die Armut auf den Straßen zunehmen. Am Existenzminimum lebende Menschen werden in Mülleimern nicht nur nach Pfand suchen — ein Phänomen, welches in Deutschland vor 20 Jahren in dieser Breite undenkbar gewesen wäre —, sondern auch nach Essensresten.

Die letzten Wohlhabenden werden sich nicht länger nur an ihrem Urlaubsort bedrängt fühlen, sondern zunehmend auch in ihrem eigenen Viertel. Dies wird wiederum das Geschäft mit privaten Sicherheitsdiensten florieren lassen, mit der Folge, dass sich auch in Deutschland sogenannte Gated Communities bilden.

Die Verwerfung macht sich aber nicht nur ortsgebunden bemerkbar, sondern auch im Bereich der Mobilität. Das Neun-Euro-Ticket — mit welchem die Punker anreisten — zeitigte bundesweit binnen zweier Wochen eine chaotische Wirkung, welche den ÖPNV an den Rand des Kollaps brachte. Am ersten Gültigkeitstag des Billigtickets veröffentliche Roberto J. De Lapuente im Rubikon einen Beitrag über den drohenden ÖPNV-Kollaps und das dadurch erfolgende Sichtbarwerden des desolaten Zustandes. Er bewies damit geradezu eine prophetische Gabe; am übernächsten Tag entgleiste in Garmisch-Partenkirchen ein Regionalzug. Fünf Menschen starben, Dutzende wurden teils schwer verletzt. Die vorläufigen Ermittlungsergebnisse legen infrastrukturelle Mängel als Ursache nahe. Die im Graben liegenden Doppeldeckerwaggons stehen sinnbildlich für den Zustand unserer sich im Zerfall befindlichen Infrastruktur.

Die Weisheit „Der Weg ist das Ziel“ wird in diesem Kontext noch einmal überdeutlich. Denn das Chaos ist nicht das Ergebnis von politischem Dilettantismus, sondern beabsichtigt. Wenn die Gesellschaft erst einmal so im Chaos versunken ist, wird sie nach einem Erlöser lechzen, der eine Lösung, einen Ausweg aus dem dunklen Tal anzubieten hat. Dies werden dann genau jene Institutionen und Personen sein, die diese Verwerfungen erst hervorgebracht haben, und sie werden aus den Trümmern Profit ziehen, indem sie eine Welt nach ihrem Gutdünken schaffen. Dass die Destruktion der Gesellschaft schrittweise erfolgt, lässt sich damit erklären, dass das geplante Chaos sich stets in einem kontrollierbaren Rahmen bewegen muss, damit es nicht auf die Verursacher zurückschlägt.

So könnten die Chaostage auf Sylt als schlechtes Omen für weitere Verwerfungen gelten, die dem Westen blühen. Die Party-Orgie auf der Nobelinsel reiht sich geschmeidig ein in die Pläne des Great Reset. Dass Punker mal dafür standen, gegen das wie auch immer geartete System zu sein, ist spätestens mit Campino vorbei. Ganz deutlich zeigte sich das abermals auf Sylt. Die Punker brachten ihr Dosenbier teils nicht selbst mit, sondern ließen es sich an eine Abholstation liefern — und das von Amazon. Theodor W. Adorno wusste schon: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen.“